Ich genieße mein Leben in vollen Zügen. Außer in Zügen.
Die Deutsche Bahn, Flaggschiff unserer Mobilität. Nichts für schwache Nerven oder Pünktlichkeitsfanatiker.
Einmal musste ich sie benutzen, wegen der Einladung zu einer Hochzeit in der Eifel. Zunächst musste ich googeln, was und wo die Eifel ist. Es stellte sich heraus, es war eine zum Teil noch unentdecktes Stück Land.
Als ich mich bei meiner elektronischen Freundin Alexa erkundigte nach einer Bahnverbindung, da erhielt ich zunächst nur ein höhnisches Lachen. Um ihr zu zeigen, wer Herr im Haus ist, drohte ich ihr, sie soll gefälligst mir eine schnelle Bahnverbindung heraussuchen.
Daraufhin glühten ihre Drähte durch und ich musste sie im Garten begraben. Es war meine erste und zugleich auch letzte Freundin. Fortan nahm ich mich vom Heiratsmarkt und fuhr ausnehmend gut damit.
Etwas, was ich von der Bahn nicht sagen kann. Schließlich musste ich mich der schwersten Heimsuchung stellen, die Gott über uns Menschen gebracht hat, um uns zu prüfen. Dagegen war der Gang nach Canossa ein lockerer Spaziergang. Der Weg, hin in das Kundenzentrum meines ortsansässigen Bahnhofs. Dorthin wo noch das Wörtchen „Service“ kleingeschrieben wird.
Dort, wo von den vier Schaltern mindestens drei sich als unbesetzt präsentieren.
Begründet meist mit fadenscheinigen Ausreden, wie „Krankheitsbedingt“, „Streik“ oder wegen des Fehlens eines Computers, der sich in Mutterschaftsurlaub befindet.
Als ich frühmorgens dort erscheine, ist die Schlange bereits gewaltig, die sich vor dem einzigen Schalter gebildet hat, der sich erbarmt hat, heute sich offen den Menschen zu zeigen.
Dahinter sitzt er, das geballte Kompetenzwissen, was die Bahn zu bieten hat. Hochroter Kopf, der schon vom Weiten gut sichtbar ist. Mit der Ausstrahlung, einer Mischung aus Unerfahrenheit, gepaart mit Inkompetenz. Alleingelassen auf weiter Flur. Niemand, der diesem Greenhorn zur Seite steht. Offensichtlich sein erster Arbeitstag. Und das verkündet er dann auch gleich erst einmal coram Publico.   „Ich bitte alle um Verständnis, Geduld und Lebensfreude. Heute ist mein erster Tag und der Kollege, der mich einweisen und unterstützen sollte, kann wegen eines Bahnstreiks nicht kommen.“
So oder so ähnlich stellte ich mir seine herzergreifende Schaltereröffnungsrede vor.
Mühsam erklomm er seinen rollenden dreibeinigen Drehstuhl, den ihm der Bahnvorstand als Leihgabe zur Nutzung gestellt, beziehungsweise gerollt, hat.
Nachdem er halbwegs sicheren Halt erreicht hatte, grüßte er höflich die schlangenangeordneten Anwesenden, mit unsicherer und leiser Stimme.
„Ich bitte alle um Verständnis, Geduld und Lebensfreude. Heute ist mein erster Tag und der Kollege, der mich einweisen und unterstützen sollte, kann wegen eines Bahnstreiks nicht kommen.“
Irgendwie kamen mir die Worte sehr vertraut vor.
Ganz im Gegensatz zu der älteren Endachtzigerin die vor mir stand.
„Lauter! Auch Schwerhörige wollen wissen, was los ist.“, rief sie und drohte mit ihrem erhobenen Regenschirm.
Der junge unsichere Auszubildende atmete tief ein und wiederholte sich, diesmal jedoch in marktschreierischer Art und Weise.
„Ich bitte alle um Verständnis, Geduld und Lebensfreude. Heute ist mein erster Tag und der Kollege, der mich einweisen und unterstützen sollte, kann wegen eines Bahnstreiks nicht kommen.“
Falls er auf Applaus gehofft haben sollte, so wurde er bitter enttäuscht.
Mehr als ein Raunen, Stöhnen und Augenrollen konnte er nicht ernten. Spätestens jetzt sollte es ihm bewusst sein, es wird kein schöner Tag für ihn werden. Aber auch die Schlange von Fahrinteressierten, die inzwischen auf dem Bahnhofsvorplatz ihr Ende oder den Anfang fand, sahen recht düster in die Zukunft.
Dann erschien auf einer elektronischen Tafel die Nummer Eins. Ein jeder von uns hatte sich zuvor einen eigenen  kleinen Zettel aus einem Automaten gezogen.
Mein Glückslos hatte die neunundvierzig.
Das gab mir die nötige Zeit, mein Anliegen genau und präzise vorzuformulieren und er konnte, an den Kunden vor mir, sich etwas einarbeiten. Sein erster Kunde machte es ihm auch leicht, der sich nur erkundigte, ob der von ihm bevorzugte Zug Verspätung haben wird. Da ging ein Strahlen über das Gesicht des Bahnmitarbeiters, denn er konnte die Frage direkt beantworten.
„Selbstverständlich! Darauf können Sie sich verlassen.“, erklärte er, mit dem Brustton der Überzeugung.
Direkt vor mir stand ein echter Bahnprofi. Aus seinem Rucksack packte er einen Klappstuhl aus und setzte sich. Aus seiner Thermoskanne duftete es nach frischem Kaffee, den er sich in eine Tasse einschenkte.
Ein raschelndes Knistern verriet mir, er hatte auch ein Butterbrot mitgebracht. Und was dann Einzug in meine Nase hielt war zweifellos ein hart gekochtes Ei. Er fand meine Bewunderung, denn her wusste jemand zu leben. Weiter hinten in der Schlange initiierte jemand eine Skatrunde.
Ein junger Mann gab sich erdenklich viel Mühe, einem ebenfalls jungen Mädchen zu gefallen.
Die wilde Knutscherei war dann auch nur folgerichtig.
Langweilig wurde mir jedenfalls nicht.
Die Bahn bietet ihren Wartenden so einiges.
Der Kurierfahrer eines Lieferdienstes hatte alle Hände voll zu tun.
Er brachte stapelweise Pizzakartons, die er meistbietend unter die Leute brachte. Ein Straßenmusiker spielte von Adriano Celentano bis Eros Ramazotti so ziemlich alles, was sich nicht wehren konnte. Die ganze Schlange klatschte dazu im Takt.
Es hätte mich auch nicht gewundert, wenn plötzlich Florian Silbereisen aus einem Fahrkartenautomaten gesprungen wäre und ein Duett mit sich und Maite Kelly ankündigen würde. Doch so skrupellos ist die Deutsche Bahn dann doch nicht.
Irgendwann, ich weiß nicht mehr, ob es noch heute oder doch schon Morgen war, sah ich Licht am Horizont. Nur noch der Thermoskannen bestückte Klappstuhlbesitzer war vor mir. Ich konnte den Servicemitarbeiter schon förmlich riechen, als sich eine dralle Blondine bei mir vorstellte und mit ihrem ausladenden und auch zugleich einladenden Dekolleté bat, sich vorstellen zu dürfen, da sie zu einem dringenden OP-Termin müsse. Nun habe ich natürlich kein Herz aus Stein und habe ein großes Reservoir an Verständnis und ließ sie vor. Dies verursachte einen kleinen Volksaufstand hinter mir. Aus der kleinen niedlichen Blindschleiche, wurde eine giftige Königskobra.
Ich wurde darauf hin vom Platz verwiesen und musste mich, gesenkten Hauptes, am hinteren Ende der Schlange erneut anstellen, die ich nur mit dem Linienbus erreichen konnte, da sie sich inzwischen an der Landesgrenze befand. Dort wurde ich als Held gefeiert, konnte ich doch Details aus dem Innercircle des Reisezentrums berichten.
Irgendwann, als ich schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, stand ich am Schalter. Das Gefühl, das mich in diesem Moment erfasste, unbeschreiblich. Ich hatte sogar Tränen des Glücks in den Augen.
Dem Reisezentrumsazubi erging es ebenso, jedoch aus gänzlich anderen Gründen.
„Was muss ich für Sie tun?“, schluchzte er.
„Ich muss in die Eifel“, wimmerte ich.
„Das tut mir leid.“, antwortete er leise und ich war dankbar für die Beileidsbekundung.
„Morgen soll ich zu einer Hochzeit dort erscheinen.“
„Oh, das könnte knapp werden.“, gab er sich wenig hoffnungsvoll.
Ich nannte ihm dennoch den Ort meines Reiseziels und er begann sofort mit der Recherche. Er durchforstete den Computer. Dann nahm er ein analoges Kursbuch zur Hand. Anschließend telefonierte er und als er aus der Mittagspause wiederkehrte, sah er ganz traurig und unglücklich aus.
„Könnte man nicht die Hochzeit um circa zwei Jahre verschieben? Momentan ist das Schienennetz dort noch im Aufbau befindlich. Der Gleisbau ist zwar angedacht, jedoch noch im Planungsstadium.“, entschuldigte er sich für den Reformstau.
„Gibt es denn keinen Schienenersatzverkehr?“
„Natürlich haben wir einen Schienenersatzverkehr. Nach Hamburg, München oder nach Berlin kann ich Ihnen etwas anbieten. Nur nicht für die Eifel.“
„Wieso gibt es den nicht für die Eifel?“
„Es fehlt an Straßen und es will da auch keiner hin.“
„Ich will da auch nicht hin, aber ich muss.“, erklärte ich verzweifelt.
„Dann sehe ich noch mal nach. Vielleicht finde ich eine günstige Alternative.“, bot er an.
Es wurden Kataloge gewälzt, mit dem ADAC telefoniert und ganz zum Schluss rief er sogar seinen Vater an, der vor dreißig Jahren dort bei der Bundeswehr war.
„Können Sie schwimmen?“, erkundigte er sich und als ich verneinte, war auch der Vater ratlos.
Plötzlich strahlte der fachkundige Bahnmitarbeiter über das ganze Gesicht, bedankte sich bei seinem Vater und legte beseelt auf. Ich schöpfte Hoffnung.
„Es gibt eine Reiseroute direkt zu ihrem Ort.“
Diese überraschende Ankündigung sorgte dafür, dass eine ganze Schlange von Wartenden in kollektiven Jubel ausbrach. Auch ich stimmte mit ein, beugte mich über den Schalter und küsste diesen formidablen sachkundigen Mitarbeiter auf beide Wangen. Am nächsten Tag brachte mich eine Kleinpropellermaschine in die Eifel und ich sprang mit dem Fallschirm ab. Punktgenau landete ich auf dem Kirchplatz, wo schon Braut und Bräutigam warteten.
Zusammen mit dem Pfarrer liege ich nun im Krankenhaus. Ich mit gebrochenem Bein. Er mit einer veritablen Gehirnerschütterung, infolge meiner Landung, die ihn zu Boden geworfen hat.
Nun hoffe ich, noch vor dem ersten Schnee mich wieder auf den Nachhauseweg machen zu können, sonst muss ich in der Eifel überwintern.
Die Hochzeit fiel wegen mir aus und die Braut hat die zeit genutzt, bis der Pfarrer wieder hergestellt ist und sich von ihrem Cousin getrennt. Der Bräutigam hat die Trennung gut verkraftet und ist inzwischen wieder fest liiert – mit seinem Onkel zusammen.

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