Es war noch nie so einfach, spottbillig und risikolos wie heute, sich als irre mutiger Rebell zu gerieren. Ein Verlag entscheidet nach heftiger Kritik, ein Begleitbuch zu einer Karl-May-Spin off-Verfilmung vom Markt zu nehmen, das wohl innerhalb des Verlages bereits heftig umstritten war. Und sofort so: Hiiilfäää! Sie wollen uns unseren Karl May wegnehmen! Ich lasse mir von woken linksgrünversifften Volxerziehern doch nicht vorschreiben, was ich zu lesen habe!1!!11!

Das meiste davon ist heillos überzogener Humbug. Weder werden Karl May-Bücher aus den Regalen verbannt oder gar verbrannt werden, noch werden die betulichen, aus Kindheitstagen vertrauten Verfilmungen verschwinden. Ihre Bedeutung wird halt geringer werden, mehr nicht. Aber das ist etwas völlig Normales. Sich jetzt demonstrativ mit May-Gesamtausgaben einzudecken, ist in etwa so rational, wie sich 2020 die Bude bis unters Dach mit Klopapier, Nudeln und Mehl vollgestopft zu haben.

"Die dreibändige Winnetou-Ausgabe steht aktuell in mehreren Amazon-Bestsellerkategorien auf dem ersten Rang. Erst waren es Hefe, Mehl und Klopapier, jetzt eben Karl May. Was der von irrealer Verlustpanik getriebene Schnauzevolldeutsche hat, das hat er." (David Hugendieck)

Nun ist die andere Seite ja nicht minder geistfrei. Ich bin überzeugt, dass Idiotenkonzepte wie 'kulturelle Aneignung', wie sie momentan exekutiert werden, in gewissen Milieus vor allem deswegen so populär sind, weil die intellektuellen Hürden da äußerst niedrig hängen. Die Welt inquisitorisch auf 'kulturelle Aneignung' abzuscannen oder auf Dies- und Jenesfeindlichkeit oder was auch immer, und dann säuberlich in Gut- und Böse-Schubladen zu sortieren -- dafür bedarf es wirklich nicht viel außer einer großen Klappe und einem kompletten Mangel an Selbstzweifeln und Skrupeln. Ernsthafte Denkarbeit, Differenzierung oder gar theoretischer Überbau hingegen stören da eher. Könnte auch ein Nebeneffekt des Bologna-Prozesses sein und dem Umdeuten von Bildung zur bloßen Dienstleistung.

Positiver Nebeneffekt fürs Kapital: Wer sich den lieben langen Tag mit Privilegien, Mikroaggressionen und Aneignung beschäftigt, hat in der Regel nicht mehr den Kopf frei für Klassenfragen oder dafür, Besitz- und Eigentumsverhältnisse infrage zu stellen. (Wir kennen das aus dem modernen Feminismus.)

Das ist umso bedauerlicher, als dass Debatten darüber, wie Kunst aus früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten angesichts sich wandelnder gesellschaftlicher Realitäten neu bewertet werden kann, wenn nicht muss, nicht nur ein völlig normaler Vorgang sind, sondern meist auch wirklich spannend und erkenntnisfördernd sein können. Nicht zuletzt, weil es da viel über sich selbst und die eigenen Wahrnehmungen zu lernen gibt.

Schlimmer noch, steckt hinter all dem ein vormodernes, magisches, um nicht zu sagen kindliches Verständnis von Literatur und Kunst. Und ein einigermaßen schlichtes Menschenbild. Input A ergibt Output B. Leicht unter die Räder kommt dabei die zivilisatorische Errungenschaft des Kunstvorbehalts. Also die Annahme, dass niemand durch die Lektüre von Shakespeares 'Macbeth' zum politischen Attentäter wird oder keine Frau ursächlich fremdgeht, weil sie 'Madame Bovary' oder 'Lady Chatterley' gelesen hat oder niemand durch Betrachten von Nolde-Bildern zum Nazi wird. Diese Erkenntnis musste seit der Aufklärung mühsam gegen Inquisitoren, Zensoren und andere Obskuranten durchgesetzt und gegen sie verteidigt werden.

Die Forderung, irgendwas dürfe nicht veröffentlicht werden, bloß weil sich theoretisch irgendwo irgendwer deswegen beleidigt fühlen könnte, ist Quatsch. Beleidigt ist immer irgendwo wer und beleidigt sein allein ist noch kein Argument und berechtigt einen zu nichts. Wäre es das so, dann müssten jene Twitter-Scheinriesen, die jetzt tatsächlich Winnetou bekämpfen, konsequenterweise auch den jüngsten, glücklicherweise nicht tödlichen Angriff auf den Schriftsteller Salman Rushdie begrüßen. Weil das zugrunde liegende Muster dasselbe ist.

(Ja, aber was ist dann mit der documenta??? Gute Frage. Ich würde sagen, der eigentliche Skandal ist gar nicht mal so sehr, dass da welche, die sich über die Auswirkungen möglicherweise nicht völlig im Klaren waren, offen antisemitische Bilder hängten, sondern dass da ein überwiegend deutsch-bildungsbürgerliches Kuratorium über Monate offenbar kein Problem darin gesehen hat, es versäumt hat, das zu problematisieren und auch dann noch keinen Antisemitismus erkennen mochte, als alles schon offen zutage lag. Ich glaube übrigens, man hätte diese Werke sogar irgendwie ausstellen können, wenn man das in einem bestimmten Kontext getan hätte. Hat man aber nicht.)

Das alles jedenfalls passt perfekt in einen im Kern wissenschafts- und kunstfeindlichen Zeitgeist, der kreative und künstlerische Arbeit eigentlich zutiefst verachtet, jegliche Mehrdeutigkeit und Zumutung nicht nur aus der Kunst tilgen will und nur mehr gelten lässt, was in schlichte Schwarz-weiß-Muster oder das Raster eines stupiden Positivismus a'la Bechdel-Test passt und bloß niemanden überfordern will. Sind auch alle denkbaren Minderheiten ausreichend repräsentiert? Was sagt die Excel-Tabelle? Nicht? Dann hinfort damit, und zwar pronto! Merken diese Leute nicht, dass sie sich in nichts unterscheiden von jenen Spießern, die Menschen nach ihrer Frisur beurteilten und sie zwangsweise zum Friseur oder gleich ins Lager stecken wollten? Ist ihnen nicht klar, dass es überall dort, wo es orthodox wird, es normalerwiese sehr schnell eng, kleingeistig und menschenfeindlich wird? Oder wollen sie es nicht merken?

Das wiederum ist umso bedauerlicher, als dass es an dem Konzept der Repräsentation grundsätzlich wenig auszusetzen gibt. Nur ist auch das eigentlich keine große Sache. Schon in den 1980ern kam es beispielweise zu ersten gleichgeschlechtlichen Küssen und Beziehungen im Mainstream-Kino und im Fernsehen. Ist die Welt deswegen untergegangen? Nein, es werden seither immer mehr Menschen immer selbstverständlicher damit groß, dass es da draußen mehr gibt als die bürgerlich-endemische heterosexuelle Kernfamilie aus Vater und Mutter plus Kindern. Das wieder zurückdrehen zu wollen, hieße, religiösen Spinnern und Arschgeigen wie Orbán et al. das Feld zu überlassen.

Vielleicht ist der bierernste moralische Rigorismus vieler Jüngerer, darunter derer, die sich momentan an Gemälden festkleben, mit Demographie erklärbar. Noch nie sahen sich in dieser Weltgegend so viele junge Menschen so vielen Alten gegenüber wie heute. Die Jungen sorgen sich völlig zu Recht um ihre Zukunft auf einem zunehmend unbewohnbaren Planeten. Und exakt die Boomer-Generation, die ihr Leben lang nichts getan hat, daran irgendwas zu ändern, obwohl das Wissen da war, macht was? Zuckt die Schultern. Mir doch egal. Euch wird da schon was einfallen. Ich lasse mir jedenfalls meinen Sechszylinder/meine Kreuzfahrt nicht verbieten. Schönes Leben noch. Brrrmmm, brrrmmm!

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