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8. Türchen: Der Rat, den alle geben: „Strukturen!“

Einen Teil unserer gewohnten Tagesstruktur auch in der Pandemie geben Berufstätigkeit (evtl. im Homeoffice) und die Schule (Präsenz- oder Distanzunterricht). Vorpandemisch wird dies durch viele äußere Umstände bestimmt. In der Pandemie, wenn Erwerbstätigkeit und/oder Schule zu Hause stattfinden, erhöht sich die Eigenverantwortung für diese Struktur. Um zu verstehen, warum wir in diesen Phasen mehr gefordert sind und den Alltag nicht „einfach laufen lassen“ können, bis wir wieder in den vorpandemischen oder einen wie auch immer gearteten nachpandemischen Zustand gelangen, ist es wichtig, zu reflektieren, was Struktur mit uns macht und wozu wir und vor allem unsere Kinder sie brauchen. Ein nicht von außen strukturierter Alltag erscheint endlos, man hat ewig Zeit, der Tag tröpfelt vor sich hin, wir treiben durch ihn hindurch. Stellen wir uns vor, so wäre das im Beruf, in der Schule – nichts würde funktionieren, keine Aufgabe erledigt, kein Meeting erfolgreich, man würde nicht anfangen und könnte nicht aufhören. Unser Inneres triebe haltlos mit und am Ende des Tages bliebe die Leere, nichts geschafft zu haben, auf das man stolz sein kann, was einem ein gutes Gefühl gibt, unser Selbstbewusstsein und unsere Selbstwirksamkeit nährt oder uns Menschen (wir sind soziale Wesen) näher gebracht hätte.

Verwechseln wir bitte nicht: ein herrlicher Wochenend-Chilltag, in dem wir nichts tun müssen, keinen Termin, keine Verpflichtung haben, uns entscheiden können, das oder das NICHT zu tun und liegen zu lassen – das ist etwas Anderes, etwas Sinnvolles und Erholsames. Selbst so einen „strukturlosen“ Tag strukturieren wir rudimentär – wir stehen auf, essen, gehen auf Toilette, gehen abends ins Bett. Von diesen Akku-auflade-Muße-Tagen sprechen wir nicht, wenn wir über lange Zeiten der Einschränkungen, Homeoffice und Distanzlernen und Ausfall unserer außerhäusigen Tagesstruktur sprechen. Wir sprechen von einem mittel- bis längerfristigen Tagesablauf, der „Alltag“ ist und als solcher gestaltet werden muss, weil er bestimmte alltägliche Tätigkeiten beinhaltet, die an unsere Aufgabenerfüllung gekoppelt sind. Für uns alle, aber im Besonderen Kindern gibt Tagesstruktur verlässlichen und tiefen Halt. Sie erfahren Orientierungspunkte, die ihnen Sicherheit geben, eines der wichtigsten Bedürfnisse der Kinder. Sie wissen, worauf sie sich freuen können, was zur Uhrzeit xy geschehen wird, wo Anfang und Ende liegen.

Die Herausforderungen eines pandemischen Alltags in der Familie sollten – vor allem mit Blick auf die Kinder – dieses Sicherheits- und Orientierungsbedürfnis in den Vordergrund stellen. Das gelingt uns durch kluge realitätsnahe Regeln und Pläne, die wir vereinbaren, die für alle transparent sind und uns durch den veränderten Alltag bringen können.

Kinder und Jugendliche (auch Erwachsene), die aufgrund von psychischen Erkrankungen oder Stresserkrankungen stationär behandelt werden müssen, aus gefahrvollen Familiensituationen heraus müssen und in Kinder- und Jugendeinrichtungen untergebracht werden, erfahren als einen der wichtigsten Werkzeuge einen strukturierten Alltag, der in seiner Bedeutung für die Patient:innen/Klient:innen auch thematisiert wird. Im Rahmen therapeutischer Intervention wird vermittelt, wie ein Tag sinnvoll (seelisch gesunderhaltend) strukturiert werden kann – DASS er strukturiert werden muss – und wie die Selbstverantwortung und Selbstfürsorge so gestärkt werden können, dass Selbst-Strukturierung immer besser gelingt. Das Erleben orientierender verlässlicher Struktur und das Zur-Ruhe-Kommen, das mit der Zeit einen Platz im Leben dieser aus der Bahn geschleuderten Kinder/Jugendlichen findet, fördert die Motivation, sich „um sich selbst zu kümmern“. In meinen Gesprächen stellte ich fest, dass Menschen, die durch Phasen solcher Erkrankungen/Haltlosigkeiten gegangen sind – bspw. Patient:innen mit Depressionen oder Angsterkrankungen, posttraumatischen Belastungsstörungen u.a. – in der Pandemie zwar vor besonderen Herausforderungen (Zurückgezogenheit als schwierige Kehrseite der Kontaktbeschränkungen) stehen, aber auch über einen besser ausgestatteten Werkzeugkasten verfügen, um damit umzugehen. Um es vereinfacht darzustellen: wer aufgrund seiner Erkrankung schon länger nicht arbeiten gehen konnte und sich in Behandlung begeben hat, hat gelernt, seinen Alltag selbst sinnvoll zu strukturieren, um den Auswirkungen der Erkrankung etwas entgegenzusetzen, verlorene Sicherheit zurück zu gewinnen, Erfolgserlebnisse zu generieren, Stabilität zu erlangen und sich einen Alltag zu erarbeiten, der sie – auch – mit Freude erfüllen kann, mit positiven Erlebnissen und v.a. mit dem Gefühl der Sicherheit und Verlässlichkeit. Manche sagten mir, das war in der Rückschau wie eine Generalprobe für die Pandemie, von der sie natürlich nichts wissen konnten.

Wer noch nie vor dieser (großen) Aufgabe stand und bislang in einem eher durch eng getaktete außerhäusige Strukturierungspunkte bestimmten Alltag lebte sowie freie Tage als eher „Wochenend-Chilltage“ (s.o.) genoss, steht jetzt vor dieser Aufgabe. Eine häufige Reaktion nach dem Abflauen der ersten Pandemie-Aufregung war Müdigkeit, es ist anstrengend, bei wieder wachsenden Herausforderungen (Schule und Arbeitgeber schrauben die Erwartungen wieder höher), aber gleichzeitig immer noch eingeschränktem Alltag den erforderlichen Spagat hinzubekommen und den wegfallenden Teil der Tagesstrukturierung selbst zu übernehmen. Je besser wir das aber reflektieren und je mehr wir verstehen, dass wir diese Struktur mit relativ einfachen Mitteln selbst übernehmen können, umso schadloser kommen wir – und v.a. unsere Kinder – durch die Pandemie. Unserer Familie hilft es nicht - und schon gar nicht unseren Kindern - das "Weggefallene", was uns einen großen Teil der Strukturierung einfach abgenommen hat, zu beklagen. Die Energie wäre auch im Sinne unserer Kinder besser eingesetzt, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, aktiv zu werden und bspw. über eine einfache gute Tagesstruktur Eigenverantwortung zu übernehmen. Letzten Ende ist es - rein auf die Struktur bezogen - unerheblich, wer sie gestaltet (Schule, Beruf, Eltern, man selbst) - wichtig ist, DASS sie gestaltet wird.

Alle sollten morgens in etwa so aufstehen wie vor der Pandemie, unabhängig davon, ob Dienst und Schule (in Distanz) zur gewohnten Zeit anfangen. Anständig ankleiden (das darf auch mal eine Jogginghose sein), frühstücken – wie immer. Kinder/Jugendliche können bspw. ab 8 Uhr an die Schulsachen (sofern sie zu Hause lernen, also in Quarantäne/Distanzunterricht sind) – ob Videokonferenzen oder Aufgaben, ob Vokabellernen oder ein Lernvideo. Eltern gehen ins Homeoffice (sofern sie so arbeiten). Machen Sie Pausen, lassen Sie die Kinder Pausen machen. Sie können einen 45-Minuten-Wecker installieren, sofern Videostunden keinen Stundenplan-Rhythmus vorgeben. Halten Sie kleine Mahlzeiten vor, Snacks, Obst, das die Kinder sich selbstständig nehmen dürfen. Zwischendurch zum Kühlschrank zu gehen und dort ein paar einfache gesunde Leckereien zu finden, lockert jeden zu-Haus-Schultag auf. Je mehr „normale“ zeitliche Struktur sie in die Situation zu Hause übernehmen können, umso geringer sind die Folgen der Veränderung und umso leichter fällt es, auch „at home“ den anstehenden Aufgaben nachzukommen.

Eine ganze Reihe von Familien berichteten mir, sie hätten am 14. März 2020 verkündet, nicht der Unterricht würde Pause machen, sondern die Kinder könnten nicht mehr zum Schulgebäude hingehen, und die Schule käme jetzt “nach Hause“. Prompt saßen die Kinder am nächsten Montag zur gewohnten Zeit beim Frühstück und – durchaus entspannter aufgrund des fehlenden Schulweges – um acht Uhr am Schreibtisch. Kleine „Versüßer“ – wie bspw. die Kuschelsocken anbehalten zu dürfen oder eine Tasse dampfenden Kakao neben dem Matheheft – machten diese Art „Alltag“ bei allen Unwägbarkeiten, Einschränkungen und (sozialen) Entbehrungen durchaus attraktiv. Diese Haltung behielten die Familien seitdem in allen Phasen des Distanzlernens konsequent ein – und alle machten wie selbstverständlich mit. Der teilweise abrupte Wechsel zwischen den Unterrichtungsmodellen Präsenz-/Wechsel- und Distanzunterricht durch die Pandemie hindurch war dennoch aufregend und emotional umwälzend genug – aber diesen Punkt, die Struktur des Tages in „Schule“ und „Freizeit“ wurde ungebrochen fortgeführt. Soweit mir bekannt, gab es an keinem Tag nennenswerte „Struktur“-Konflikte und jede neue Veränderung fiel auf ein stabiles und Sicherheit gebendes durch die Familien selbst gestaltetes Grundgerüst, auf dem die Kinder standen - das war auch relativ unabhängig vom sozialen oder wirtschaftlichen Status der Familien, sondern lag in der gäußerten Haltung begründet, die Kinder gut durch diese Zeit zu bringen. Diese Familien haben von einem auf den anderen Tag ihre Löwenkompetenz gezeigt, die zwar auch im vorpandemischen Alltag wirkt, aber deren Kraft sich erst jetzt zeigen konnte – in dem Moment, wo es hieß: „Kobra, übernehmen Sie!“

Struktur gibt Orientierung und Sicherheit. Und das brauchen Kinder in Zeiten von Unsicherheit und unkalkulierbarem Wandel, um psychisch gesund zu bleiben.

Vereinbaren Sie, wie mit der Freizeit umgegangen wird: was kann/darf gemacht werden, Mediennutzung, Bewegung an der frischen Luft… Wenn es Ihnen liegt, stellen Sie mit der Familie einen Wochenplan auf, sichtbar aufgehängt für alle.

Integrieren Sie Hausarbeit in diesen Plan (s. 2. Türchen), jeder, der zu Hause ist, bringt sich ein. Je jünger die Kinder, umso spielerischer kann das passieren. Ältere Kinder sollten ihren Bereich/ihr Zimmer in Ordnung halten, durchaus auch aufgrund vereinbarter zeitlicher Regeln. Achten Sie auf genügend Schlaf – möglichst vergleichbar mit vorpandemischen Zeiten.

Diese Dinge klingen trivial. Aber sie bekommen mehr (und stabilisierende) Bedeutung, wenn äußere Strukturen wegfallen. Ersetzen Sie diese Strukturen durch eigene. Verändern Sie, wenn Sie feststellen, dass etwas nicht mehr tragfähig ist. Vertrauen Sie auf die Kooperation der Kinder, sie brauchen Orientierung (auch wenn chillen angesagt ist) und Sicherheit, umso mehr, wenn die „äußere Welt“ unsicher und unkalkulierbar geworden ist. Diese Sicherheit können Sie ihnen in solchen Situationen geben. Seien Sie „der Fels in der Brandung“.

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