Man könnte sagen dass der Mensch, gesellschaftlich gesehen, ein Goldfischgedächtnis hat. Man lehrte uns einst, aus den grossen menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gewisse Lehren zu ziehen: Der übermässige nationalistische Stolz als Treiber von Konflikten; die Kriegslust nicht als edle Tugend sondern als perverse, Gewalt schürende Verblendung; ungerechte Gesetze zu missachten, zum Beispiel wenn diese die systematische Ausgrenzung von Menschen verordnen; oder dass man das, was von Medien und Politik gesagt wird, immer in Frage stellen sollte. Wenig ist hiervon übrig geblieben. Vor einigen Monaten applaudierte man, als man Menschen, die nicht eine kaum erprobte Impfung erhalten wollten, eine Impfung, von der man bereits wusste, dass sie die Verbreitung des Virus nicht hemmt, und dass die meisten Menschen sowieso nicht bedeutsam durch dieses Virus gefährdet waren, aus allen möglichen Orten ausschloss, sie behandelte wie Aussätzige, und zugleich zum Sündenbock für alle Übel stilisierte. In kürzester Zeit wurde ein riesiger Überwachungsstaat implementiert, worin an jedem Eingang plötzlich Hilfspolizisten standen, welche kontrollierten, dass man auch die richtigen Papiere besass, um eintreten zu dürfen. Dies war nur möglich, weil ein grosser Teil der Menschen mitmachte.
In dieser Situation, die eben an diese zuvor erwähnten Lektionen hätte erinnern müssen, wurden stattdessen die angegriffen, die es wagten, den hier insinuierten Vergleich zu ziehen, obgleich die Parallelen eklatant sind. Ob dies nun mit einer vermeintlich wissenschaftlichen Grundlage geschehen sein sollte, ist wenig mehr als blanker Hohn, eine technokratische Unterstellung, mit wohlbekannt debiler Argumentation dahinter, um solche Verachtung der Menschenwürde zu rechtfertigen. Aus „wehret den Anfängen“ wurde sehr schnell „es ist überhaupt nicht vergleichbar“; doch dabei geht es doch, eben um die Anfänge, nicht die schlussendlichen, horrenden Auswirkungen solchen Denkens. Wozu soll man den Anfängen wehren? Die universelle Bedeutung solcher Lehren aus der Geschichte wurde stattdessen zu hochspezifischen Geschehnissen degeneriert. So kann man nichts aus der Geschichte lernen.
Derzeit erleben wir wieder solches Verhalten, das voll und ganz wider der Lehren der Vergangenheit ist, und wobei diese erneut durch auf hochspezifisches reduziert werden, um die eigentliche Lehre zu vergessen. Wo Kriegslust und Nationalismus lange Jahre vom progressiven Denken als barbarisch und rückständig gesehen wurde, hat man eben diese Werte nun neu entdeckt, und lobt die Ukraine dafür, sich in nationaler Einigkeit dem glorreichen Krieg hinzugeben. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wir der Feind entmenschlicht, man redet von Bestien oder Orks, und man verteufelt ein ganzes Volk, ungeachtet dessen, was nun die Menschen tatsächlich denken. Und wenn sie gegen den Krieg sind, sollen sie doch ihre Regierung stürzen, ansonsten sind sie es nicht wert, als menschliche Wesen angesehen zu werden.
Wer auf Diplomatie pocht, heisst es wiederholt den Fehler der berüchtigten Appeasement-Politik der 30er Jahre. Da ist auch schon die zum spezifischen degenerierte Lektion aus der Geschichte. Es ist meistens ein Fehler, solche hochspezifischen Vergleiche mit historischen Geschehnissen vorzunehmen, denn hier ist es, in der Tat, nicht das Selbe. Der Wert, der Lehren aus der Geschichte, ist das Universelle, das Konzeptuelle, das Abstrakte. Zu behaupten, Diplomatie sei immer sinnlos, weil sie in mancher Situation fehlgeschlagen ist, leugnet, dass Diplomatie in vielen anderen Situationen Konflikte entschärft oder beendet hat. Stattdessen ruft man nach mehr Krieg, mehr Waffen, man jubelt auf den Nationalismus und sehnt sich nach dem Endsieg, der einzigen Möglichkeit, „das Böse“ aufzuhalten. Ist es wirklich dies, was wir aus der Vergangenheit hätten lernen sollen? Kann man diese Ideen wirklich mit einem guten Ausgang zu Ende denken, ohne dass es zu einer menschlichen Katastrophe kommt? Oder nimmt man diese lediglich in Kauf? Man sollte, wenn man einen Weg läuft, auch darauf schauen, wohin dieser führt.
Was diese vorgeführten Situationen gemeinsam haben, ist dass sie einem unschönen menschlichen Trieb entspringen: dem Trieb zu hassen. Wie man ja so schön sagt, nichts eint die Menschen mehr, als ein gemeinsamer Feind. Es scheint, so weit wie man rückblickend die Geschichte betrachtet, hatte jede Gesellschaft stets einen Feind, und wenn sie diesen nicht hatte, suchte man einen. Die Sowjetunion war während des kalten Krieges ein formidabler Feind, doch nach dem verschwinden des eisernen Vorhanges wurde es schwieriger, angemessene Feinde zu finden. Mal waren es Jugoslawien (heute Serbien und Montenegro), die die Separatisten im Kosovo im Zaum halten wollten, mal waren es irgendwelche Leute im mittleren Osten, die uns mit terroristischen Attentaten in Schrecken versetzten, mal packte man wieder die Bedrohung durch Rechtsextremismus aus. Doch das Verlangen zu hassen, zieht sich wie ein unglücklicher roter Faden durch die Geschichte der Menschheit.
Womöglich ist das nicht anerkennen wollen dieses menschlichen Triebes, dieser Irrationalität die uns allen inne wohnt, was zu den schlimmsten Auswüchsen führt. Wenn man das unvermeidbare leugnet geschieht es fast unweigerlich, dass dieses Unvermeidbare trotzdem ein- bzw. auftretet, jedoch in einer wilden, unkontrollierten Form, da keinerlei Bändigung dessen geschieht, da diese ja eine Anerkennung dieses Unvermeidbaren wäre. Man stelle sich vor, man leugnet den Regen, weil einem dieser nicht gefällig ist, doch dieser wird früher oder später eintreten, so hat man kein Dach über dem Kopf, wird man nass. Wer aber den Regen akzeptiert, der wird auch danach sehen, dass er ein Dach über dem Kopf hat. Ebenso geschieht es mit solchen Trieben, welche man entweder anerkennen und kanalisieren kann, um sie weitgehend unschädlich (oder gar begünstigend) zu machen, oder man ignoriert sie, und lässt sie unbeachtet wüten.
Es ist nichts rationales daran, die menschliche Irrationalität zu leugnen, und vorzugeben, selbst ausschliesslich von Rationalität getrieben zu sein, denn die Irrationalität gehört unweigerlich zum Menschsein dazu, und diese zu leugnen bedeutet lediglich, dass sie in allen möglichen anderen Erscheinungen hervorsprudeln wird, ohne überhaupt als solche anerkannt zu werden. So geschieht es beispielsweise mit der Religion, welche eine Einreihung des menschlichen Begehren nach Transzendenz, Bedeutung sowie den tiefgründigsten metaphysischen Fragen darstellt, und in deren Abwesenheit alle möglichen abstrusen Phänomene im Grunde die geistige Position der Religion annehmen und sich folglich wie eine solche verhalten, ohne aber als solche anerkannt zu werden, und stattdessen als rein rationales Betragen kolportiert werden.
Es ist also nichts falsches daran, den inneren Trieb zum Hass zu akzeptieren, so wie wir alles unschöne an unserer Existenz akzeptieren, und hat man es einstmals akzeptiert, so kann dieser Hass auch auf bessere Weise ausgelebt werden, z.B. indem man den Hass richtet auf den inneren Schweinehund, auf Unbildung, auf Schamlosigkeit, auf antisoziales Verhalten und auf sonstige Laster, dass der Hass uns auch selber dazu treiben möge, bessere Menschen zu werden, und dass stattdessen die komplexen Angelegenheiten unserer Welt mit Besonnenheit statt Triebhaftigkeit betrachtet werden können.