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18. Türchen: It takes a village, to raise a child.

Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen. Das alte afrikanische Sprichwort spiegelt ein wichtiges Bedürfnis von Menschen wieder: sich zu unterstützen, sich zu vernetzen, sich zu helfen, sich abzulösen, sich zu entlasten – zusammen zu arbeiten in engen vertrauensvollen Zusammenhängen, füreinander da zu sein, in dem hier gemeinten Fall, für die Kinder da zu sein, nicht nur für die eigenen, sondern auch für die anderen Kinder der sozialen Gemeinschaft und die soziale Gemeinschaft bildet den sicheren Rahmen, in dem die Kinder groß werden können. Ich glaube, dass das sehr, sehr „menschengerecht“ ist, weil wir soziale Wesen sind, deren (Über-)leben davon abhängt, in welcher Beziehung, welchem Verhältnis, welcher Eingebundenheit zu und mit anderen Menschen wir stehen.

Unsere moderne Gesellschaft legt - auf Familien bezogen - eine andere Haltung an den Tag: wir entwickeln uns zur Klein(st)familie, die vorhergehende Generation kann in den Familien nicht mehr mitversorgt werden und zunehmend auch die Generation der Kinder. Das konfliktreiche gesellschaftliche Ringen um Seniorenheime und Kita-/GS-Ganztagsplätze zeigt, dass das Leben und Arbeiten der starken Generation keinen Platz für die hat, die nicht mehr oder noch nicht im Getriebe der Wirtschaftskraft stehen oder selbstständig ihren Alltag verantworten können. Wer in irgendeiner Form Betreuung braucht, bekommt sie entweder unter Einbußen anderer Familienmitglieder oder durch Fremde. Unser Erwerbssystem führt zum Outsourcen von Älteren und Kindern, es ist familien(un)tauglich, weil sowohl das Erwerbssystem als auch Familien abgekoppelt sind von sozialen Netzwerken und Zusammenhängen. Ich stecke schon mitten drin im Perspektivwechsel des heutigen Adventskalendertürchens, sehen wir den politischen Begriff der „Familientauglichkeit“ doch meist im Zusammenhang mit der Forderung nach staatlicher Fürsorge für die beiden genannten Generationen. Diese Familientauglichkeit bedeutet aber eigentlich, dass die starke Generation erwerbstätig sein kann (und zwar eben nicht familientauglich), ohne sich noch zusätzlich um die der Fürsorge Bedürfenden kümmern zu müssen. Die Sorge um die Älteren schrumpft auf das Ausfüllen von Pflegeversicherungsanträgen und den Sonntagsbesuch in der Heimcafeteria, die Sorge um die Kinder auf das Vorbereiten der Tagesessensration in aller Herrgottsfrühe, den Konflikt beim Abholen und den Wochenendausflug ins Museum. Ich überspitze das, v.a. in Bezug auf die Kinder haben Eltern natürlich mehr Sorge zu leisten und mehr familiäre Beziehungsaktivität, aber ich will damit etwas deutlich machen.

Eine Doppel- oder Dreifachbelastung bringt Familien an den Rand des Zusammenbruchs. Der Fokus liegt in einer Gesellschaft, die wirtschaftliches Wachstum zu einer ihrer Maximen erkoren hat, auf der immer weiteren Entlastung der Erwerbstätigen von dem was die „Village“ für die Älteren und die Jüngsten ausmacht.

Genutzt wird dieses Sprichwort (und jetzt bleibe ich bei Kindern) dann auch gerne als Forderung nach mehr und längerer und früherer Betreuung, nach kürzeren Einrichtungsferien und immer größerer Erwartung der Verantwortungsübernahme fremder Personen für die Erziehung der Kinder – mit anderen Worten nach staatlicher Übernahme der Sorgearbeit für die nachkommende Generation. Mit dem Sprichwort ist das aber gar nicht gemeint und mit Hereinbrechen der Pandemie flog unserer Gesellschaft und ganz besonders den Familien, den Eltern dieses System mit großem Wumms um die Ohren.

Soweit mein erster Perspektivwechsel in diesem Türchen und soweit die ernüchternde Situation von Familien, die im Mühlrad der Erwerbs- und Wirtschaftserwartungen, eigener berechtigter Interessen und den Bedürfnissen ihrer Kinder zermahlen werden, unabhängig davon, ob sie das für sich und ihre in der Familie getroffene Entscheidung so wollen oder nicht oder ob sie überhaupt eine frei zu entscheidende Lebenssituation haben.

Die Pandemie hat m.E. dem alten afrikanischen Sprichwort eine brandaktuelle Bedeutung gegeben und aufgezeigt, dass unsere Gesellschaft mit der Verantwortungsabgabe an den Staat unseren Kindern nicht gerecht werden kann, schon gar nicht in einer Pandemie, die sich weder der Staat noch wir ausgesucht haben und der unser fragiles System mehr in Frage stellt, als jede andere gesellschaftliche Situation seit dem 2. Weltkrieg.

Natürlich brauchen wir Kita, Schule, wir brauchen die Jugendhilfe, wir brauchen Vereine und Gemeinden. Kinder brauchen das, um im Wechselspiel von Familie und außerfamiliärer Beziehung zu wachsen und sich zu entwickeln, sie brauchen ein "Village" und all diese Dinge bedürften viel mehr Aufmerksamkeit, Geld und personeller Ausstattung mit hoher Qualität. Familien brauchen das, um aufgefangen und unterstützt zu sein, weil sie weder alles wissen, noch alles leisten können.

Aber das Sprichwort besagt mehr als einen Rechtsanspruch für Ganztagsbetreuung auf den Weg zu bringen (was letztlich weniger am Bedürfnis des Kindes als am Bedürfnis der Arbeitswelt, die auf Kinder wenig Rücksicht nehmen möchte, orientiert ist). Das Sprichwort ist im Grunde die Beschreibung von sozialer Vernetzung von Familien mit Familien und im Gesamten in ihrer Gemeinschaft – dies kann institutionell sein oder durch die Kontaktsuche zwischen Menschen initiiert werden. Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann hat es differenziert auf den Punkt gebracht. Kinder brauchen Eltern, die sozusagen die Koordinatoren von Erziehung, Betreuung und Bildung sind. Eltern brauchen die außerfamiliären Vernetzungen, um dem gerecht werden zu können, sie brauchen Nachbarschaftsnetzwerke, Freundeskreise und öffentliche Beratung und Unterstützung. Das Kind selbst braucht starke Eltern, die das alles verantworten und im Ernstfall die Ebene sind, auf die es zurückfallen kann und dennoch keinen Schaden nimmt.

Familien leben auch ohne Pandemie in vielen Bereichen, was das Sprichwort auch aussagt: sie unterstützen sich, sie nehmen wechselseitig die Kinder mit zum Sport, lassen andere bei sich übernachten, wenn Not ist, leihen sich Sachen, geben Tipps für den neuen Kinderarzt, beraten sich, passen aufeinander auf, lassen einander an ihren Erfahrungen teilhaben und geben Halt und Trost in schwierigen Zeiten. Manche leben in ihrem Viertel bestens vernetzt, man weiß bei jedem Problem, wo man klingeln oder anrufen kann. Es entstehen Nachbarschaftsinitiativen, die das zusätzlich und in weiterem Rahmen abbilden. Die digitalen Medien, social media und messenger-Dienste erlauben multimediale Vernetzung auf allen Ebenen – mit allen Gefahren, die das beinhaltet – aber eine gut gepflegte „Bubble“ lebt vom Segen der digitalen Möglichkeiten, ohne in deren Abgründe blicken zu müssen.

Was also heißt das Sprichwort für Familien in der Pandemie, in der wir wie nie zuvor (ob zu Recht oder nicht, steht hier nicht zur Diskussion) auf uns gestellt sind und feststellen müssen, ob und wie tragfähig unser soziales Netz, unser „Village“ ist?

Vernetzen Sie sich – nutzen Sie alle Medien, knüpfen Sie Kontakte, verbinden Sie sich mit anderen Eltern, mit Familien, bilden Sie Bubbles, Netzwerke, verorten Sie sich in Ihrem „Village“ und werden Sie aktiver Teil des „Village“ für andere. Bilden Sie neben den globaleren kommunalen sozialen Netzwerken, die über institutionelle Unterstützung Familien begleitet, eigene Netzwerke, die - auch - auffangen können, was öffentlich pandemiebedingt wegbricht. Es gibt viel mehr Möglichkeiten als wir denken, und - wenn ich mit Familien spreche - auch mehr, als bislang umgesetzt werden. Wir können diese Möglichkeiten, die wir noch nicht ausgelotet, zu denen wir noch nicht den Mut oder den richtigen Zeitpunkt gefunden haben, jetzt in Erwägung ziehen, wenn wir die Perspektive wechseln und das als (zu Recht?) defizitär empfundene öffentliche Pandemiemanagement für Familien nicht nur beklagen, sondern als Herausforderung sehen, uns gegenseitig durch die Pandemie zu begleiten. Für Risikofamilien ist das in besonderem Maße und im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig und dort fand ich in meinen Gesprächen die besten und tragfähigsten Vernetzungen.

Unsere Kinder brauchen unsere Kompetenzen jetzt. Kümmern Sie sich um Ihre Bubble, Ihr „Village“ und bilden Sie Erweiterungen und neue Zusammenhänge. Bieten Sie Hilfe und Rat an und nehmen Sie Gleiches von anderen an.

Eine Mutter schrieb vor Kurzem: „Eine meiner wichtigsten Lehren aus den letzten Monaten: nie wieder will ich schlecht vernetzt sein! Ich danke euch allen. Ihr seid eine großartige Stütze!“

Sie hat Ihr "Village" gefunden.

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