Lesezeit: 4 Minuten
9. Türchen: Mathe kann warten, der Kummer nicht!
Auch dieser Spruch gehört wie der mit dem Geschirr und dem Leben in jeden Familienhaushalt. Schule in der Pandemie – in welcher Form auch immer – ist für alle eine Herausforderung. Wir sollten uns davon lösen, dass eine scheinbare „Normalität“ im Präsenzunterricht eine entspannte oder unbesorgte Situation für die Kinder bedeutet. Die Lehrpläne sind unverändert, die Anforderungen an Tests, Klassenarbeiten und Klausuren ebenfalls. Isolation und Quarantänen grätschen in den Schulalltag. In Diskussionen mit Verantwortlichen der Landesregierungen wurde das Nicht-abrücken von den Leistungsanforderungen auch seitens der Lehrer:innen beklagt, es wäre doch besser, sich mehr Zeit für das Soziale, Psychische der Schüler:innen nehmen zu können. Ja, das wäre gut. Aber der Druck nach „Normalität“, dem Kinder ausgesetzt sind, lässt dafür viel weniger Raum als politisch verkündet wird. Dabei ist der Schulalltag der Kinder seit über 1,5 Jahren alles andere als „normal“ - so sehr das auch gefordert und wortreich versprochen wird. Solche Bilder scheitern sehr einfach an der Realität einer Pandemie, die nicht vor den Kindern Halt macht und deren Folgen sich in die Seele der Kinder gräbt. Das Testen ist immer mit dem Gedanken verbunden, ob heute morgen jemand positiv sein könnte, mit allem Wirbel und Sorgen, die dann folgen. Das Infektionsgeschehen, gerade in den eigenen Altersklassen, gibt Kindern und Jugendlichen keinen Anlass zu Entspannung und sorglosem Schulalltag (den es – auf andere Aspekte bezogen – sowieso oft nicht gibt). Vielleicht ist zu Hause jemand erkrankt oder liegt im Krankenhaus. Wechsel-/Hybrid- und Distanzunterricht bringen ihre je eigenen Herausforderungen mit sich. Die Konzentration am Bildschirm ist eine andere als im Präsenz-Kontakt. Die Ablenkungen im Klassenraum, Gekicher, Zettelchen-schreiben, aus dem Fenster-träumen… fallen weg. Die Ablenkungen zu Hause sind andere und bedürfen anderer Reaktionen. Kinder mussten und müssen sich immer wieder auf eine veränderte Lernumgebung einstellen. Diese Situation bedurfte der Gewöhnung und der Begleitung. Die positiven Aspekte dieser Unterrichtsform, die es durchaus gibt – sofern der Distanzunterricht gut gemacht wurde – stellten sich erst langsam ein. Seit Beginn der Pandemie haben die Kinder und Jugendlichen einen Tornado durchlebt, der ihren Schulalltag mit großem Räderwerkknirschen durcheinander brachte. Es ist kaum gelungen, in den Diskussionen ein Stück Verlässlichkeit einfließen zu lassen und sich auf das zu konzentrieren, was die Kinder in der Pandemie brauchen. So warten Familien stets mit Spannung (und Sorge) auf die nächste Schulmail, die nächsten Regelungen und Informationen, in manchen Phasen im Wochentakt, Vieles ist dabei unverständlich, widerspricht wissenschaftlichen Erkenntnissen und Hinweisen. Das prägt den Unterrichtsalltag.
Was die Kinder in dieser Zeit bislang ausgehalten, geleistet und mitgemacht haben, ist beachtlich und zeigt – positiv betrachtet – wie flexibel und anpassungsfähig sie sind. Nicht alles, was wir Erwachsenen in der Pandemie gemacht haben, war dem dienlich und oft haben wir vergessen, dass Kinder Teil dieser Pandemie sind und von ihr betroffen werden. Die Belastungsfähigkeit von Kindern hat auch ihre Grenze und diese äußern sie sehr authentisch und direkt. Diese Gesamtlage kann auch bei Kindern zu Überforderung, zu Unsicherheiten und Keinen-Bock-auf… führen. Es kommt zu Tränen, Mathe geht gerade gar nicht in den Kopf, weil alles zuviel wird. Vergessen wir nicht: Kinder sind nicht von der Pandemie entkoppelbar, wir würden ihnen schaden, wenn wir das versuchen würden und die Pandemie als eine Pandemie der Erwachsenen betrachteten. Und wenn Mathe gerade gar nicht mehr geht, so liegt das nicht unbedingt an Mathe, am Lehrer, am Distanzlernen oder dem blöden Aufgabenblatt… es kann auch an einer aufgebauten Gesamtsituation liegen, die im Moment des Matheunterrichtes ihren Ausdruck findet. Das kann man sich wie einen Topf vorstellen, in den Tropfen (der Belastung) fallen – ein Modell aus der Stressforschung. Irgendwann ist der Topf voll (wenn er keine zwischenzeitlichen Entlastungs-(Abluss-)möglichkeiten hat) und läuft einfach über – in unserem Beispiel bei der Matheaufgabe.
Die schlechteste aller Reaktionsweisen, wenn gerade gar nichts mehr geht, wäre nun, auf der Fortführung zu bestehen, zu beruhigen, zu ermutigen, zu drängen – in vorpandemischen Zeiten vielleicht ein übliches (wenngleich nicht weniger ungünstiges) Verfahren. Wenn ein Kind weint, drückt es damit eine tiefe Emotionalität aus, „Etwas“ ist gar nicht mehr in Ordnung und so bestimmend, dass alles andere dahinter verschwindet. Dieses „Etwas“ ist in den meisten Fällen NICHT die Matheaufgabe, an der sich das gerade entzündet. Das Kind darin nicht wahrzunehmen/nicht ernst zu nehmen, ist schon im vorpandemischen Leben beschädigend, aber eine Zeit allgemeiner Unsicherheit und Aufgebrochenheit des Alltags und des gewohnten Lebens erfordert nochmal erhöhte Achtsamkeit mit den Gefühlen unserer Kinder.
Schnellste und beste Möglichkeit ist das Auf“knacken“ der Situation. Vom Schreibtisch weg, aufs Sofa, in den Arm nehmen, halten, fragen, zuhören – Zeit nehmen und Zeit lassen. Sind die Tränen getrocknet, gewähren Sie eine kurze Auszeit mit Positivem (einen Snack, 10 Minuten freie Beschäftigung, eine Runde Mau-mau… eine Ablenkung, einen Perspektivwechsel), versichern dem Kind, dass die Matheaufgabe nicht verloren geht, dass Verspätung begründbar ist, dass man sich in der Vermittlung an die Lehrer:innen einklinkt. Fragen Sie, was das Kind braucht, um weiterarbeiten zu können – meist reichen diese Minuten schon, um Ressourcen zu aktivieren und Entlastung zu bewirken. Die Investition lohnt sich, solche Situationen werden seltener, die Kinder sicherer. Sie lernen, was sie selbst tun können und was bei ihnen entlastend wirkt.
Auf Twitter fand ich die Vorlage für diesen Punkt. Der kurze Tweet drückt aus dem Leben genommen aus, was man in langen akademischen Ausführungen begründen kann und was ich vielfach in Gesprächen wiederfand.
https://twitter.com/Dr_Emergencydoc/status/1366346444068827141?s=20
Im Grunde unterscheidet sich diese Vorgehensweise nicht von Zeiten vor der Pandemie. Aber auch hier sehen wir einen Brennglaseffekt – wir erleben sehr nah und intensiv, was Belastung und aus-den-Angeln-gehobener Alltag auslösen können – umso intensiver muss auch unser Augenmerk sein. Eltern wollen nichts mehr, als dass es ihren Kindern gut geht. Vieles dafür haben wir selbst in der Hand. Aber Eltern geraten auch an den Rand der Überforderung, in vielerlei Hinsicht. Dazu wird es noch ein späteres Türchen geben. Im Grunde dienen alle bisherigen Gedanken aber auch den Eltern. Ein strukturierter und selbstwirksamer aktiver achtsamer Pandemiealltag sorgt für Entlastung auf vielen Ebenen. Das kommt Familie als Ganzem zugute.
Den Arm der Mutter oder des Vaters auf dem Sofa, das bedingungslose Sich-Verlassen-können und Sich-Fallen-lassen-können auf den „Fels in der Brandung“ kann nichts und niemand ersetzen. Achten wir darauf, dass unsere Arme und Ohren in der Pandemie für unsere Kinder weit geöffnet sind und wir nicht aufgrund unserer eigenen verständlichen Besorgnisse und Empörungen in der öffentlichen Diskussion das tun, was Politik vorgeworfen wird: die Kinder in der Pandemie vergessen.
Dir gefällt, was #Isabel Ruland schreibt?
Dann unterstütze #Isabel Ruland jetzt direkt: