Spätestens seit Jan Fleischhauers @janfleischhauer Entschuldigungstweet an Jasmina Kuhnke @ebonyplusirony, seinem exzellenten Artikel über die Situation der Familie von Sebastian Mathis @semanthis
sowie dem zum Thema veranstalteten Abendspaziergang von Philipp Holstein @PSHolstein nebst After-Space von Bodo Krauß @Berater_1 kursieren aufgeregte Fragen und wilde Vermutungen, wie viele #Schattenfamilien in Deutschland leben. Ich will diese Frage erhellen, bin ich doch nicht ganz unbeteiligt daran, dass die Thematik langsam in die Köpfe sickert und diese Fragen nach den Zahlen überhaupt aufkommen.
Ich setze hier als #Schattenfamilien diejenigen Familien voraus, in denen mindestens ein vorerkranktes Kind lebt, also #Risikohaushalte, in denen die Kinder selbst Risikopatienten sind. Zu den Risikohaushalten gehören darüber hinaus Familien, in denen ein erwachsener Angehöriger vorerkrankt ist.
Einige Zahlen (und ihre Quellen):
1. In Deutschland leben gut 452.000 Kinder und Jugendliche von 12-17 Jahren, etwa 11% der Altersgruppe, die selbst eine covid-19-relevante Vorerkrankung nach STIKO-Klassifizierung (s.u.) aufweisen. Diese Zahlen wurden veröffentlicht, als die Impfung für die 12-17-Jährigen zugelassen und von der #STIKO zunächst nur für vorerkrankte Kinder (oder Kinder mit Risikopatienten in der Familie) empfohlen wurde – am 11. Juni 2021, bspw. hier in der @tagesschau.
Die Quelle ist das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland @Zi_Berlin, das Herausgeber des Versorgungsatlas ist, der diese Zahlen anlassbezogen erhoben hat.
2. In Deutschland leben ca. 200.000 Kinder unter 12 Jahren, die eine entsprechende Vorerkrankung aufweisen. Diese Zahlen wurden in einem Artikel der @welt genannt:
Diese Angaben stammen laut der Verfasserin des Artikels vom Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (@BVKJ).
3. In Deutschland leben etwa 5,7 Millionen vorerkrankte Menschen ü18 in Familien mit Kindern. Das ergab eine Studie des RKI @rki_de vom Februar 2021
im @derspiegel zusammengefasst:
Wir haben es also nach diesen Daten insgesamt mit über 6,5 Millionen Menschen zu tun, die im Kontext eines Familienlebens mit Kindern zu den schützenswerten #Risikogruppen gehören.
Weitere relevante Daten: Im Informationsdienst Wissenschaft https://idw-online.de/de/news762858 erschien Febr. 2021 ein Beitrag, der einen auf #KiGGS (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen des @rki_de - Erhebung 2017) basierenden Anteil vorerkrankter Kinder höher beziffert.
Dort werden 11% der Mädchen und 16% der Jungen als vorerkrankt im Sinne der Pandemie benannt. Bei einer Bevölkerung unter 18 J. von rund 13,75 Millionen und einem Anteil von Mädchen mit 49% und Jungen mit 51% errechnet man etwa 740.000 vorerkrankte Mädchen und über 1,1 Mill. vorerkrankte Jungen. Das wären also noch viel mehr Betroffene. Der @BVKJ nennt ebenfalls diese höheren Zahlen für die Gesamtheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland:
Betroffene Kinder in D leiden laut #STIKO an folgenden covid-19-relevanten Vorerkrankungen:
- Adipositas, angeborene oder erworbene Immundefizienz oder relevante Immunsuppression, angeborene zyanotische Herzfehler, schwere Herzinsuffizienz, schwere pulmonale Hypertonie, chronische Lungenerkrankungen mit einer anhaltenden Einschränkung der Lungenfunktion, chronische Niereninsuffizienz, chronische neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen, maligne Tumorerkrankungen, Trisomie 21, syndromale Erkrankungen mit schwerer Beeinträchtigung sowie Diabetes mellitus.
Drei Beispiele in Zahlen:
1) In D gibt es aktuell etwa 112.000 Kinder mit relevanten Herzerkrankungen.
2) Wir sehen jährlich etwa 2000 neue Krebsdiagnosen bei Kindern. https://idw-online.de/de/news762858
3) Etwa 32.000 Kinder unter 18 J. sind an Diabetes mellitus Typ 1 erkrankt.
Persönliche Bemerkungen: Ich empfinde es als kaum erträglich, dass es 2 Jahre Pandemie (davon 1,5 Jahre OHNE Impfmöglichkeit) braucht, bis #Risikofamilien wahrgenommen werden. Weder Medien noch Politik haben dem bislang eine nennenswerte Bedeutung beigemessen. Zahlen werden kaum bis gar nicht erhoben und entsprechende Nachfragen bei relevanten Stellen (bspw. die Anfrage des @wdr im Kultusministerium NRW @BildungslandNRW) ergeben weder inhaltliche Antworten noch Aufmerksamkeitsinteresse bezüglich vorerkrankter Kinder.
Jan Fleischhauer beschrieb im Abendspaziergang bei Philipp Holstein, wie und wann er auf den Begriff #Schattenfamilien und die Thematik der Risikofamilien aufmerksam wurde. Dieser Erklärung nach kann ich sachlich verstehen, wie das lange (Ver-)Schweigen zustande kam, akzeptieren kann ich es kaum.
Seit fast 2 Jahren kursiert dieser Begriff, es gibt verschiedenste #Initiativen, die sich aus Risikofamilien gegründet haben und mit ungeheurer Energie daran arbeiten, sichtbar zu werden. Diverse demokratisch gewählte Landeselternschaften, bspw. in NRW die @LEK_NRW mit ihrer Vorsitzenden Anke Staar @AStaar8 oder die @LEiS_NRW bringen das Thema in Medien und Landespolitik ein. Schon länger bestehende Vereine und Patientenorganisationen aller möglichen Erkrankungen, seriöse Ärzt:innen, Wissenschaftler:innen und Fachverbände weisen seit Beginn der Pandemie auf diese Thematik hin. Das Netz ist voll von Beiträgen – in den Äußerungen der Politiker fand das so gut wie keinen Widerhall.
Die Mittel der Betroffenen sind natürlich anders gewählt als bei sorglosen aufmerksamkeitsheischenden Massenspaziergängen – das kommt qua Situation gar nicht in Frage. Aber sie sind nicht minder gut gewählt: Mahnwachen, Demonstrationen, Webinare, (Offene) Briefe, Petitionen, Presseerklärungen… nur wollte sie niemand wahrhaben. Zu klein, zu unspektakulär, zu brav, zu leise, zu sehr Minderheit, zu unangenehm das Thema…
Sämtliche Bundestagsabgeordneten des alten wie des neuen Bundestages, verschiedenste Landtage und ihre Abgeordneten wurden mehr als einmal schriftlich auf diese Thematik hingewiesen, Ministerien wurden angeschrieben, Zeitungen, Fernsehsender, Nachrichtensendungen, Talkshows, einzelne Journalisten… die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Der ein oder andere wird sich beim Lesen dieses Threads erinnern. Es darf sich jede/r (v.a. jede/r der Angesprochenen) überlegen, warum es zu keiner Wahrnehmung kam, warum er/sie persönlich das Thema nicht wahrnahm. Die Gründe kann man diskutieren, aber das gehört in einen anderen Artikel.
Es gibt einen Aspekt, für den die #Schattenfamilien plötzlich eine Rolle spielten: bei der Empfehlung der #Impfung. Da wurden sie zu einer mathematischen „Größe“ zur Bestellung von Impfstoffen, zur Frage, wann, wo und wie sie geimpft werden können. Die Kriterien für einen schweren Verlauf wurden zu Kriterien der Impfpriorisierung. Zu Kriterien von Schutzmaßnahmen wurden sie zu keinem Zeitpunkt der Pandemie. So blieben die #Schattenfamilien bislang vergessen im Wahnsinn einer überforderten Pandemiepolitik, die seit dem 1. LD nicht mehr weiß, was sie tun soll. Schon gar nicht, um diejenigen zu schützen, die nicht hinter den Toren der Pflegeheime leben, sondern in die Schule gehen, beim Kinderturnen Purzelbäume schlagen und an einem sonnigen Nachmittag mit ihren Freunden über den Spielplatz toben… MÖCHTEN.
Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass gefährdete erwachsene Risikopatienten hinter den Mauer von Pflegeheimen leben und jüngere Vorerkrankte höchstens in Förderschulen sitzen. Die Pandemie hat einen neuen Patientenbevölkerungstyp generiert: covid-19-relevant vorerkrankte Menschen gab es als GRUPPE vor der Pandemie nicht. Und so laufen alle Schutzmaßnahmen, die sich auf hergebrachte Vorstellungen „vulnerabler“ Gruppen beziehen, ins Leere. Sie erreichen diejenigen nicht, die es zu schützen gilt. Millionen Menschen mitten in der Gesellschaft, im Klassenraum der Grundschule um die Ecke, im Fechtverein, in der Musikschule, beim Kindergeburtstag, im Schwimmbad, im Restaurant am Nebentisch, in der Schlange an der Kasse vor uns… Kaum jemand bspw. in Schulen trug seine Vorerkrankung vor der Pandemie auf einem Silbertablett vor sich her, oft wissen weder LuL noch SuS, dass der Sitznachbar oder die Sportkameradin eine Vorerkrankung haben.
Wir brauchen einen Perspektivwechsel und eine Anerkenntnis dieser Gruppe. Wir brauchen Schutzmaßnahmen, die dort greifen, wo diese Kinder leben. Mitten unter uns.
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