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21. Türchen: "Leg doch endlich mal das Ding weg!"

Ein großes Thema in der Pandemie sind die digitalen Medien. Wir brauchen sie (auch ohne Pandemie) in fast allen Bereichen. Im Konflikt dazu stehen Fragen in der Medienerziehung unserer Kinder – ein Zuviel an digitaler Beschäftigung wird problematisch, es gibt gute Beratungskonzepte, anhand derer Kinder und Jugendliche in die digitale Welt eingeführt und einen verantwortungsvollen Umgang damit finden können. Die Tragfähigkeit solcher Konzepte hängt allerdings – auch – von der Umsetzung im Elternhaus ab. Es ist nicht einfach, aus den Anforderungen und Wünschen, aus sozialem Druck und schulischer Notwendigkeit den richtigen Weg zu finden, ohne Kinder sich entweder selbst zu überlassen oder unangemessen zu begrenzen.

Diese Herausforderung erlebt durch die Pandemie wie fast alle anderen gesellschaftlichen Bereiche ein Brennglas, eine Verschärfung. Der Distanzunterricht bringt – sofern er verantwortungsvoll durchgeführt wird – langes „vor-dem-Bildschirm-sitzen“ mit sich. Einschränkungen im sozialen Leben bringen digitale Möglichkeiten der Kontaktpflege in jedes Kinder-/Jugendzimmer und natürlich haben Streaming-Dienste, soziale Medien und Spiele eine große Anziehungskraft – umso größer, je weniger der gewohnten analogen Möglichkeiten verfügbar sind. Sich für alternative analoge Beschäftigungen zu öffnen, die Lange Weile in nicht-digitale Tätigkeiten umzusetzen, war verschiedentlich schon Thema diese Kalenders. Hier will ich diskutieren, welchen veränderten Umgang mit den digitalen Angeboten wir finden können, um der (Pandemie-)Zeit und den dennoch bestehenden Bedürfnissen nach sozialen Kontakten und Beschäftigung einerseits und den Risiken digitaler Medien andererseits gerecht zu werden. Hinter dem 3. Türchen, hinter dem es um Beschäftigungsmöglichkeiten ging hatte ich diesen Bereich noch ausgeklammert.

Man ahnt es – ich lade zu einem Perspektivwechsel ein. Jedes Medienkonzept für Familien, das eine bestimmte altersaufwachsende Bildschirmzeit empfiehlt, verliert seine Realisierbarkeit, wenn Schüler:innen im Distanzunterricht sind und Kontaktpflege auch über Smartphone und Laptop funktionieren soll. Und sowohl die (digitale) Schule wie auch die digitale Kontaktpflege sind Voraussetzungen dafür, dass Bildung und Freundschaft in der Pandemie auch in Zeiten der Einschränkungen Bestand haben. Unicef beklagt zurecht, dass nicht alle Kinder Zugang zu digitalen Bildungsformaten haben, die ihnen infektionsgeschütztes Lernen ermöglichen und ihre Bildungschancen aufgrund des schlechteren Zuganges in der Pandemie Schaden nehmen. In Deutschland sind wir dahingehend privilegiert – leider nicht überall entsprechend der Möglichkeiten umgesetzt und auch leider nicht angemessen wertgeschätzt.

Wie können wir nun in der Familie einen verantwortungsvollen, dennoch den erhöhten Bedürfnissen nach Digitalität und den Chancen, die sich für unsere Kinder daraus ergeben, Umgang finden? Vergessen Sie als allererstes die – falls vorhandenen - „Bildschirmzeiten“. Klammern Sie Schule (falls in Distanz) aus. Achten Sie beim Distanzlernen darauf, dass wirklich „Schulatmosphäre“ herrscht, diese Art der Beschulung steht und fällt auch mit der Ernsthaftigkeit, mit der sie in den Familien gesehen wird. In meinen Gesprächen mit Familien beeindruckten mich vor allem die, die mit ihren Kindern besprachen, dass Schule nicht ausfällt, wenn sie zu Hause am Computer (oder auch mit Wochenplänen) stattfindet. Ein Mini-Exkurs zum Thema Struktur: vormittags Schule, nachmittags Freizeit – ist ein wichtiger Faktor für jede Art von schulischen Bildungsangeboten in der Pandemie. Wenn Sie das berücksichtigen, haben Sie schon sehr viel gewonnen hinsichtlich der Frage, was während des digitalen Unterrichtes alles „außerunterrichtlich“ Attraktives passiert. 1 Es gibt auch in Deutschland schon seit Jahren private Onlineschulen - hier lernen Kinder und Jugendliche bis zum Schulabschluss digital, weil Sie aus unterschiedlichsten Gründen nicht an einer Regelschule teilnehmen können. Dort wird ernsthaft gelernt und soziale Kontakte sind möglich, der Online-Unterricht ist individuell gestaltet, einzeln oder in Gruppen (Klassen). Aktuell gibt es Bestrebungen in der Politik, auch staatliche Online-Schulen zu etablieren - die digitalen Errungenschaften der Pandemie könnten so zu einem erweiterten Bildungsangebot ausgebaut und genutzt werden.

Berücksichtigen Sie, dass Ihre Kinder sich deutlich weniger treffen können – je nach Intensität der Einschränkungen. Sie wollen und sollten aber dennoch Kontakt halten und einen alternativen Umgang mit Freundschaften finden. Freundschaft in der Pandemie findet – auch – digital statt. Fragen Sie Ihre Kinder, sofern Sie selbst keine kennen, nach Apps, die soziale Vernetzung ermöglichen. Es gibt eine ganz Reihe Formate, auf denen man sich in Gruppen „treffen“ kann, auch per Video. Solche „Bildschirmzeiten“ sind anders zu bewerten als übliche außerhalb der Pandemie.

Ja, und dann gibt es das klassische Gedaddel auf sozialen Plattformen und Spielservern rund um den Globus und Streaming-Dienste, die einen von Folge zu Folge, von Serie zu Serie schubsen. Auch das werden Kinder und v.a. Jugendliche in Zeiten der Beschränkungen mehr nutzen, dies bedarf aber genau jener Aufmerksamkeit, die wir auch ohne Pandemie darauf verwenden sollten. Mediensucht ist ein Risiko in der Pandemie, wenn wir Kinder mit den Medien sich selbst überlassen. Dieses Risiko besteht auch ohne Pandemie – nämlich dann, wenn wir Kinder mit den Medien sich selbst überlassen – natürlich abgefedert durch Schule in Präsenz und mehr außerhäusige Beschäftigungsmöglichkeiten (wobei auch da digitale Medien eine Rolle spielen können: nicht jeder, der sich mit einem Freund draußen trifft, ist zuverlässig analog unterwegs – auch zusammen lässt es sich stundenlang „daddeln“).

Schauen Sie weniger darauf, wie lange ihr Kind, ihr Teenager an digitalen Geräten beschäftigt ist, sondern schauen Sie achtsam und mit Interesse darauf, was es dort macht. Ein zweistündiges Videotreffen mit Freunden ist anders zu beurteilen als zwei Stunden auf einem Server zu spielen. Arbeiten Sie nicht gegen die digitale Faszination, sondern arbeiten Sie mit Ihren Kindern für die sinnvolle Nutzung und Einbindung in einen pandemischen Alltag. Ich bin sicher, Sie selbst nutzen digitale Medien auch mehr als früher – nicht nur beruflich. Gestehen Sie das auch Ihren Kindern zu, ohne sie dabei aus den Augen zu verlieren. Fragen Sie, was sie dort interessiert, lassen Sie sich Apps und Formate zeigen und verstehen Sie, warum das in der Pandemie wichtig(er) ist. Spielen Sie Spiele mit, gleiten Sie selbst mal durch die attraktiven sozialen Plattformen – so verstehen Sie, welche Spiele und Formate Ihr Kind favorisiert und wieviel Zeit darauf zu verwenden auch angemessen ist. Informieren Sie sich über Kinderschutzeinstellungen, die gibt es in allen gängigen Plattformen und Formaten – sie schützen nicht 100%, nehmen aber einen großen Teil der Besorgnis und ermöglichen einen selbstständigeren Umgang. Verknüpfen Sie alle Familiengeräte mit einer (kostenlosen) Familien“kontroll“app – so können Sie dem Alter der Kinder entsprechend Erlaubnisse einstellen und – vielleicht der wichtigste Effekt: sie haben einen (konfliktfreien) Überblick, was ihr Kind wie lange an seinen Geräten macht. Ich halte das für eine zulässige und sogar wichtige Kontrolle, die mit aufwachsendem Alter abgebaut werden kann.

Achten Sie auf das Verhalten: übermäßiger Konsum digitaler Freizeitangebote (Serie um Serie, Spiellevel um Spiellevel) hat ungünstige Auswirkungen, macht reizbar und nervös. Das Zurückkommen in die analoge Realität wird manchmal konfliktreich. Das sollte Sie aufmerksam machen und ist ein Anlass für Veränderung. Sprechen Sie in diesem Fall auch mit Ihrem Kind - wie erlebt es sich selbst, wie fühlt es sich? Kinder können das oft gut selbst beschreiben, wenn man Ihnen den Raum dafür gibt und daraus entsteht ein erster selbstverantwortlicher Umgang.

Vereinbaren Sie (veränderte) Nutzungszeiten, sofern Sie vor der Pandemie solche hatten, ansonsten sprechen Sie über deren Einführung. Jeder Zeitpunkt ist ein guter Zeitpunkt, um damit zu beginnen. Fragen Sie nach den Wünschen der Kinder, lassen Sie Vorschläge machen, was wann digital gemacht wird (außer Schule). Wertschätzen Sie, wenn Ihre Kinder digital Kontakt halten – ja auch die Messenger-Gruppe kann hier plötzlich einen anderen sinnvollen Stellenwert bekommen. Wertschätzen Sie konzentriertes Teilnehmen am Distanzunterricht. Es gibt nicht wenige Kinder, die mit diesen Formaten sogar besser zurecht kommen und davon profitieren. Unterstützen Sie die Kinder im digitalen Umgang in und mit der Pandemie. Eine vorpandemische Regel sollten Sie allerdings nicht verändern: die Nutzung der Medien kurz vor dem Einschlafen - ob mit oder ohne Pandemie, das wirkt sich nachteilig auf das Ein- und Durchschlafen aus und ist auch mit verändertem Blick auf die digitalen Medien nicht nötig.

Je besser Sie Ihr Kind begleiten, umso weniger wird von Gefahren betroffen zu werden. Das war schon vor der Pandemie so und bedarf – wie Vieles andere auch – heute besonderer Beachtung.

Machen Sie attraktive analoge Angebote – vereinbaren Sie analoge und digitale Zeiten für alle in der Familie. Und wechseln Sie die Perspektive: in der Pandemie ist Digitalität ein Segen.

Suchen Sie sich unbedingt Hilfe und Rat, wenn Sie das Gefühl haben, Ihr Kind ist zu lange mit digitalen Formaten beschäftigt, die weder der Schule noch der Kontaktpflege dienen. Kontaktieren Sie Lehrer:innen, Schulsozialpädagog:innen, den Kinderarzt oder Beratungsstellen. Vernetzen Sie sich mit anderen Eltern – wie machen die das? Welche Regeln gelten, welche Konflikte gibt es, welchen Umgang gibt es? Auch das kann Sie unterstützen, den Herausforderungen, die ich nicht für klein erachte, angemessener und konfliktärmer gerecht zu werden. Und das bringt Ihre Kinder in diesem Punkt besser durch die Pandemie – mit zukunftsweisenden Möglichkeiten. Wir sehen jetzt schon, welch digitaler Kompetenzzuwachs der Generation ermöglicht wurde. Sehen wir das als Positivum an. Wechseln wir die Perspektive.

1Verweis auf den Ratgeber fürs Distanzlernen, der als „best practice“ aus einer Abfrage unter Eltern 2020 entstanden ist: https://publikum.net/best-practice-im-distanzlernenoder-so-kommen-schulkinder-durch-die-pandemie/

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