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3. Türchen – Silber und Gold, Kisten voll!

Hinter dem 1. Türchen sprach ich es schon an. In den ersten Monaten der Pandemie stellte ich in vielen Gesprächen fest, dass Familien zu Hause deutlich weniger Spiel- und Beschäftigungsmaterial haben, das zu einer langfristigen oder wiederholten konzentrierten Tätigkeit gehört. Eltern beklagten sich, dass das Kind nichts mit sich anzufangen weiß, dass alle im Kinderzimmer befindlichen Spielsachen „ausgespielt“ seien, dass man zwar haufenweise DIY-Videos aus dem Internet kenne, aber eigentlich gar nicht die Energie habe, die Dinge für die zuweilen beeindruckenden Ideen zu beschaffen. Vieles frustriert mehr als es zu eigenem Tun anregt.

In der Frankfurter Neuen Presse berichtet der Kinderarzt Dr. Burkhard Voigt am 28.11.2021 https://www.fnp.de/frankfurt/viele-eltern-beschaeftigen-sich-grauenvoll-wenig-mit-ihren-kindern-91120751.html) von einer erschreckenden Ratlosigkeit in Familien, wie man sinnvoll Zeit gestalten kann – und den Folgen hinsichtlich gesundheitsschädlicher Mediennutzung (die wir in der Pandemie zu beklagen haben). Viele Familien kennen kaum noch Brett- oder Gesellschaftsspiele, Puzzle oder dergleichen. Unser durchgetakteter vorpandemischer Alltag – gerade auch mit der ganztägigen Außer-Haus-Beschäftigung von Erwachsenen und Kindern – hat diese Beschäftigungen zurückgedrängt. Sind wir wie in der Pandemie auf uns selbst zurückgeworfen, fallen viele in ein Vakuum. Die Pandemie legt ein Brennglas auf die vorpandemische Zeit und entlarvt, was uns und unseren Kindern auch ohne Pandemie nicht gut tut. Das beobachtet Voigt unabhängig vom sozialen Status oder wirtschaftlichen Möglichkeiten.

Der erste Schritt aus diesem lähmenden und stressfördernden Vakuum: halten Sie ausreichend Material für Spiel, Musik, Sport, Hobbyund Handwerken vor. Auchwenn Schreibwaren- und Hobbyläden geschlossen waren/sind oder sie es nicht schaffen, selbst einkaufen zu gehen, so bietet manches Geschäft einen guten telefonischen Beratungsservice und Liefer- oder Abholdienst an. Damit erlangen Sie schnell das Gewünschte und stärken gleichzeitig den örtlichen Einzelhandel. In sogenannten 1-Euro-Läden gibt es wahre Fundgruben an Material, das für kleines Geld erworben werden kann.

Wechseln Sie im Haushalt die Perspektive – sagen Sie nicht, das kommt in den Müll, sondern fragen Sie sich und die Kinder, wozu etwas gut zu gebrauchen sein kann, anstatt es wegzuwerfen.

Sammeln Sie aus dem Haushalt Alltagsgegenstände, Verpackungen, Zeitungen, Deckel, Dosen, Halterungen, Klammern, Einlagepappe, Polsterfolieetc. Legen Sie einen großen Karton an, in demSie solche Dinge sammeln. Fragen Sie Ihre Kinder: „Wie sieht das hier aus? Was würdest du daraus machen? Sieht das aus wie ein Kopf? Was brauchst du, um damit weiterzuarbeiten – wir achten beim nächsten Einkauf-Auspacken darauf, was sich findet.“ Aus allem lässt sich etwas machen. In einem Schuhkarton, aus Streichholzschachteln, alten gereinigten Dosen und Kästchen, Deckeln und Stoffresten, Klebefolie und Buntstiften kann bspw. die ganze Wohnung nachgebaut werden. „Silber und Gold“ muss nicht teuer sein, es muss nur für den Bedarf als wertvoll erachtet sein.

Ältere Kinder/Jugendliche können die ganze Wohnung vermessen und auf Millimeter- oder kariertem Papier einen Wohnungsgrundriss übertragen. Sie können (mit Bedacht - s.u. - computergestützt) eine neue Einrichtung entwerfen (das geht z.B. auch in dem Online-Portal eines beliebten Möbelhauses). Warum nicht mal ganz neu denken, alles über den Haufen werfen, die Familienwohnung virtuell in eine „Traumwohnung“ oder ein verrücktes Haus verwandeln?

Sind alle Spiele „ausgespielt“ oder gerade zu langweilig? Wechseln Sie die Perspektive und erfinden Sie/Ihre Kinder Spiele selbst – zerschneiden Sie einen großen Werbeprospekt in Puzzleteile, alles mischen und wieder zusammensetzen – wer das in kürzester Zeit schafft, gewinnt. Machen Sie das mit Fotos. Entwerfen Sie ein eigenes neues Kartenspiel oder Memory (bspw. aus Teebeutelanhängern verschiedener Sorten), ein Brettspiel (natürlich aus Alltagsgegenständen) oder bauen Sie ein bekanntes Spiel nach (Schach, Mensch-ärgere-dich-nicht, Mau-mau…). Nutzen Sie Figuren aus anderen Spielen, zweckentfremden Sie, was nicht niet- und nagelfest ist.

Machen Sie all das mit Ihren Kindern oder lassen Sie die Kinder allein werkeln. Wer solche Beschäftigung nicht gewohnt ist, braucht Anlaufzeit. Ist der Knoten erstmal geplatzt, wird so etwas gerne zum Selbstläufer. In der Vorweihnachtszeit hat das den charmanten Nebeneffekt, dass Weihnachtsgeschenke damit hergestellt werden können, besonders, wenn man Angehörige länger nicht gesehen hat oder nicht sehen kann. Die darin verborgene Liebe und Mühe ist in der Pandemie ein wertvolleres Geschenk als alle teuren Güter.

Besorgen Sie Spielsachen, mit denen sich Ihre Kinder lange und auch mehrfach lange beschäftigen können. In den ersten Monaten der Pandemie stieg bspw. der Verkauf von Puzzlen und Brettspielen/Gesellschaftspielen schlagartig um 30% – unter Großen wie Kleinen, die terminfreie Freizeit und der Bedarf an Beschäftigung brachte Viele an die Konzentration, Geschick, Erfolgsgefühl und Gemeinschaft vermittelndenSpiele. Ich hörte in Gesprächen oft: ich hatte vorher nie Zeit und kaum Geduld für ein Puzzle, ich hab mich da auch nie so richtig dran getraut– jetzt habe ich es ausprobiert und es bringt mich zur Ruhe. Unbemerkt ist ein halber Samstag herum, ohne dass ich nicht wusste, was ich mit mir anfangen sollte. Einen ähnlichen Effekt haben Mandalas oder sonstige Malgelegenheiten. All das kann man auch gut zusammen machen oder sich damit eine Weile aus dem engeren Familiengeschehen zurückziehen. Gesellschaftspiele haben den positiven Nebeneffekt, dass sie wichtige Lebens-Kompetenzen vermitteln: verlieren können, Geduld haben, zusammenspielen, strategisch denken, ein Risiko kalkulieren uvm. Neben der reinen Beschäftigung stärken sie das Familiengefühl und bieten wichtige Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten.

Laden Sie passende Podcasts oder Hörbücher (es gibt auch viele kostenlose) herunter – für jüngere Kinder ist der Märchen-Marathon des ÖRR eine Fundgrube, sich stundenlang in die faszinierenden Überlieferungen aller Kulturen zu versenken, um mit glühenden Wangen und der Sicherheit, das Böse hundertfach besiegt zu haben, wieder aufzutauchen.

Sie wissen selbst am Besten, was dafür für Ihr Kind geeignet ist: wo ist Ihr Kind selbstvergessen? Was hat es gemacht, als Sie das letzte Mal längere Zeit nichts von ihm hörten oder sahen (außer Elektronik)? Selbstvergessenheit ist der wichtigste Faktor in Zeiten längeren Aufenthaltes zu Hause. Ein Kind, das in sich versunken Stunden konzentriert beschäftigt ist, ist bei sich und hat „Bodenhaftung“. Die wirkt sich wiederum auch auf turbulentere Situationen aus. Wer geerdet ist, geht nicht so schnell in die Luft.

Ausdrücklich von all dem ausgenommen sind elektronische Spiele, also Konsolen, Computer und Tablet/Smartphone. Auch wenn diese stundenlange „Ruhe“ bedeuten, gaukeln sie die Ruhe nur vor und verursachen mehr inneren Stress und Reizbarkeit als Entspannung. Hinter einem anderen Türchen werde ich darauf noch eingehen.

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