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In loser Folge stellen wir hier vergessene, verdrängte, verdrehte deutsche Stammwörter vor, stellen sie den heute gebräuchlichen Lehnwörtern und Umschreibungen gegenüber, oder ihre eigentliche Bedeutung der heute gebräuchlichen Sinnentstellung.

Stand 2024-02-08, die neusten Einträge sind stets ganz unten.

Übersicht


- Zeug, zeugen
- Erzeugnis vs. Produkt
- Zeugenschaft
- Preis, preiswert, billig
- Die Kunde vs. Information, der Kunde
- wirken, Wirklichkeit – real, Realität
- Nachricht
- Gier
- Ist Hallo ein Gruß?
- kriegen, Krieger, Krieg
- Gestalt und Form, Original und Kopie, Kollektiv und Form
- Interesse, Anteilnahme
- Munt, mündig, Mündel, Klient
- Walten
- Kampf
- Sund, sonder, Sünde, Sonde
- Pflicht, Pflege
- Von Abzocken bis Zoff – Jiddismen und Rotwelsch
- Zier, Verzierung, Zierat, Schmuck, Ornat, Dekor, Putz
- Wallen und Wirbeln
- Zorn oder Wut?
- Deutsch oder Globalesisch?

Zeug, zeugen

(Er-)zeugen meint hervorbringen, eine Idee in den Stoff bringen. Hier ist ein riesiger Bedeutungsraum angesprochen, die ganze Kette entlang von der Idee über den Rohstoff über die Herstellung bis zur fertigen Sache und deren Gebrauch.

Grimm: Es geht auf ahd. giziugôn zurück und bewahrt sowohl in der Vollform gezeugen wie in dem Kurzwort zeugen die beiden Begriffsbezirke des ahd. Grundworts giziuc, m., nämlich Geräth, Stoff und Zeugnisverfahren, Zeugnis.

Im älteren Sprachgebrauch ist das Zeug (verkürzt von Gezeug) einfach der erzeugte Gegenstand, eine Sache, ein Stoff, eine Gerätschaft. Wir verwenden das freistehende Wort heute nur noch im geringschätzigen Sinne, wie Kram, Sammelsurium. Die ursprüngliche neutrale Bedeutung ist erhalten in Inseln wie Zaumzeug, Werkzeug.

Das Verb zeugen ist heute verengt auf die Fortpflanzung, ein Kind zeugen also. Dies ist einer der wenigen Bereiche, in denen die alltägliche Sprache uns heute noch ‚zeugen‘ lässt. Allerdings hat die Weise, wie heute die meisten Kinder gezeugt werden – als unbewusstes Nebenbei triebhafter Sexualität –, nurmehr wenig mit der eigentlichen Bedeutung von zeugen gemein, denn dazu müssten die Eltern das Kind zunächst geistig zeugen, seine Seele zu sich rufen, und es danach bewusst, willentlich und liebevoll gemeinsam in den Stoff bringen.

Erzeugnis vs. Produkt

Das Wort ‚Erzeugnis‘ ist im alltäglichen Sprachgebrauch vollständig durch ‚Produkt‘ verdrängt, ein lateinisches Fremdwort. Und das hat Folgen für unsere Haltung zu den Dingen wie auch deren Qualität.

In Erzeugnis steckt ‚zeugen‘, also ein Hinweis auf einen Zeugungsakt, der sowohl geistig wie auch stofflich ist. (Er-)zeugen meint hervorbringen, eine Idee in den Stoff bringen. Und das Erzeugnis zeugt von seinem Hersteller, wie auch von dem, der es erdacht hat (falls nicht derselbe); hier ist also eine Beziehung zwischen Ding und Mensch mitgemeint.

Erzeugen kann nur ein Mensch, der mit seinem Tun innerlich verbunden ist. Produzieren dagegen kann auch ein Roboter. Produzieren ist Massenfertigung von beziehungslosen und minderwertigen Produkten. Will man von einem höherwertigen Produkt sprechen, muss man ausdrücklich ‚Qualitätsprodukt‘ sagen. Produkt ist wörtlich, was man zum Markt führt, also zum Verkauf vorführt (lat. ducere: führen; Vorsilbe pro: zu, für, vor). Bei einem Produkt geht es also schon in der Wortherkunft immer um Vermarktung, um Verkauf.

Erzeugnis ist ein Handwerksbegriff, Produkt ist ein Kaufmannsbegriff.

Das korrespondiert mit zwei Mentalitäten. Deutsche und Japaner (mindestens diese) sind geprägt von der Handwerksmentalität, dem Streben nach dem bestmöglichen Erzeugnis, und dem Stolz auf Qualität, auf Werthaltigkeit und Langlebigkeit. Der Preis orientiert sich am Wert, er soll (dem Erzeugnis) gerecht sein. Ist er es nicht, fühlt sich diese Mentalität unwohl, und das in beide Richtungen, ob man nun zuviel oder zuwenig gezahlt hat.
Briten, Amerikaner, Araber und Chinesen (mindestens diese) sind geprägt von Kaufmannsmentalität, dem Streben nach dem besten ‚Deal‘, dem höchsten ‚Profit‘. Qualität ist da nur ein Mittel zum Zweck der Erzielung des höchstmöglichen Preises, und man zahlt als Käufer dem Erzeuger tunlichst nicht den Wert, sondern feilscht erbarmungslos um den Preis – nicht zu feilschen gilt sogar als unhöflich. Wenn das Produkt kurz nach dem Kauf versagt, kümmert das eine Kaufmannsmentalität nicht weiter. Das mag überspitzt klingen, man sehe mir das nach, es geht um das Prinzip dahinter.

Ich beobachte das in 25 Jahren beruflichem Umgang mit diesen Mentalitäten und Ländern aus der Nähe. Beides hat wohl seine Berechtigung, aber die Berechtigung unserer Mentalität will man uns ausreden; das gesamte Geschäftsleben ist heute merkantil dominiert (von lat. mercor: handeln, Handel treiben; lat. dominor: herrschen; dominus: der Herr); also: kaufmännisch beherrscht.

Nach meinem Verständnis des deutschen Wesens – damit ist das Sprachgebiet gemeint, nicht der politische Staat – sind wir ein Volk von stolzen Erzeugern, die nicht ruhen, ehe sie das jeweils Bestmögliche ereicht haben. Die Sprachvermischung, insbesondere die stete Injektion von Anglizismen zur Verdrängung von Wörtern, die unserer Mentalität entsprechen, war mir schon länger ein Dorn im Auge. Heute begreife ich, dass ein Plan dahintersteckt. Wir waren zu gut, man musste uns schlechter machen. Das ist gelungen, aber der Wind dreht nun.

Wir benutzen den Begriff Erzeugen heute beinahe nur noch für ‚landwirtschaftliche Erzeugnisse‘, an deren Erzeugung wir keinen nennenswerten Beitrag leisten, oder konsequent negativ konnotiert, als Erzeugen von Problemen und Katastrophen.

Zeugenschaft

Wer Zeuge ist, Zeugnis ablegt, etwas bezeugen kann, der war dabei. Er war also Teil oder Beobachter des Geschehens. Warum aber nutzt das Deutsche dafür das Wort Zeuge? Dies verweist auf eine tiefere Wahrheit: Der Zeuge hat am Geschehen mitgewirkt, er hat mit‑gezeugt, und nur daher kann er es be‑zeugen. Das ist quantenphysikalische Realität. Du magst nicht der Handelnde sein, der Täter im juristischen Sinne, aber so etwas wie einen neutralen Beobachter gibt es nicht. Zeuge sein ist Zeugenschaft, ist zeugend schaffen, ist Teilhabe.

Diese Bedeutungsebene ging uns im alltäglichen Gebrauch verloren. Es ist nun an der Zeit, sich wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass ein Zeuge aktiv ist, dass unser Bewusstsein, unser Blick, unser Wort Wirkung zeitigt. Immer. Die Macht der Zeugenschaft ist eine wichtige Botschaft für die neue Zeit: wo immer unsere Aufmerksamkeit liegt, verändert sie etwas, nimmt sie Einfluss: sie zeugt.

Preis, preiswert, billig

Preiswert ist ein weißer Schimmel und heute synonym für billig – ein doppelte Wortdegeneration. Denn die alte Bedeutung von Preis ist eben ‚Wert‘ – den Wert einer Sache oder eines Menschen feststellen, ihn/es loben und preisen. Billig bedeutete ursprünglich ‚angemessen‘, passend; heute nur noch geringer Preis, also unter Wert verkauft. Beides wurde ins Gegenteil verdreht.

Die Kunde vs. Information, der Kunde

mhd. künde, ahd. chundî: die Kenntnis, die Bekanntschaft, das Wissen

Bei der Kunde (f.) geht es um eine Kenntnis, ein inneres Wissen, welches im Menschen lebt und von Mensch zu Mensch weitergegeben wird. Kunde ist gebunden an den Menschen, der sie trägt, der sie kündet, kundtut oder verkündet. Kunde wird geschaffen durch persönliche Beobachtung und Nachfrage, durch Erkundigung, Erkundung und Auskundschaften, durch Erfahrung; letztlich durch Vertrautsein mit etwas (auch mit sich selbst); und so kommt es zur alten Nebenbedeutung von ‚Kundschaft‘ als Verwandtschaft, das sind die Menschen, mit denen man am engsten vertraut ist. Kunde ist auch Überlieferung. Kunde wird gegeben und genommen. Immer ist es ein Vorgang von wissendem Mensch zu vertrauendem Mensch, oder von Gott zu Mensch. Das Geben von Kunde ist Kündung, der sie gibt ist Künder. Der Künder steht gerade für die Wahrheit seiner Kunde. Wer die Kunde gierig (siehe Gier), vollständig und verständig aufnimmt, wird selbst zum Künder.

Auch als Adverb ‚kündlich‘ oder ‚kundlich‘ bedeutet es ‚aus eigener Erfahrung‘ sprechen.

von den webern kan ich nit sagen
kuntlich, wan ich hans nit gesehen.
       Konr. v. Ammenhausen

Kunde ohne den selbst wissenden Menschen als Träger, als Künder, ist kaum denkbar; löst sie sich, so wird sie zur Botschaft oder zur ‚fremden Kunde‘, diese aber ist anfällig für Verfälschung. Denn ein Bote hat die Kunde nicht selbst erkundschaftet, sie nicht erlebt, er ist kein Wissender. Ein Bote wird benötigt, wo der Künder nicht selbst anwesend sein kann.

Die beste Kundschaft ist sich selbst erkennen können,
denn frembde Kundschaft ist umzirket mit Gefahr.
       Hofmannswaldau

Die Kunde hat überlebt in zusammengesetzten Inselworten wie Kundschafter, Urteilsverkündung, Kundgebung, sich erkundigen, die ‚Urkunde‘ als zuverlässigste, stark bezeugte Schriftform einer Kunde. Aber im Grunde ging uns mit diesem Wort ein ganzer Bedeutungsraum verloren. Wir können dies in Alltagssprache nurmehr behelfsmäßig umschreiben, mit anderen Worten wie persönliche Mitteilung, persönliche Botschaft, zuverlässige Information, Erfahrungswissen, eigene Kenntnis.

Geblieben sind schwache und verdrehte Formen wie ‑kunde als Bezeichnung für ein Lehrfach an Schulen (Völkerkunde, Erdkunde, Rechtskunde), wobei es eigentlich um eine Lehrmeinung geht, wovon Lehrer lediglich intellektuelle Kenntnis hat, aber selten aus eigener Erfahrung spricht; oder eine falscher Gebrauch wie ‚Kündigung‘, was ja die Aufhebung eines Vertrauensverhältnisses bedeutet; das ursprüngliche Wort war dann auch richtig ‚Aufkündigung‘.

Im alltäglichen Sprachgebrauch wurde die Kunde weitgehend ersetzt durch das Lehnwort Information, kurz Info (von lat. informatio: Belehrung, Unterweisung, Deutung). Hier schwingt eine Hierarchie mit: ein höhergestellter Wissender informiert einen Untergebenen oder Schüler und deutet es ihm zugleich, hat also Deutungshoheit.
Der Information fehlt auch der feste Bezug zum Menschen. Die Information kann für sich stehen, mit beliebigem Träger: ob Mensch, Magnetband, Buch, Festplatte, Datenstrom; die Information ist stets dieselbe, so meint man. Das erzeugt den gefährlichen Eindruck der Objektivität, die ja eine Illusion ist, wie wir in Zeiten der massenhaften Propaganda, Fehlinformation und Desinformation leidvoll erfahren. Kunde kann falsch sein, aber man sieht dem Künder in die Augen, und kann so aus dem eigenen Gespür heraus prüfen: wirkt der Künder wohlwollend, ehrlich, vertrauenswürdig, so wird es auch die Kunde sein. Bei einer medial vermittelten Info fehlt diese Möglichkeit.

Regelmäßiger Austausch von Kunde führt zur Bekanntschaft, so im ahd. mîn chundo, mein Bekannter; mhd. oft verbunden in zusammenfassender Formel „die Fremden und die Kunden“. Diese zweite Bedeutungsebene hat sich bruchstückhaft erhalten, aber reduziert auf geschäftliche Beziehungen. Ein regelmäßiger und somit gut bekannter Käufer wird zum Kunden (m.) des Kaufmanns oder Handwerkers, ein regelmäßiger und somit vertrauter Gast zum Kunden des Wirts.

Heute wird jedoch dieses allmählich sich aneinander gewöhnen und Vertrauen aufbauen sprachlich übersprungen. Jeder Käufer heißt sogleich ‚Kunde‘, jeder unbekannte Facebook-Kontakt heißt ‚Freund‘. Diese Unwahrheit führt zu verzerrter Wahrnehmung und Realitätsverlust. Ein großes Kaufhaus oder gar ein Online-Händler hat keine Kunden. Werden sie dennoch so genant, führt das zu Verwirrung. Wollen wir heute vom Kunden im ursprünglichen Sinne reden, sind wir genötigt, die Beziehung mit Geschäftsfreund oder Stammkunde zu umschreiben.

wirken, Wirklichkeit – real, Realität

Das Lehnwort ‚real‘ (gleichlautend im Englischen) ist eine Verkürzung des lateinischen realis (dinglich, den Gegenstand betreffend) und stammt von lat. res: Ding, Sache, Gegenstand, Besitz, Habe. ‚Real‘ ist also, was man anfassen kann: Dinge, Materie, fester Stoff. Daraus abgeleitet die ‚Realität‘: das Reich der Dinge, die materielle Welt, im Gegensatz zur Welt des Wesenhaften, der Ideen und Gedanken.

Demgegenüber bezeichnet das sehr alte Wort ‚wirken‘ (ahd. wurchen und wirken, mhd. würken (wurken) und wirken) das Bewirken, Hervorbringen, Schaffen, Herstellen, Verfertigen von etwas, und ist nicht auf Dinge beschränkt. Im engeren Sinne meint es bauen (verwandt mit werken), feine schmuckvolle Metallarbeiten wie Gravieren und Goldschmieden, und insbesondere Herstellen von Kleiderstoff, wobei Wirken gleichbedeutend mit Weben sein kann, meist aber einen Stoff aus Maschen meint. Auch Brot knetend mischen (Teig gut durchwirken) oder durch kneten eine Form geben, allgemein Dinge innig miteinander vermischen und so verändern, dass sie zu einem neuen Ganzen werden.

zwar es fehlet mir die Kette,
schön gewirkt von rothem Golde
       Hoffmann von Fallersleben
... sein Flachs und Hanff stehn wol,
daraus er spinnt und wirckt, so viel er haben soll.
       Olearius
Liest sie ein Gedicht?
Wirkt sie zart Gesticke?
       Rückert
So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit,
und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
       Goethe
Die Seele wirkt den aufgedunsnen Stoff
bald in einander, schafft sich Raum, und Licht
und Ordnung kommen wieder.
       Lessing

Diese zwei letzten Beispiele zeigen schön die sinnbildliche Verwendung des Wirkens von Tuch für die gesamte Schöpfung der Natur durch Geist und Seele.

So ist Realität ein kleiner Ausschnitt der größeren Wirklichkeit, die alle Ebenen des Geschaffenen umfasst – das Gewirk/Gewebe des Lebens als Wirkung eines schöpferischen Wollens und Tuns – und die dabei den Aspekt des Verbundenseins, Verwobenseins und Verstricktseins von allem mit allem hervorhebt.

Nachricht

Hier schwingen zwei Nebenbedeutungen mit. Nachricht ist das, wonach ich mich richte, was mir Richtung gibt, also eine „mittheilung zum darnachrichten“ (Grimm). Und Nachricht ist ein Bericht, der nach‑gerichtet wurde, der also einem gewünschten Narrativ angepasst und dafür verfälscht wurde.

Beides trifft auf die Nachrichten der Rundfunkanstalten und Zeitungshäuser in hohem Maße zu.

Das alte Deutsch kennt den Nachrichter (mhd. nâchrihter) als jemand, der sich nach einem Vorbild richtet, aber mit verächtlicher Note, meint also Nachäffer: „den Teuffel nennet er (Luther) unsers Herr Gottes Affen und Nachrichter.“ Eine weitere Bedeutung von Nachrichter ist Scharfrichter (Henker), also derjenige, der das Todesurteil gemäß der Nachricht des Richters vollstreckt.

Und auch das trifft auf propagandistische Nachrichtensendungen zu, die Mitteilung und (Ruf‑)mord zugleich sind – nur ohne fairen Prozess.

Gier

Hören wir ‚Gier‘ dann denken wir an Negatives, sie ist ein Synonym für Habsucht, für Rücksichtslosigkeit, für Gefühlskälte. Die Abwertung dieses Wortes begann vor langer Zeit, als die Kirche die Gier zu einer der sieben Todsünden erklärte.

Neugier und Wissbegier sind zwei Verbindungen, in denen die ursprüngliche Bedeutung klar wird. Nach etwas gieren meint: sich etwas mit ganzem Wesen und ganzer Willenskraft einverleiben wollen, etwas ganz und gar erfahren wollen. Das kann körperlich sein, wie bei Essen und Trinken, wenn jemand sehr hungrig und durstig ist. Es kann sexuell sein. In erster Linie geht es aber um diese Qualität des ganz und gar in-sich-aufnehmen wollens. Gier bringt alle Kräfte unseres Wesens in Wallung und in Anwendung, sie lässt uns zeugen, werden und wachsen. Die Urkraft des unbedenklichen und rückhaltlosen Nehmens, Annehmens und Aufnehmens von etwas, das uns nährt und erfüllt, wovon wir uns Erfüllung versprechen. Wer nach dem Lebendigen, Göttlichen und Ursprünglichen giert wie ein Kind nach der Mutterbrust, mit dieser Unbedingtheit und Offenheit, wird es erreichen und Erfüllung finden.

Ist Hallo ein Gruß?

Das heute allgegenwärtige ‚Hallo‘ ist ursprünglich kein Gruß; eher im Gegenteil. Grimm verzeichnet es als „lauter antreibender Zuruf“ mit Befehlston an Entfernte, um sie herbeizurufen. Es ist verwandt mit ‚holen‘ über ahd. halôn, holôn, also zusammengenommen: herbeiholen durch anrufen. Auch als Hetzruf bei der Jagd.
Eine zweite Bedeutung ist ein Ausruf der Erregung, freudiger oder zorniger: halloh! Wach auf! Aber hallo!
Eine dritte Bedeutung des Hallo als Substantiv ist erregtes Getümmel, Geschrei, Lärm: ein großes Hallo erheben.

Desweiteren ist Hallo auch verwandt mit Hall, Halle, Höhle, Hölle, Holle. Frau Holle ist unsere alte Erdgöttin, ihr Sitz sind die hallenden Höhlen, die den Zugang zur innerirdischen Anderwelt bilden. In diesem Zusammenhang ist das Hallo eine Anrufung verborgener höherer Mächte. Die Christianisierung hat aus dieser Innenwelt der Erde dann die Hölle gemacht (die bewährte 180° Verdrehung, der wir noch öfter begegenen werden), die Verehrung der heidnischen Frau Holle wurde tabuisiert, der Öffentlichkeit das Betreten der Höhlen und unterirdischen Gänge untersagt oder unmöglich gemacht.

Somit ist ein Hallo wenig geeignet als freundliche Begrüßung eines Gegenübers im Nahbereich. Es mag passen als Anrufung und Zusammenrufung eines großen und/oder unsichtbaren entfernten Publikums.

kriegen, Krieger, Krieg

Die ursprüngliche Bedeutung von ‚kriegen‘ (mhd. krîgen, kreic) oder ‚etwas erkriegen‘ ist: sich anstrengen, angestrengt arbeiten, streben, ringen, heftig trachten, körperlich wie geistig, um etwas zu erreichen. Im Gegensatz zu bekommen, wo einem etwas gegeben wird und man es lediglich annimmt, setzt kriegen aktiven Einsatz voraus, und zuvorderst Willenseinsatz. „Kriegen fällt im Begriffe wesentlich mit Wille zusammen“ (Grimm) und beinhaltet ein Ziel, wohin man seinem Wesen nach strebt.

Aufwärts kriegen ist eine alte Umschreibung für steigen und klettern. Dies ist das Urbild von kriegen: nach oben streben, hoch steigen, gegen die Schwerkraft; körperlich wie auch sinnbildlich.

Kriegen war also ursprünglich ein alltägliches und unschuldiges Wort für den Zustand, in dem man sich für etwas einsetzt und anstrengt. Dabei geht es um Überwindung gewisser Widerstände, und zuerst um Selbstüberwindung der eigenen Bequemlichkeit. Neudeutsch würden wir vielleicht sagen: den Hintern hochbekommen für etwas.

Ein Mensch mit ausgeprägter kriegerischer Energie, ein Kriegertyp also, setzt ohne Schonung alles ein, was er hat und kann, wo nötig auch sein Leben, um für sich und die Seinen etwas zu erreichen.

Streiten und kämpfen war eher eine Nebenbedeutung, die daraus entsteht, dass einem beim erkriegen von Land, Bodenschätzen, Ressourcen meist andere Menschen im Weg stehen, die dasselbe erkriegen oder verteidigen wollen, woraus ein Handgemenge entsteht, in dem man sich bekriegt und schließlich einer den anderen überkriegt. Allmählich wurde diese Bedeutung wichtiger und der Gedanke trat in den Vordergrund, dass kriegen bedeutet, anderen mit Gewalt und ohne Rücksicht etwas wegzunehmen. Krieg im heutigen Sinn bedeutet gewaltsam und schonungslos erobern, meist zugunsten eines Herrschers, der dies befiehlt, und der Krieger wurde erst zum Kämpfer und dann zum Soldaten; zum Kämpfer für Sold. Aber das Wort kriegen existierte lange, bevor es so etwas wie Kriege gab, und es ist im Urprung nichts Negatives.

Wir sehen die bekannten zwei Methoden am Werk: Verengung auf die negative Bedeutung, Verknüpfung mit einem bedrohlichen und gefährlichen Geschehen, und Abwerten des ursprünglichen unschuldigen Wortgebrauchs, denn „kriegen“ als Verb gilt heute als vulgär, nicht als Hochsprache.

Was macht das mit uns? Es schwächt den Willen. Es entwöhnt uns der Idee, eigenverantwortlich und mit vollem Einsatz – aber gewaltlos – nach dem zu kriegen, was uns wichtig ist, wonach wir unserem Wesen nach streben.

Gestalt, Form, Kopie

Die Gestalt ist ein wichtiges ahd. Stammwort mit großem Bedeutungsraum: Beschaffenheit, Form, Figur, Eigenart, So-Sein, Zustand, Lage, Weise, Art, Bewandtnis, Eigenschaft, Natur, Bildung, Aussehen, (Gesichts-) Ausdruck, Ergebnis…

Darumb kan sein (Mosis) Gesetze auch bei uns nicht in allen Stücken rund und völlig gelten, denn wir müssen unsers Lands Gestalt und Wesen ansehen.
       Luther
Mancherlei plaudernd im Gehn von des Wetters Gestalt.
       Kosegarten
Die Gestalt der Dinge, Sir, hat sich indesz verändert.
       Schiller (Maria Stuart)
Ich litt und liebte, das war die eigentliche Gestalt meines Herzens.
       Goethe
(ich habe) solcher gstalt gehandelt mit ir,
dasz sie nit mehr kommet zu mir.
       H. Sachs

Wir verwenden das Hauptwort heute kaum noch und meist abschätzig, angelehnt an den sprichwörtlich gewordenen Vers:

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten
       Goethe (Faust)

Also etwa „Guck mal, die zwei Gestalten da!“ – sowie als Bezeichnung einer psycho­therapeutischen Schule aus den USA, der Gestalttherapie.

Hauptbedeutung ist das, was wir heute fast ausschließlich mit Form bezeichnen: die äußere Beschaffenheit. Das Wort Form scheint uns selbstverständlich und fast wie ein Stammwort, denn es ist ein sehr altes Lehnwort, schon seit dem Mittelalter gebräuchlich. Seine lateinische Herkunft kann man daran spüren, dass es keine Obertöne hat und sich nicht gut zum Dichten eignet, oder wie Grimm sagt: „auch die mhd. Dichter der guten Zeit enthalten sich des für den Reim untaugenden Fremdlings“. Ein weiteres Indiz: Luther verwendet es in der Bibel nur an einer einzigen Stelle.

Das lateinische forma leitet sich ab von ferre: tragen, mit sich tragen, „weil die Gestalt das an sich und mit sich getragene ist.“ (Grimm)

Zwar kann Form mit Gestalt wechselseitig übersetzt werden, doch sind sie alles andere als gleichbedeutend. Beim Hineinspüren in beide Wörter finde ich ein ähnliches Verhältnis wie oben zwischen Produkt und Erzeugnis. Stellen wir sie gegenüber und schauen auf Empfinden und Gebrauch.

Eine Gestalt wurde gestaltet, wurde aktiv und absichtsvoll geschaffen. In ‚Gestalt‘ ist das Gestalten und damit der Gestalter selbst deutlich spürbar. Sogar in „des Wetters Gestalt“ spricht die gestaltende Kraft von Wind und Sonne, als Wesenheiten gedacht. Dagegen klingt ‚Form‘ passiv und leblos. Einen „Former“ gibt es nicht. Form ist einfach, fixiert, wie der Zeit enthoben. Zwar kann man formen und umformen, das beschreibt jedoch eine Krafteinwirkung von außen. Umformen zerstört die vorherige Form. Gestalt dagegen ist aus sich selbst heraus wandelbar, kann sich verändertem Inhalt anpassen.

Die Gestalt schmiegt sich dem Inhalt an wie eine Haut. Die Form dagegen ist etwas Starres, was man lediglich mit sich herumträgt – ein Verhältnis wie zwischen Gesicht und Maske.

Das Gestalten als Tätigkeit, im heutigen Gebrauch verengt auf den künstlerischen Bereich, umfasst nicht nur die äußere Formgebung, sondern auch deren innere Voraussetzung, den Wunsch, dass eine Idee eine bestimmte Gestalt annehmen möge, herausgebildet sein möge, um es sich und anderen sichtbar zu machen und zu vermitteln. Gestalten kann man auch sein Gemüt, seine Sprache, seinen Charakter, sein Herz, sein Schicksal.

Den Zufall giebt die Vorsehung, zum Zwecke
musz ihn der Mensch gestalten.
       Schiller (Don Carlos)
Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
da kann sich kein Gebild gestalten.
       Schiller (Die Glocke)
Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet
       Goethe

Hier ist zu spüren, dass wir in einer Gestalt immer Sinn und Absicht vermuten dürfen, dass sie etwas Gewolltes und Gestaltetes ist, Ergebnis eines Schöpfungsaktes, Ausdruck von Seelischem, lebendig oder Ausdruck von Leben. Form dagegen ist bloß da, ist irgendwie geworden, kann auch Zufall sein, ist von außen aufgeprägt, verändert sich nicht von selbst.

Die Gestalt weist auf Potenzial und Essenz eines Wesens, das sich wachsend zum äußeren Ausdruck bringt. Zwar kann man einen Charakter oder Wesen auch formen, aber in dieser Geste ist zu spüren eine autoritäre Pädagogik, der die Essenz gleichgültig ist, die den Menschen in eine vorgegebene Form pressen will. Ähnlich gehen wir mit unserem Körper um, wenn wir uns in Form bringen wollen, d.h. einer äußerlichen Idealvorstellung von Körperbild entsprechen passend (engl. fit) machen wollen, wo es unseren Vorfahren noch um Leibesertüchtigung ging.

Original und Kopie

Bevorzugter Gebrauch von ‚Form‘ gegenüber ‚Gestalt‘ zeigt die Abkehr von Einmaligkeit und Lebendigkeit an, und den Übergang zu einer materialistischen Weltanschauung. In der Natur gibt es kein Wesen und keine Gestalt zweimal; so ähnlich sie auch erscheinen mögen, alle lebenden Gestalten und alle handwerklichen Erzeugnisse sind einmalig. Formen dagegen lassen sich vervielfältigen, kopieren. Nicht umsonst sagen wir „Vielgestaltigkeit“  und „Einförmigkeit“. Eine gestaltete Urform, das Original (von lat. origo: Ursprung, Herkunft, Ahnherr) oder Matrize (Mutterform, von frz. matrice: Gussform, von lat. matrix: Muttertier, Gebärmutter) kann man vielfach abformen oder einprägen, wie wir alle bereits im Sandkasten mit Förmchen erprobt haben. Beim Abformen ist Formtreue das Ziel. Abweichung vom Original wird als Fehler, als Mangel betrachtet.

Form ist kopierbar, vielfache Kopie bringt wortwörtlich Wohlstand: Das lateinische copia bedeutet Menge, Fülle im Sinne des Besitzes einer großen Menge gleicher Dinge; sei es Getreide, Geldmünzen oder eine Heerschar. Copia meint Fülle in dem Sinne, dass man mehr Mittel besitzt, als man braucht, so dass man davon abgeben oder Vorrat anlegen kann. Münzen waren wohl die ersten Gegenstände, die in großer Menge abgeformt, eben kopiert wurden, durch Guss und Prägung. Herstellung und Anhäufung einer großen Menge solcher Münz-Kopien bedeutet Wohlstand,Vermögen und Macht als weitere Bedeutungen von copia. Somit ist Kopieren auch sprachlich Grundlage und Kennzeichen der (industriellen) Massenproduktion und des daraus resultierenden materiellen Wohlstands.

Wir finden schon hier, in der Denk- und Sprechweise Roms, die materialistische Definition von Fülle und Wohlstand als Anhäufung von Besitz und Geld weit über den Bedarf hinaus – passend zu einem Imperium, das sich auf militärische Raubzüge und Abpressen von Steuern im ganz großen Stil gründete und eben darin leider zum Vorbild der europäischen Adelshäuser wurde.

Für das Gestalten einer Form, die als Kopiervorlage zur Vervielfältigung und Produktion bestimmt ist, hat sich als Neusprech international das engl. Design eingebürgert (von lat. designo: einrichten, anordnen, umreißen, nachbilden), davon abgeleitet designen als Verb. Aus dem Gestalter wurde der Designer, eine sprachlich aufgewerteter Formenmacher. Für die technisch-planerische Durchgestaltung jenseits der äußeren Form gebrauchen wir im Deutschen zusätzlich konstruieren (von lat. construo: aufschichten, erbauen, errichten; dies wiederum aus con: mit/zu, und struo: legen, schichten) und die Konstruktion (lat. constructio: Bau, Zusammenfügung, Verbindung).

Kollektiv und Form

Der Hang zur Form, zum Formellen, zur Konformität kennzeichnet auch alle Kollektive (von lat. colligo: verbinden, zusammenbinden, zusammenfassen; dies wiederum aus con: mit/zu, und lego: sammeln, lesen, aufwickeln), ebenso das Brechen der Einzigartigkeit und die Bestrafung für das Abweichen von der vorgegebenen Form. Am extremsten kennen wir das vom Militär mit seinem Ideal der Einförmigkeit, der äußeren Uni-Form (lat. unus: ein, einer) und der Verhaltensangleichung durch den Drill. Das Individuelle soll verschwinden, die unverwechselbare Gestalt des Einzelnen soll völlig aufgehen in einer Masse gleichartiger, gleich reagierender Soldaten ohne erkennbare Eigenheiten, am liebsten nach Größe sortiert.

Auch der religiöse Ritus neigt zum Förmlichen, zu Uniform (Kutte, Habit, Talar) und Verhaltensdrill, ebenso Beamtenschaft und Staatsapparat mit ihren unzähligen Formblättern und Formalien. Und selbstverständlich gilt für alle, die in einer Gesellschaft etwas gelten wollen: die Form muss gewahrt bleiben, auch die Umgangsform.

Ostasien legt traditionell gesamtgesellschaftlich großen Wert auf Kollektiv und Konformität, die Unterordnung des Einzelnen in die Großgruppe (ein japanisches Sprichwort besagt: „The nail that sticks up gets hammered down“, also „der Nagel, der hervorsteht, wird eingeschlagen“, will sagen: sich von anderen zu unterscheiden, ist gefährlich) sowie das Lernen durch möglichst vollkommene Nachahmung eines Vorbilds und Einhaltung der gegebenen Form. Die ostasiatischen Kampfkünste basieren auf der „Form“ (im japanischen Budō die Kata nach dem japanischen Wort für Form), das sind komplexe Bewegungsfolgen ohne Gegner, die der Anfänger durch kopieren erlernen muss, zunächst fehlerfrei, dann formvollendet.[1] Ebenso bei Qi Gong oder Tai Chi – ein traditioneller Lehrer wird die Form nicht erklären, sondern lediglich vorführen und die Schüler in der Ausführung korrigieren. Als Europäer möchten wir gern wissen, wie und warum die Gestalt entstand, die dann zur Form wurde.[2] Ein ostasiatischer Schüler hinterfragt nicht, und sein Lehrer hätte kein Verständnis für die Frage. Die Form wird einfach so oft und so vollkommen wiederholt, bis von selbst etwas geschieht: die Form füllt sich mit Leben. Das ist der Ausweg, das Entwicklungsziel auf diesem Weg der Form: indem ich eine „Form mit Leben fülle“, führe ich sie zurück zur lebendigen Gestalt und erfahre deren gestaltende Kraft in mir. So wird die Form transzendiert (lat. transcendo = hinüberschreiten), sie wird:

Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
       Goethe (Urworte. Orphisch.)

Erinnern wir uns: Grimm bezeichnete das Wort ‚Form‘ als Fremdling, Luther mied es. Die geistige Gestaltung galt über Jahrhunderte als die eigentliche herausragende Stärke der Deutschen. Den Hang zu Konformität und Formalismus verdanken wir eher Militär und Bürokratie des späten Preußen und des Wilhelminischen Kaiserreichs als dem Deutschtum. Heutige deutsche Sprecher gebrauchen weit überwiegend ‚Form‘ und meiden ‚Gestalt‘. Dies zeigt in meinen Augen eine seelische Verarmung und Schwächung an. Rückbesinnung auf Gestalt und Gestaltung ist angebracht, um unsere Gestaltungsfähigkeit wiederzugewinnen.

[1] Obwohl das frühe Preußen das soldatische Exerzieren und den Kasernenhof-Drill bis zum Äußersten trieb, waren sich manche preußische Offiziere in Kriegszeiten (so auch der Oberkommandierende Prinz Heinrich) mit heutigen Meistern des echten Zweikampfes in einem einig: übertreibt man den Drill bei Soldaten und drillt sie auf Konformität von Bewegung und Verhalten, dann wird ihre Unselbständigkeit zum Problem, sie taugen mehr für Paraden in Friedenszeiten als für den Krieg. Ebenso taugt formvollendete asiatische Kampfkunst nur für den Wettbewerb, jedoch nicht für einen echten Kampf ohne Regeln und Ringrichter. In der Schlacht und im Zweikampf benötigt man neben geübten Fertigkeiten vor allem Verständnis, Willen, Mut, Herz, richtige Einschätzung der Lage, Eigeninitiative, kurz: die individuelle Gestalt des Kriegers. Mit Gehorsam und Formvollendung gewinnt man keinen Krieg; den Straßenkampf gewinnt eher der Boxer als der Budō-Schwarzgurt.
Quellen hierzu:
Christian Graf von Krockow: Die preußischen Brüder.
Geoff Thompson: Die Tür – Erfahrungen eines Rausschmeißers.
Keith R. Kernspecht: Vom Zweikampf

[2] Viktor Schauberger hat dieses europäische Vorgehen in seinen berühmten Spruch gegossen: Erst kapieren, dann kopieren. Beim Ostasiaten läuft es andersherum.

Interesse – Anteilnahme

Das lateinische Interesse stammt ursprünglich aus der juristisch-wirtschaftlichen Fachsprache und meint einen Anteil am Vermögen eines anderen, auf den ich Anspruch erhebe. So wird es heute noch im Wirtschaftsenglisch gebraucht: engl. interest bedeutet Zins.

die interesse musz so hoch als möglich steigen,
der arme schuldener musz nolens volens schweigen.
        Marforio (Der Wucherer)

Daraus erwuchs die allgemeinere Verwendung von Interesse als Schaden oder Vorteil (je nach Blickrichtung), denn Interesse meint juristisch den entstandenen Schaden oder entgangenen Nutzen, also den Wert eines Streitgegenstands, an dem sich meist auch die Bezahlung des Juristen bemisst, der in unserem Interesse handelt, unsere Interessen vertritt.

Interesse setzt sich zusammen aus inter: inmitten, zwischen, unter; und esse: sein. Wörtlich bedeutet es also „dazwischen-sein“ oder „inmitten-sein“.

In der ursprünglichen Bedeutung habe ich meine Finger in den (Geld-) Angelegenheiten eines anderen, ich habe Ansprüche gegen ihn. Das Wort Interesse hatte stets den Beigeschmack von Unredlichkeit, von Gewinnsucht und Eigennutz, Nehmen soviel als ich kann. Ein deutsches Gegenstück ohne diesen Beigeschmack wäre Anteilnahme, denn ich nehme mir einen Teil dessen, was derjenige erwirtschaftet – einen Teil, der mir ja durchaus redlich zustehen kann. So sprechen wir ja kaufmännisch auch von einem Anteilseigener, einem Geschäftsanteil, einem Teilhaber.

Wenn ein Junggeselle ein Mädchen ‚interessant‘ fand, meinte er damit nicht ihre inneren Werte oder ihr schönes Antlitz, sondern brachte zum Ausdruck, dass er sie für eine ‚gute Partie‘ hielt, die ihm Nutzen bringen konnte. Der ‚Interessent‘ bewirbt sich um Eigentum, nicht um das Herz. So bezeichnet ‚Interessent‘ auch heute noch den potenziellen Käufer.

Im heute üblichen Sprachgebrauch meint Interesse zwar eher eine geistige Anteilnahme, eine innere Beteiligung, den Reiz einer Sache. Aber weiterhin klingt sprachlich mit, dass es um den Nutzen geht, den mir mein Interesse einbringen kann, und ich somit nicht am Ganzen interessiert bin, sondern nur am (nützlichen) Teil.

Man kann es neutraler auffassen als „ich bin inmitten dieses Gegenstands“ mit meinem Geist, ich begebe mich hinein. Wer mittendrin steht, kann jedoch das Ganze in seiner Gestalt nicht erfassen. Gehe ich dazwischen, dann spalte und teile ich, mische mich ein und verändere den Gegenstand bereits. Daher ordne ich Interesse eher dem analytischen Verstand zu (von griech. Ανάλυση Auflösung), der die Verbindung der Bestandteile auflöst, den Gegenstand auftrennt und zerlegt, also das Ganze zerstört, um es vermeintlich besser zu verstehen. Diese Analyse als aktive Zerlegung kennzeichnet die wissenschaftliche Methode. Man betrachtet Stücke und verkennt nur allzu leicht deren Zusammenhänge, zumal das Ganze mehr ist als die Summe der Stücke.

Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser Weissagen.
        Luther (1. Korinther 13:9)

Das Gegenstück dazu – ein ganzheitliches Erfassen ohne Zerteilung – wäre Betrachtung, Schau, Einfühlung, Annahme, Erkennen. Diese Geste ist eher passiv einhüllend, auf die gesamte Gestalt gerichtet: ich schaue aufmerksam, was sich offenbaren will, ich nehme es in mich auf.

Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
        Luther (1. Korinther 13:12)

Erkennen im hebräisch-biblischen Sprachgebrauch ist innigstes Vertrautsein.

Statt also zu sagen „das interessiert mich“ könnte man sagen: Das ist bemerkenswert, das bewegt mich, daran nehme ich Anteil, das liegt mir am Herzen, das reizt mich, das macht mich neugierig, darin möchte ich Einsicht bekommen, darum möchte ich mich kümmern, das möchte ich anschauen, es aufnehmen, es erfassen, es kennenlernen, damit vertraut werden, es erkennen.

Munt – mündig – Mündel

Diese Worte gehen zurück auf ahd. mhd. die Munt (f) oder Mund; dies wiederum von germanisch: mundō (Hand, Schutz). Munt, auch Muntgewalt, bedeutet (Rechts)schutz, Schirm, Vormundschaft und ist ein zentraler Begriff im Personenrecht des Mittelalters. Sie bezeichnet die „Gewalt eines Muntherrn über einen spezifischen Personenkreis der Hausgemeinschaft“ [wiki]

Mundich oder mündig sein bedeutet Gewalt haben, selbst walten dürfen, sich selbst vertreten können, aber auch vernünftig, bei Verstande, bevollmächtigt sein: für sich selbst sprechen können und dürfen, zugleich voll verantwortlich sein für sich. Ursprünglich beinhaltete Mündigkeit auch Waffenfähigkeit, d.h. sich selbst schützen können.

Mündig sei, wer spricht vor allen; wird ers nie, so sprech er nie.
        Platen
Die weise Natur setzte den moralischen Instinkt dem Menschen zum Vormund, bis die helle Einsicht ihn mündig macht.
        Schiller
der Ausbund eines schönen Katers,
den Muth und Alter mündig sprach.
        Lichtwer
Wer schon so früh der Täuschung schwere Kunst
ausübte, der ist mündig vor der Zeit,
und er verkürzt sich seine Prüfungsjahre
        Schiller (Maria Stuart)

Der Mundling oder Mündel ist ein Schutzbefohlener (beiderlei Geschlechts), ein Unmündiger. Dies meint einen Menschen, der durch Alter oder Stellung nicht voll rechtsfähig ist, und somit auf Schutz und Vertretung durch das Familienoberhaupt (früher der Hausvater, heute die Erziehungsberechtigten) oder (sofern nicht verwandt) den Vormund angewiesen sind. Wenn Kinder in die mündigen Jahre kommen, endet die Munt der Eltern oder des Vormunds.

Sehen Sie, Sie prassen
von Ihres Mündels anvertrautem Gut.
        Schiller (Don Carlos)

Söhne wurden selbstmündig bei Gründung eines eigenen Hausstandes. Töchter verließen die Munt des Vaters bei der Verheiratung und traten dann in die Munt des Gatten ein. Wir erinnern uns, in Europa wurden Frauen erst im 19. Jahrhundert überhaupt rechtsfähig, teils durften sie noch in der zweiten Hälfte des 20. Jhd. gegen den Willen ihres Ehemannes oder Familienoberhaupts weder rechtsgültige Entscheidungen treffen noch eigenständig Verträge abschließen. Sie blieben rechtlich stets einem Manne untergeordnet, sofern sie nicht alleinstehend lebten (als Witwe oder ‚alte Jungfer‘), was ein hartes Brot war.

Wenn einem Erwachsenen seine Mündigkeit ganz oder teilweise entzogen wurde aufgrund Geistesschwäche, Verbrechen oder Unzurechnungsfähigkeit, wurde er zum Mündel eines Vormunds – er wurde entmündigt, für mundtot erklärt.[1]

Entmündigung scheint uns modernen Menschen würdelos, demütigend. Doch leben die Deutschen nach dem 2. Weltkrieg in einem dauerhaften Zustand der Entmündigung durch die alliierte Besatzung und sind seit 1990 weiterhin faktisch ein Mündel der USA. Deutschland ist seit 1945 außenpolitisch und innenpolitisch nur eingeschränkt ‚souverän‘ (von frz. souverain für entscheidungsbefugt, herrschend), was das politische Gegenstück zur Mündigkeit ist. Auch im persönlichen Bereich greift in vielen Staaten seit einigen Jahren die allgemeine Entmündigung der Bürger durch den Staat um sich, während zugleich „der mündige Bürger“ weiterhin floskelhaft als demokratisches Ideal gepriesen wird.

Vielleicht damit uns dieser Zustand der Entmündigung weniger zu Bewusstsein kommt, wurde er sprachlich verschleiert, indem man fast alle Ableitungen von Munt fallenließ. Die Munt und alle daraus abgeleiteten Worte wurden aus dem Bestand unserer Sprache verdrängt. Statt Mündigkeit sagen wir „Erwachsenwerden“. Die Idee, dass Eltern die Munt über ihre Kinder haben, was sowohl die Vollmacht der Entscheidung wie auch die Pflicht zu ihrem Schirm und Schutz beinhaltet, wird zusehends ausgehöhlt durch die staatlich angeordnete Betreuung in der Schule (ein Verbot von Hausunterricht durch Anwesenheitspflicht im Schulgebäude gibt es nur in Deutschland und Nordkorea), durch frühes Abgeben der Kinder in Krippen und Kindergärten und durch eine staatliche Übergriffigkeit in die Familie hinein, die sich bis zur Entmündigung der Eltern in medizinischen Angelegenheiten steigerte.

Wir verwenden diese Worte heute nur noch in wenigen Inseln: z.B. bei der Strafmündigkeit und bei einer richterlich angeordneten Vormundschaft für ein Kind ohne mündige Eltern.

Bemerkenswert ist nun, dass stattdessen ein Fremdwort umfassend eingeführt wurde, das die gleiche Bedeutung wie Mündel hat! Nämlich:

Der Klient

Die Wurzel von Klient stellt die Verhältnisse unmissverständlich klar: lat. cliento: abhängig machen, und daraus cliens: „Höriger, Schützling, unfreier Abhängiger; der zu Dienstleistungen verpflichtete, halbfreie Abhängige einer patrizischen Familie, die ihm in einer Notlage half und ihn vor Gericht schützte.“ Dieser Schutz wurde gewährt vom patronus (Schutzherr, Schirmherr, Patron) und der war dazu verpflichtet; die Beziehung beruhte also auf Gegenseitigkeit, aber nicht auf Freiwilligkeit.

Hintergrund ist, dass im römischen Recht bis ca. 400 v. Chr. nur der Patron einer Patrizier-Familie rechtsfähig war, also nur das (männliche) Familienoberhaupt. Sein Gefolge war nicht rechtsmündig, es konnte also seine Interessen nicht selbst wahrnehmen, sondern der Patron hatte seine Familie und sein Gesinde vor Gericht zu vertreten. Ab etwa 400 v. Chr. wurde das (männliche) Gefolge rechtsfähig, behielt aber die untergeordnete Stellung gegenüber dem Patron. In diesem Sinne weitete sich die Bedeutung von Klient aus auf Vasall, Dienstmann, Gefolgsmann, Lehnsmann; und der Schutz des Patrons war nicht mehr selbstverständlich, sondern musste erworben werden.

Einen wesentlichen Unterschied scheint es zu geben: bei der germanischen Munt wurden zumindest die Männer der Familie von allein mündig; mündige Männer konnten die Muntgewalt des Muntherrn verlassen. Beim römischen Klienten war das nicht vorgesehen, sondern der Klient war und blieb Leibeigener des Patron, sofern er nicht freigelassen wurde.

Diese Rechtsauffassung des römischen Rechts verbreitete sich mit dem römischen Imperium und dem aufkommenden Erbadel in Europa, wobei sich beides überlagerte: die Munt im Rahmen der Familie, das Verhältnis von Klient und Patron zwischen Volk und Feudalherren. (Wer hierzu mehr weiß, bitte gern kommentieren)

Da Kultur und Sprache des höheren Adels stark geprägt waren vom Vorbild des französischen Königshofes, sind dort die französischen Wörter geläufig: frz. Client(e) bezeichnete eine abhängige Stellung im Gefolge eines adeligen Feudalherren (frz. Souverain, engl. Sovereign), dessen Gunst und Schutz man sich durch Dienstleistung und Gefälligkeit verdienen und erhalten musste. Umgekehrt stiegen politisches Ansehen und Macht des Adeligen mit der Größe seiner Clientèle, also der Zahl von Abhängigen oder Anhängern, die dem Souverain zu Treue und Dienst verpflichtet waren bis hin zum Kriegsdienst. Oberster Souverän war der König.

Mit der allmählichen Schwächung und Entmachtung des Adels, die in Frankreich begann, ergab sich auch eine Bedeutungsverschiebung und Übertragung der Worte auf bürgerliche Verhältnisse. Fortan waren die Mächtigen nur noch bedingt souverän, sie mussten als Politiker um ihre Klientel buhlen und sie zufrieden stellen, also Klientelpolitik betreiben, denn sonst wandte diese sich ab. Die demokratische Theorie hat sogar das Gedankenkunststück versucht, das breite Volk zur Klientel und zugleich zum obersten Souverän der Politiker zu erklären. In der Praxis hat das jedoch noch nie funktioniert, wie die unzähligen Verstöße und Verschwörungen der Mächtigen gegen Wille und Wohl der Wähler eindrucksvoll belegen. In den parlamentarisch-repräsentativen Demokratien (frz. parle reden, parlementer verhandeln; lat. repraesento nachahmen, vergegenwärtigen, verwirklichen; griech. δημοκρατία Volksherrschaft von griech. δήμος Stadtverwaltung, also eigentlich Verwaltungsherrschaft!) haben wir Sprachverwirrung und Doppelbödigkeit der Machtverhältnisse. Tatsächlich gibt es keinen Souverän, das Volk hat nichts Wesentliches zu sagen, im Parlament wird nichts verhandelt; die Politiker sind bloße Schausteller und Verwalter auf Zeit im Auftrag ihrer Klientel, und die wahre Klientel aller Regierungspolitiker waren stets Hochfinanz, Konzernchefs und Oligarchen.

Im Französischen wird Client heute sehr breit für jede Art Käufer- und Kundenverhältnis verwendet. Es suggeriert eine Freiwilligkeit, Gleichstellung und Freiheit, die jedoch in der Wortgeschichte nicht zu finden ist.

Das Englische unterscheidet noch zwischen client und customer, wobei customereher für den Käufer einer Ware steht und eine ähnliche Idee beinhaltet wie der Kunde (siehe dort): engl. custom ist Gewohnheit und Brauch, das Vertrauensverhältnis durch Wiederkehr.

Heute verwenden wir im Deutschen Klient ähnlich wie das Englische den Client. Es hat sich eingebürgert für den Auftraggeber eines Rechtsbeistands oder Steuerberaters, den Käufer höherwertiger Dienstleistungen, für den Empfänger von bezahltem Beistand oder Beratung aller Art, sogar bei Heilkundigen und Pflegern.

Die erste Verwendung im Deutschen war noch eng gefasst: Klient ist, wer seine rechtlichen oder finanziellen  Interessen (siehe dort) von einem Juristen oder Steuerberater vertreten lässt. Mit Aufkommen eines freien Bürgertums und freier Gerichtbarkeit – zuvor war ja der herrschende Fürst zugleich oberster Gerichtsherr – übertrug sich zugleich Vertretungsrolle des Muntherrn oder Patron vor Gericht auf den bezahlten Rechtsgelehrten. Unser bürgerliches Rechts- und Finanzsystem ist darauf angelegt, uns zu entmündigen, da es so ungeheuer verkompliziert wurde, dass ein juristischer Laie im Grunde keine Möglichkeit hat, erfolgreich vor Gericht oder dem Staat gegenüber seine Interessen zu vertreten. Man braucht zwingend den Beistand eines Fachmanns. Man gewährt uns eine Illusion von Freiheit, indem wir uns die Person des Fachmanns meist (nicht immer) wählen können, aber sowie wir ein Mandaterteilt haben, sind wir in dessen Hand gegeben (lat. manus: Hand, dare: geben, daraus mando: übergeben, überlassen, anvertrauen).

In der modernen Gesellschaft ist nun Klient zwar anscheinend entkoppelt vom Mündel und entlastet vom patriarchalen Kontext. Jedoch lassen sich Worte nicht wirklich von ihrer Geschichte befreien. Bei Klient schwingt Unmündigkeit, Unterordnung, Abhängigkeit, auf jeden Fall aber Machtgefälle und Bedürftigkeit mit. Der inflationäre Gebrauch dieses Fremdwortes färbt Geschäftsbeziehungen auf eine ungute Weise. Da Klient aber – anders als Mündel– ein Fremdwort ist, bleibt dies unserem Bewusstsein verschleiert.

Was könnte man stattdessen nehmen? Nun, das wäre der Kunde (siehe dort) im ursprünglichen Sinne, als wiederkehrender Auftraggeber in einer langfristigen, vertrauten Beziehung. Ein Kunde ist gleichgestellt und mündig. Ein Klient ist untergeordnet und unmündig.

[1] Seit 1992 kann ein Erwachsener nicht mehr entmündigt werden, sondern nur Betreuung angeordnet werden.

Walten

Walten meint im Kern: bestimmend eingreifen, um eine Ordnung aufrecht zu halten oder willentlich zu stiften. Dazu benötigt man Einfluss und Berechtigung. Die Berechtigung ergibt sich aus Stellung, Zuständigkeit und Verantwortung. Wer eine Ordnung schafft, hat auch die Verantwortung, sie zu wahren – das ist walten.

Der Einfluss ergibt sich aus den verfügbaren Mitteln. Man kann mit Gütern, mit seiner Erbschaft walten (als Steigerung: schalten und walten), kann Sorgfalt, Vorsicht und Klugheit walten lassen, aber auch den starken Arm und die Waffen. Zum guten Walten gehören stets Klarheit, Wille und Kraft. Ein Verworrener, Willenloser oder Ohnmächtiger kann nicht walten, er würde nicht ernst genommen.

Sofern es um gute, lebensfördernden Ordnung geht – auch das Leben an und für sich ist eine Ordnung –, haben wir die Bedeutung von Beschützen, Sorgen, Kümmern, für etwas eintreten, sich jemandes annehmen.

Zum Aufrechthalten einer komplexen menschengemachten Ordnung gehören Regeln und Bestimmungen, Wiederholung und gewohnte Formen, wir sind beim Verwalten und beim Walten eines Amtes.

Wo Widerstände zu überwinden sind, die sich der Ordnung entgegenstellen, kommt der Aspekt von Kraft und Macht hinzu, wir sind bei Herrschaft und Beherrschen, beim Regieren, bei Gewalt (dazu später mehr). Bei körperlicher Durchsetzung wird Walten zu Überwältigen.

In der höchsten Ordnung, im großen Ganzen waltet Gott – „das walte Gott!“ war früher eine gebräuchliche Bekräftigung. „Die Waltenden“ sind die Götter.

Er, der mich schuf, er walte über mich!
        Kleist
Des Herren Kraft hat wollen ob mir walten,
weil ich gerecht, und reine Hand behalten.
        Opitz
Erstorben ist im Herzen eigner Wille,
Entscheidung hoffst du dir vom Waltenden.
        Goethe

In Staat und Regierung walten Herrscher und deren (Ver-)Walter.

Ihr seyd ein mächtiger Graf, bekannt
durch ritterlich Walten im Schweizerland.
        Schiller: Graf v. Habsburg
Wagt es Herr! Euer Walten hat ein Ende, der Tyrann
des Landes (euer Herr) ist gefallen.
        Schiller: Wilhelm Tell

In Familie und Haushalt sorgen die Eltern für den Erhalt der Ordnung. Traditionell waltete die Mutter eher „drinnen“, während der Vater die Munt hatte (siehe dort), somit die Familie eher nach außen vertrat und schützte.

Und drinnen waltet
Die züchtige Hausfrau,
Die Mutter der Kinder,
Und herrschet weise
Im häuslichen Kreise,
Und lehret die Mädchen
Und wehret den Knaben
        Schiller: Lied von der Glocke

Wir hören von Schiller: gutes Walten braucht Weisheit, und es beinhaltet, dass man andere lehrt, was zur Ordnung gehört, und wehrt (d.h. hindert, zurückhält, hemmt), was sie sprengen will.

Personifizierte Mächte und Eigenschaften können walten, so die Natur, Glück und Unglück; Kräfte und Triebe, Gerechtigkeit, Gnade, Strenge, Güte, Bosheit, Gesetze können walten:

Der Geist der Ruhe und Liebe walte über dich, mein lieber Sohn.
        Auerbach
Das ist ein Fall, wo keine Gnade stattfinden kann,
hier musz die Strenge des Gesetzes walten.
        Schwarze
Dazu sind die erkannten Gesetze, die in der himmlischen Sphäre walten, vielleicht am bewunderswürdigsten durch ihre Einfachheit.
        Alexander von Humboldt: Kosmos
Hier ist Wohlthun! Es waltet ein guter Geist.
        F.H. Jacobi
Nur die Gerechtigkeitsliebe walte das Richteramt.
        Jahn: Volkthum

Auch im Kleinen und Zeitweiligen kann man walten, sich bestimmend oder schöpferisch ausleben, selbstbestimmt tätig sein:

Sie grüßte, scherzte und waltete über dem Kaffebret (Kaffeetablett), sie sah auf die Spaziergänger und hatte noch Zeit, prüfende Blicke in das Innere der Tassen zu werfen.
        Freytag
In den Grenzen ihres Reichs will ich sie (die Jugend) halten, dasz ihr kein Verderben nahe. Da aber soll sie mir walten jetzt und immer in ungestörter Freiheit.
        Schleiermacher

Nicht immer ist offensichtlich, was da waltet und uns beeinflusst:

Das Waltende und Schaffende in dem Menschen ist ihm selbst ein tiefes Geheimnis
        Arndt

Wo die herrschende Ordnung aber als fremd und falsch, als bedrückend empfunden wird, begehrt man auf:

Zu lange schon erstickt‘ ich der Natur
gewaltge Regung, weil noch über mich
ein fremder Wille herrisch waltet.
        Schiller
Soll dieser Fluch denn ewig walten?
Soll nie dies Geschlecht mit einem neuen Segen sich wieder heben?
        Goethe

Im Geschick zum Walten zeigt der Mensch seine Reife, wird walterecht:

Der Mensch soll stimmrecht, geistig entwickelt; würkrecht, sittlich gebildet, voll Einsicht seiner Bestimmung; walterecht, anstellig und ausrichtig; überhaupt leberecht werden.
        Jahn: Merke zum Deutschen Volksthum

Insgesamt ist Walten eine Zusammenfassung der bewahrenden, konservativen (lat. conservo: erhalten, bewahren, behüten), mündig einer Ordnung der Dinge zustimmenden Handlung und Haltung schlechthin.

Geblieben ist uns davon im Sprachgebrauch nur Verwaltung und Gewalt.

Etwas Gegensätzliches ist dagegen „walten lassen“ von ordnungsfremden Kräften – da macht sich etwas geltend, und man lässt es gehen, lässt ihm freien Lauf, lässt freie Hand, lässt gewähren, lässt es darauf ankommen, mischt sich nicht ein.

Ich isz und trinck: lasz also die lieb Natur walten, darbey wirdt ich faist.
        Balde
Drüben über dem Meere (…) muß man endlich bei Abschaffung der Todesstrafe weitläufige Kastelle, ummauerte Bezirke bauen, um den ruhigen Bürger gegen Verbrechen zu schützen und das Verbrechen nicht straflos walten und wirken zu lassen.
        Goethe: Wilh. Meisters Wanderjahre
Wisst, so lang ihr lasset walten
aller Seuchen schwerste Seuche,
Reflexionsepedemie,
müsst ihr Quarantäne halten.
        Platen
Du weisst, ich bin kein Engel und kein Stein,
Ich muss des Blutes Regung lassen walten.
        Hofmanswaldau

Kampf

Kampf stammt vom nordischen und niederdeutschen Kamp als einem eingehegten Stück Feld, ähnlich lat. campus: Feld, Platz; engl. camp; frz. champ. Die Grundidee: zwei ähnlich starke Kontrahenten begegnen sich auf einem Feld, umstanden von Zuschauern, und streiten um die Vormacht im Feld, im Lebensraum, im Revier. Der Stärkere obsiegt, der Verlierer räumt das Feld.

Solche Kämpfe ziehen sich archetypisch durch das Tierreich. Dort führen sie selten zum Tod, aber stets muss der Verlierer gehen und dem Sieger das Feld überlassen. Ähnlich bei menschlichen Kämpfen, auch diese sind oft ritualisiert oder gar in einen kunstmäßigen Sport verwandelt, wo das Feld zur Kampfbahn wird, beginnend bei den römischen Gladiatorenkämpfen und Kunstfechtern auf dem Campus Martius, dem Marsfeld. Der Sieger ist frz. & engl. Champion oder kurz Champ, also derjenige, der den Platz behauptet.

Die Zuschauer sind wichtig, denn sie müssen den Kampf beobachten, dessen ehrenhaften und gerechten Verlauf prüfen und dessen Ausgang bezeugen. Meist erhält der Sieger – es ist fast immer ein Er, denn Kampf scheint ein männliches Prinzip zu sein – eine herausgehobene, mächtige Stellung in der Gemeinschaft; da er sich als Stärkster erwiesen hat, erhebt er den Anspruch auf die Führung im Revier (bei Tieren das Recht auf Paarung). Dieser Anspruch endet, wenn ein anderer ihm den Platz/Titel streitig macht und ihn im Kampf besiegt.

Teil des älteren germanischen Rechts war der Gerichtskampf, wo eine strittige Sache durch Zweikampf entschieden wurde.

Diese rituellen Elemente unterscheiden den Kampf von allgemeineren Begriffen wie streiten, hadern, fechten, zanken, kriegen.

Sund, sonder, Sünde, Sonde

Der ‚Sund‘ bezeichnet eine Meerenge, ursprünglich eine durchschwimmbare Strecke, wie die Furt eine durchwatbare Strecke ist. Die nordische Wurzel sund bezieht sich auf Schwimmen und Schwimmfähigkeit (vom altgermanischen sundą oder swm-to). Das Wort entstammt der Sprache der nordgermanischen und nordischen Küstenvölker. Die Verwendung dehnte sich später poetisch aus und konnte allgemein für Meer und Tiefe stehen.

Die Grundidee ist also ein Abstand, der noch (ohne Schiff) überwunden werden kann, wenn auch durch Anstrengung.

Die Sunde oder Sonde ist in diesem Zusammenhang das Senkblei, mit dem man sundiert oder sondiert, also die Tiefe des Meeres feststellt.

Klangähnliche Wörter sind ‚sonder‘ und ‚Sünde‘, sie haben jedoch andere Wurzeln.

sonder‘ vom got. sundro, altnord. sundr, ahd. suntari (vergleiche auch engl. sundry verschieden, asunder entzwei) hat als Hauptbedeutungen: für sich, beiseite, allein, in abweichender Weise, hervorstechend, sich hervorhebend, sich abhebend, ungewöhnlich, bemerkenswert; später ‚außer‘ und ‚ohne‘.

Auch hier ist eine Grundidee von Abstand, von hier: die Gemeinschaft, das Gemeine – und drüben: das von uns Entfernte, das Besondere, das nur durch Anstrengung erreichbare.

In einer Veröffentlichung der evangelischen Kirche (EKD) wird Sünde von Sund abgeleitet, zwar auf falsche Weise, aber der ähnliche Klang regt ja zu einer solchen Gedankenverbindung an. Die EKD gibt Sund die (falsche) Bedeutung Abgrund oder Graben, und gibt der Sünde damit sprachlich die Idee von unüberwindlicher Entfernung, von Abtrennung. Die Ursünde führt zur unumkehrbaren Vertreibung aus dem Paradies, der Mensch kann aus sich heraus die Kluft nicht schließen. Nach kirchlicher Leere kann diese Trennung der Sünde nur durch Gottes Gnade oder das stellvertretende Leiden Christi überwunden werden.

Diese Ansicht, dass der Graben unüberwindlich sei, man es allein ohnehin nicht schaffen könne und stets auf Hilfe angewiesen sei, verführt den Sünder dann gern zur Passivität und zur Abhängigkeit von kirchlichen Angeboten, oder gleich zum Delegieren an Gottes Sohn.

Im Gegensatz dazu sagt ‚Sund‘ jedoch gerade aus, dass sich das Meer soweit verengt hat, dass die Entfernung eben durch Mensches Willen und Einsatz überwunden werden kann. Will man also an der Verknüpfung von Sund und Sünde festhalten, dann ergibt die richtige Bedeutung von Sund auch einen anderen Blick auf Sünde.

Bei Grimm wird Sünde anders erklärt, abgeleitet vom ahd. suntea, sunta, in nordischen Sprachen synd, engl. sin. Es wird angenommen, dass in vorchristlicher Zeit dieses Wort die Hauptbedeutung der ethischen Pflichtverletzung trug. Seit der Christianisierung jedoch ist das Wort ‚Sünde‘ ein ausschließlich religiös-kirchlicher Begriff zur Übersetzung von lat. peccātum (Irrtum, Versehen, Fehler), beziehungsweise ‚sündigen‘ als deutsches Verb für lat. pecco (sich irren, straucheln, stürzen, verkehrt handeln), mit der Hauptbedeutung eines religiösen Fehlers, einer Verfehlung gegen Gott, einer Pflichtverletzung religiöser Gebote – und die Folge dessen ist eine Strafe, die dann Buße heißt.

sie werdens teur bezalen müssen,
die grosse sünd mit herzleid büssen

Mir ist die ältere, vorchristliche Bedeutung sympathischer.


Pflicht, Pflege

Im heutigen Gebrauch steht ‚Pflicht‘ im Gegensatz zur Freiwilligkeit und klingt uns sehr negativ in den Ohren. Pflicht ist, was ich tun muss, ob ich möchte oder nicht, oft sauer und unangenehm, unfrei, mit Zwang und Widerwillen verbunden.

Der ältere Gebrauch sagt etwas sehr anderes, beinahe Gegensätzliches.

‚Pflicht‘ bezeichnet Tätigkeiten und Haltung, die sich aus der Gemeinschaft mit anderen Menschen selbstverständlich ergeben; also was man tut und tun muss, um als Mensch in Gemeinschaft zu leben. Was ist sinnvoll und förderlich, ja unerlässlich für die Gemeinschaft, für gedeihliche Lebensumstände? Dies zu tun ist dann die Pflicht. Pflicht ist verwandt mit Pflege. Es geht um das Stiften und Pflegen der Gemeinschaft.

Allerdings fordert die einmal eingegangene Gemeinschaft, dass wir uns binden, verbinden, verbindlich sind. Gelingende Bindung bringt Pflichten mit sich, erfüllte Pflicht stärkt die Verbindung. Hier ist also Verlässlichkeit gemeint, und ein Verletzten dieser Pflicht belastet die Gemeinschaft, bricht die Bindung. Ohne Verlässlichkeit muss Gemeinschaft scheitern, der Pflichtvergessene wird darum oft bestraft, sogar ausgestoßen.

Da Pflicht der Gemeinschaft dient und wir für unser Überleben auf gelingende, starke Gemeinschaften angewiesen sind, hängt unser Lebensglück nicht zuletzt daran, dass wir unsere Pflicht erkennen und sie in Freude, ja in Liebe erfüllen – und so in unserer Pflicht Erfüllung finden.

Pflichterfüllung auf dieser freudigen Ebene verweist auf den Wohlgefallen am Guten als innere Haltung und Potenzial, wie Johann Gottlieb Fichte es beschrieb:

„Wir nehmen als Voraussetzung, daß in der Wurzel des Menschen ein reiner Wohlgefallen am Guten sei und daß dieser Wohlgefallen so sehr entwickelt werden könne, daß es dem Menschen unmöglich werde, das für gut Erkannte zu unterlassen und statt dessen das für bös Erkannte zu tun.“

Mit dieser Sichtweise auf Pflicht haben wir neuen Zugang zur vielgeschmähten ‚deutschen Tugend‘ der Pflichterfüllung. Sie wird eben nicht erzwungen und sauer sein, wo man aus Liebe und Einsicht handelt.

Eine ähnliche Entwicklung wie das deutsche Wort Pflicht nahm das englische plight, dessen Substantiv heute für eine Zwangslage, einen erbärmlichen Zustand steht. Ursprünglich, im alten Gebrauch bedeutete engl. plight jedoch ein Gelöbnis und dessen Folgen, und zwar das Eheversprechen, die Verlobung: sie stiftet die intimste, wichtigste und folgenreichste aller Gemeinschaften, das Zusammenleben von Weib und Mann, woraus neues Leben entsteht.

Ähnlich wurde ‚Pflege‘ eingeengt auf die Versorgung von Kranken und Hilflosen, man assoziiert Schmutz, Entwürdigung und Aufopferung.

Wieder sagt der ältere Gebrauch etwas sehr anderes, beinahe Gegensätzliches.

‚Pflege‘ ist nach Grimm eine „beaufsichtigende oder fürsorgende, Gedeihen (körperliches oder geistiges) und Wohlbefinden bezweckende Beschäftigung“. In diesen Kreis gehören Aufsicht, Obhut, Fürsorge, Wartung, Schirm und Schutz, Leitung.

Die älteste Bedeutung ist sogar noch umfassender: Pflege ist „Tun und Treiben, die Übung, Beschäftigung, das Benehmen, die Sitte und Gewohnheit“. Was man zu tun pflegt, umfasst also alles, was man regelmäßig tut und tun muss, um gut zu leben und sich wohl zu befinden; was man übt und anstrebt, woraus sich Charakter und Gemeinschaft formt (Sitte), die guten Gewohnheiten.

Pflege ist stets ein körperliches Tun. Pflicht regelt unsere Beziehung zur Umwelt. In der Verbindung dieser Worte sind wir eingeladen, auf die vielen Entsprechungen zwischen der Welt, in der wir leben, und dem Körper, in dem wir leben, zu achten.

Das ist unpopulär geworden. Unsere Erziehung und Arbeitswelt richten sich auf das Verstandesmäßige und Abstrakte, dies wird hoch bewertet und bezahlt. Zwischen der Verunglimpfung und Abwertung des Körpers, und der Verunglimpfung und Abwertung von körperlicher Arbeit besteht ein Zusammenhang.

Zusammengefasst: Pflege und Pflicht lassen Menschen und Gemeinschaften wachsen und gedeihen. Sie sind wie der Mörtel in einem Mauerwerk.


Von Abzocken bis Zoff – Jiddismen und Rotwelsch

In diesem Kapitel soll es um die Wörter gehen, die aus dem Jiddischen ins Deutsche eingewandert sind. Die folgenden „Jiddismen“ gehören zum gesprochenen Alltagswortschatz:

(ab-) zocken, ausgekocht, blau sein/machen, betucht, Bohei, Chuzpe, einseifen, (ein-) schleimen, flöten gehen, Gauner, Ganove, geschlaucht, Hals- und Beinbruch, Ische, Kaff, kess, Kies, Kluft, Knast, kotzen, Maloche, Massel / vermasseln, mauscheln, meschugge, Mischpoke, mies, Pleite, petzen, Ramsch, Reibach, schachern, schicker, Schickse, Schmiere stehen, Schmierentheater, Schmu, schmusen, schofel, schnorren, Schmonzette, Schlamassel, Schmock, Stuss, Techtelmechtel, Tinnef, tofte, verkohlen, Zoff, Zores, Zossen.

Auffälligerweise umschreiben die meisten dieser Wörter Zwielichtiges, Unmoral und Abwertungen. Um das zu verstehen, müssen wir in die Historie schauen.

Jiddisch ist ein deutscher Dialekt, der von den osteuropäischen Juden gesprochen wurde, den Ashkenasim, zu deren Abkömmlingen sich heute etwa 92% aller sogenannten Juden weltweit zählen. Die Ashkenasim stammen weitgehend ab von den zentralasiatischen Chasaren, deren Anführer im Jahr 860 zum Judentum konvertierte und einen Teil seines Volkes bzw. der Völker seines Großreiches ebenfalls zur Konversion veranlasste. Nach dem Zusammenbruch des chasarischen Großreiches im 10. Jahrhundert begannen sie zu wandern, zuerst nach Russland, von dort wurden sie aus dem Zarenreich wiederum nach Westen vertrieben und siedelten sich hauptsächlich im Großherzogtums Litauen an (mit dem Zentrum Vilnius/Wilna), in Galizien (heute Westukraine/Südpolen, mit dem Zentrum Lviv/Lemberg), in Polen, Tschechien, Ungarn und Weißrussland.

Sie bildeten dort vorwiegend kleine, in sich abgeschlossene Siedlungen mit rein jüdischer Kultur, genannt „Schtetl“ (vom mittelhochdeutschen Stetel, also Städtchen), in größeren Städten als Ghetto (abgeschlossenes Wohnviertel). Der prominente Zionist Max Nordau sagte übrigens 1897: „Das Ghetto war für den Juden der Vergangenheit kein Gefängnis, sondern eine Zuflucht. Im Ghetto hatte der Jude seine eigene Welt; es war der sichere Zufluchtsort, der für ihn den spirituellen und moralischen Wert eines elterlichen Zuhauses besaß.“

Die osteuropäischen Gebiete standen seit dem Mittelalter stark unter deutschem Einfluss. Sie wurden von deutschsprachigen Fürsten regiert oder stark beeinflusst (der Deutsche Orden dominierte zunächst in den slawischen Ländern, später im Baltikum entlang der gesamten Ostseeküste bis Estland und hatte Einfluss auch in Polen, Litauen und Westrussland; die Monarchien in Österreich und Ungarn, auch die russischen Zaren und ihr Offizierskorps war teils deutsch), viele bedeutende Städte und Industrien waren von deutschen Siedlern begründet und aufgebaut, die Hanse prägte den Handel, somit war Deutsch eine wichtige Kultur- und Verkehrssprache für Handel und Gelehrtentum im östlichen Europa. Für die einwandernden Juden, die von jeher Handel, Geldverleih und Makeln betrieben, war die deutsche Sprache daher essenziell.

Im Schtetlentstand das Jiddisch, das eine deutsche Sprachbasis mit Elementen aus dem Hebräischen, Slawischen und Rotwelsch vermischt. „Welsch“ war damals Sammelbegriff für jede fremde, unverständliche Sprache. Das Rotwelsch gilt als „Geheimsprache der gesellschaftlich Ausgegrenzten“, zu denen die Ostjuden damals sicherlich gehörten, dies aber nicht zuletzt durch eigenen Entschluss, da orthodoxe Juden von den unzähligen Verhaltensvorschriften der Tora zu einem absonderlichen Lebensstil gezwungen waren, der sich kaum mit den Gepflogenheiten und Bräuchen der einheimischen christlichen Bevölkerungen um sie herum verbinden ließ. Sie blieben also lieber unter sich, in ihrem Schtetl, und es verwundert nicht, dass sich in dieser geschlossenen Subkultur eine Sondersprache entwickelte, die von Außenstehenden schwer zu verstehen war und damit die Aktivitäten der Juden auch sprachlich verschleierte.

Mauscheln etwa kommt von jiddisch moischele, dies wiederum von hebräisch מָשָׁל maschal, was bedeutet „Gleichnisrede; Spruch; Stichelrede“. Mauscheln meint hinter vorgehaltener Hand flüstern; intrigieren, kungeln, mogeln.

Wikipedia bringt hier eine lange Liste mit den Herleitungen der oben aufgezählten Wörter, die ich sehr spannend finde. Wer weiß denn schon, dass „Hals- und Beinbruch“ eine Verballhornung des jiddischen „hazloche und broche“ ist, nach den hebräischen Wörtern הצלחה וברכה hazlacha uwracha für „Erfolg und Segen“? Mit dieser Formel schlossen ostjüdische Kaufleute ihre Geschäfte ab. In den Ohren der Gojim wurde aus dem jiddischen Erfolgs- und Segenswunsch einen Todes- und Schadenswunsch.

Die relativ wenigen Juden, die weiter westwärts in das deutsche Kernland einwanderten, kamen übrigens in eine gänzlich andere Situation. Hier entwickelte sich kaum die SchtetlSubkultur. Zwar gab es Judenviertel in den Städten, aber auch eine starke Bewegung der Integration und Aufklärung, von Berlin und Königsberg ausgehend, die Haskala (hebräisch: Bildung, Philosophie, Aufklärung), unter dem Motto des Moses Mendelssohn „Sei ein Jude zuhause und ein Goj auf der Straße“. Die aufgeklärten jüdischen Gemeinden lockerten die Lebensregeln zugunsten besserer gesellschaftlicher Einbindung. Insbesondere in Preußen erhielten Juden relativ früh die vollen Bürgerrechte (Emanzipationsedikt von 1812), sie wurden rasch Teil des Mittelstands und Bildungsbürgertums und erlangten gesellschaftlich einflussreiche Positionen als Bankiers, Juristen, Journalisten, Verleger, Künstler, Beamte. Ähnlich verlief die Entwicklung in Frankreich und England.

Manchen Ostjuden ging diese Integration zu weit, sie empfanden das  als Identitätsverlust. Der Zionismus entstand Ende des 19. Jahrhunderts in den deutschen Ländern als ethnozentrisch-identitäre Gegenbewegung zur Verhinderung eben dieser Assimilation, wie die Zionisten sie bezeichnen. Politisches Ideal des Zionismus ist „Der Judenstaat“ (Buchtitel von Theodor Herzl), in dem Juden dominant und möglichst unter sich sind, wo ihre Subkultur die Leitkultur ist – der schließlich 1948 in Palästina ausgerufene Staat Israel ist im Grunde ein riesenhaftes Schtetl oder glorifiziertes Ghetto, wie der israelische Autor Gilad Atzmon es treffend sagte. Viele Ashkenasim haben einen romantisch verklärten Blick auf das Dasein im osteuropäischen Schtetl, eine nostalgische Sehnsucht; sie pflegen und lehren Jiddisch noch heute als lebendige Sprache, für viele Ultraorthodoxe ist es sogar weiterhin Muttersprache.


Zier, Verzierung, Zierat, Schmuck, Dekor, Putz

Diese Begriffe befassen sich mit dem Verhältnis von Innen und Außen, von innerer Schönheit oder innerem Wert und ihrem Ausdruck, von Sein und Schein. Nach meinem Empfinden ist grundlegend für Deutschtum das hohe Ansehen des Wahren und Echten, der inneren Schönheit. Wir empfinden einen Missklang, wenn äußerlich etwas dargestellt wird, was nicht durch innere Werte gedeckt ist.

Zier bezeichnet zunächst eine schöne äußere Eigenschaft, woran man beispielhaft inneren Wert ablesen kann. Das kann Gesundheit sein, die sich durch füllige und glänzende Haare, gesunde helle Zähne, glatte Haut, symmetrische Formen bemerkbar macht. Das kann ein ausgeprägt weiblicher oder männlicher Körperbau sein, der von ‚guten Genen‘ zeugt. Das können Gesichtszüge sein, die Physiognomie eines edlen Charakters, die Faltenbildung eines humorvollen, seelenvollen Menschen, all das ziertuns.

Man bemüht sich seit jeher, die äußere Zier eines gesunden Menschen nachzuahmen durch Schminke, Haarteile, Kunstzähne, Ersatzteile aller Art; Schönheitschirurgen basteln Gesichter und Körperpartien zurecht; heute vermitteln digitale Nachbearbeitungen in den sozialen Medien das trügerische Bild der begehrten äußeren Eigenschaften.

Zier können Verhaltensweisen, Umgangsformen, Anmut oder körperliche Haltung sein, die von Höflichkeit, Großzügigkeit, Anstand, intellektueller oder sozialer Bildung und Reife, von Herzensbildung, oder von Geschmeidigkeit, Kraft und Mut künden.

Ehr ist des Menschen höchste Zier (Petri)
Alles esse mit Manier,
ohne Trägheit, ohne Gier,
doch mit angeborner Zier (Brentano)
ich sah ihn die Reihen durchwandern / des Tanzes lebendigste Zier (Tiedge)
Zier ist geistigen und seelischen Erscheinungen eigen. Sittliche Anlage, tugendhaftes Verhalten, gefälliges Benehmen finden in ihr den Lohn; für Tätigkeit, Streben und Leistung ist sie das Ziel. (Grimm)

Was den Menschen ziert, ob angeboren oder erworben, kann durch Pflege hervorgehoben, erhalten und entwickelt werden – durch Pflege des Körpers, aber auch Pflege des Charakters und des Verhaltens. Wie Grimm sagt, ist Zier nicht bloß etwas Gegebenes, sondern auch Lohn und Ziel unseres Bemühens.

Umgekehrt kann es leicht geschehen, dass „sich gesellschaftliche Umgangsformen ihres sittlichen Kerns entäußern“ (Grimm) und das gezierte Tun dann Spott und Satire auf sich zieht:

Bescheidenheit ist eine Zier
doch weiter kommt man ohne ihr (Berliner Spruch)

Auch der Mensch selbst kann eine Zier sein – für sein Amt, sein Haus, seine Familie, sein Geschlecht, sein Land, seine Art. Zierde ist diesem Sinne ist das Beste, was eine Art hervorbringen kann.

Ein ehrlicher man ist eine ziere seines ampts und nicht das ampt des mannes (Friedr. Wilhelm)
Könnt ich mir deine Lieb erwerben / aller Frauen Zier (Müller)
Lasz, Himmel, dieses Bäumchen glücklich wachsen, / dasz es mit Zier einmal den Pflanzer kröne. (Herder)
schönste bluhmen, zier der felder / glantz der gärte, schmuck der wälder (Zesen)

Im kirchlichen Rahmen gilt Jesus oder ‚der Glaube‘ sinnbildlich als höchste Zier der Seele. Das wäre dann eine Zier, die nicht sichtbar ist – solange man es nicht durch Frömmelei nach außen trägt. Im spirituellen Christentum ist das das Höchste, was die Menschenseele ihrer Art nach erreichen kann, ein Träger des Christusgeistes zu sein, wie Jesus es war, der so die Zier der Menschheit darstellt.

Jesu, meine Freude / meines Herzens Weide / Jesu, meine Zier (Franck)
Wie soll ich dich empfangen / und wie begegn‘ ich dir?
O aller Welt Verlangen / O meiner Seelen Zier (P. Gerhardt)
Du (Jesus) bist der Sonnen Zier / die auf- und niedergeht (P. Fleming)

Zierde wird teils gleichbedeutend zu Zier gebraucht, aber tendenziell ist Zier etwas von innen her erwachsenes, während Zierde etwas hinzugefügtes ist.

Insgesamt haben sich Zierund Zierde eher in der Dichtung festgesetzt, während in der Alltagssprache synonym Schmuck verwendet wird, obwohl es eigentlich andere Bedeutung hat, dazu unten mehr.

Von Verzierung spricht man, wenn handwerklich hochwertige Gegenstände eine ästhetische Formung erhalten, die zwar nicht für die Funktion erforderlich ist, aber den Wert des Erzeugnisses und die Liebe des Erzeugers hervorhebt. Beispiele sind Schnitzerei, Drechselarbeit oder Intarsien an Holzmöbeln; Schleiferei bei Glaskunst, verzierte Formen für Gusseisen, Stuck und Simse an Häusern, Verzierung von Speisen, von Kleidern.

Zier und Verzierung ist gemeinsam, dass es hier um bleibende Eigenschaften und Formen geht, die dauerhaft zu Wesen oder Aussehen gehören.

Mit dem/der Zierat haben wir den Übergang zum Schmuck. Zierat ist etwas hinzugefügtes, eine Zutat, die zwar langfristig, aber doch eher lose oder lösbar verbunden ist, die eher schmückenden Charakter hat. Allzu üppiger Zierat wird als störend empfunden. Zierat ist eher Ausstattung als Eigenschaft.

Zu Cleversulzbach im Unterland
hundert und dreizehn Jahr ich stand
auf dem Kirchthurm, ein guter Hahn
als ein Zierat und Wetterfahn. (Mörike)
Die Perlen musten hier des Halses Zierrath seyn (Neukirch) d.h. die nicht vorhandene Zier der schönen Form und Haut ersetzen.

Schmuck dagegen gehört nicht zum Bestand, sondern wird zeitweise und zum Anlass passend angelegt und wieder abgelegt.

Schmuck kommt von schmiegen, und der ursprüngliche und erste Schmuck ist Kleidung: sie schmiegt sich an den Leib. Schmucke Kleidung ist passend, angemessen, gehört dazu. Schmuck verändert ursprünglich nicht, sondern hebt hervor, erhebt. Hier wird kein Schein erzeugt, sondern das Sein wird erhoben durch den Schmuck. Im älteren Geschmeide ist das Schmiegen noch deutlich hörbar. Schmucken war auch ein anderes Wort für Küssen, das Schmiegen der Lippen.

Durch Schmuck wird die innere Schönheit eines Wesens oder Objekts hervorgehoben und offenkundig gemacht. Diese Schönheit, die im Alltag verborgen sein und dem Auge entgehen mag – durch den Schmuck wird sie hervorgeholt, betont und gefeiert.

Ein Schmuck! mit dem könnt' eine Edelfrau
am höchsten Feiertage gehn. (Goethe: Faust)
Es schmückten die Untertanen
die Stadt mit Kränzen und Fahnen (Rückert)

Schmuck kann auch Ausdruck von Weihe sein, wenn er innerhalb eines Ritus gebraucht wird. So der Brautschmuck.

Man hing ein langes, rotes Band,
das Haar der Braut zu schmücken,
schon an den bunten Flitterkranz (Hölty)

Das lateinische Wort für Schmuck ist Ornat, als Lehnwort im Deutschen gebraucht für die festliche Amtstracht eines Geistlichen, Herrschers oder hohen Beamten. Der Ornat bringt die Stellung und Bedeutung der Person zum Ausdruck.

Wiederum ist der Versuch so alt wie die Menschheit, dort, wo Eigenschaften oder Stellung nicht vorhanden sind, sie durch auffälligen Schmuck und Zierat wenigstens zum Schein zu ergänzen, also „etwas als schöner darstellen wie es ist“ (Grimm). Und in diesem abgewerteten Ton verwenden wir die Wörter heute überwiegend. Auch im übertragenen Sinne: „wie mache ich das schmuck?“ – wie verpacke ich etwas so, dass es annehmbar wird?

Der (Betrug) hüllt sich täuschend ein in große Worte,
und in der Sprache rednerischen Schmuck. (Schiller)

Schmuck wird heute vor allem gebraucht im Sinne von kleinen Dingen, insbesondere Edelmetalle oder Juwelen, die den Eindruck von Wohlstand vermitteln oder bestimmte Eigenschaften und Vorlieben des Trägers zeigen sollen. Es ist meist eine Art Dekoration zusätzlich zur Kleidung. Wobei wir Dekoration heute verwenden, wenn wir etwas an sich Schlichtes durch Hinzufügen schöner Dinge schmücken und aufwerten wollen.

Interessant ist hier, dass beide Wörter, das deutsche Schmuck wie das lateinische Dekor, banalisiert wurden, jedoch ursprünglich eine andere, edlere Bedeutung haben!

Das lateinische decorbedeutet Angemessenheit, Anstand, Stattlichkeit. Das Verb decoro bedeutet verzieren; im weiteren Sinne ehren, verherrlichen – so etwa der hochdekorierte Offizier, dessen Orden von seinen ehrenvollen Taten zeugen. Das Adjektiv decorus bedeutet ehrenvoll, anständig, schicklich, geziemend, dem Brauch gemäß. Alles stammt von lat. decet: es passt, es schickt sich, es gehört sich. Davon abgeleitet ist auch dezent.

Hier klingt zweierlei an, zum einen: das Passende und Ehrenvolle; zum anderen: Ausdruck von Brauchtum und Sitte. Dekor passt also zweifach: sowohl zum Träger wie zu den Umständen von Ort, Anlass und Stand. Etwas mit Dekorumsagen oder tun, bedeutet, es angemessen, würdevoll, dem Brauch entsprechend tun. Und stets ohne Übertreibung.

Wo viel Aufwand auf das Schmücken und Herrichten verwendet wird, haben wir das Wort Putz, putzen; den Putz anlegen, sich putzen. Heute eher: sich herausputzenoder aufputzen.

Die Schönen endigen des Putzens langen Fleisz (Zachariä)
Das schönste Leinenzeug, ein seiden Kleid / mit etwas Stickerei, das trägt er gern. / Er sieht sich gern geputzt. (Goethe: Tasso)
Ei! Wie geputzt! Das schöne junge Blut! Wer soll sich nicht in euch vergaffen? (Goethe: Faust)
Man weisz, dasz der Geschmack der Griechen im Putz der Weibspersonen so fein war, als in anderen Sachen; sie raffinierten über den Kopfschmuck eben so sehr als die heutigen Pariserinnen. (Wieland)

Leicht kann man es ins Prahlerische übertreiben, denn:

Die Dümmsten putzen sich am meisten. (J. Paul)

Beim Hausbau erstellt das verputzen oder Auftragen von Putzdie Bekleidung einer Wand, die Außenhaut des Hauses.

Zum Schmücken gehörte stets das rein, sauber und glänzend machen, das ist die zweite Hauptbedeutung von Putzen.

Es hüpfen die Sänger des Waldes hervor und putzen die Schwingen. (Zachariä)
Wenn sich die Katze putzet, kömmt ein Gast.
…Knappen, welche Harnisch, Schwert und Dolch der Herrn putzten und zuweilen gegen die Sonne hielten, um den Glanz zu prüfen. (Freytag)

Da beim reinigen etwas entfernt wird – der Schmutz nämlich – steht putzen auch im Sinne von wegnehmen, und so kann ein Mann sich Kinn und Wange putzen (sich rasieren), oder man kann die Platte putzen (aufessen).

Heute verwenden wir putzen fast ausschließlich im Sinne von reinigen, bis es glänzt. Es ist gut, wenn wir uns wieder bewusst machen, dass wir durch Putzen die Gegenstände auch schmücken, also ehren.


Wallen und Wirbeln

Wallen als Verb meint die Bewegung des Wassers und des Feuers; Wogen und Wellen aufwerfen, bewegt fließen; insbesondere beim Aufeinandertreffen dieser beiden Elemente das Sprudeln und Aufkochen. Im übertragenen Sinne wallen die Emotionen, bei denen feurige Erregung die wässrigen Gefühle aufwühlt, also: innerlich erregt sein; auch das Gären und Schäumen.

Erhalten hat sich das Wallen nur in seltenen Redewendungen wie wallendes Haar oder in Wallung geraten.

Die Ursubstanz des Alls – Äther, Prana, Akasha, Chi – wurde stets durch das Element Wasser symbolisiert, und der Geist durch das Element Feuer.

Wallen und Wirbeln sind die zwei Urbewegungen des Geistes im Äther, aus denen aller Stoff entsteht – die Urbewegungen der Schöpfung. Wallen steht für eine Wellenbewegung, auf und ab, hin und her. Dazu kommt als zweite Urbewegung das Wirbeln, eine Drehung. Diesen Bewegungen zeigen an, wie der Geist im Stoff wirkt.

Wallen und Wirbeln sind zyklische Bewegungen, somit Schwingungen. Alles stoffliche Sein ist zyklisch, im Kleinsten wie im Größten, wie innen so außen. Quanten und Atome sind stabile Wirbel.

So lässt Martin Buber seine Übersetzung der Genesis beginnen:

Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal.
Finsternis über Urwirbels Antlitz.
Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser.

Irrsal und Wirrsal – das Bild einer ziellosen, ungeordnet wirbelnden Bewegung, eines inkohärenten Seins ohne Existenz. Darin der Urwirbel, darüber schwingt der Braus Gottes – Wind über Wasser bewirkt Wallen – ehe er zu sprechen beginnt und dadurch die Schöpfung in die Existenz führt, oder physikalisch gesprochen: das Wirbeln in die Kohärenz einer stabilen Form.

Gott sprach: Licht werde! Licht ward.

Ein ähnliches Bild bei Goethe, als Faust den Erdgeist beschwört:

In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall ich auf und ab,
Wehe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselndes Weben,
Ein glühendes Leben:
So schaff ich am sausendes Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Wieder weht der Geist über dem Wasser, er wallt und wirkt so das Kleid: den Stoff, die Materie. Und Goethe hebt das Zyklische ausdrücklich hervor: Geburt und Grab, wechselndes Weben.

Wallen wird zum Bild eines stark bewegten hin und her, auch im übertragenen Sinne, für Menschenmengen, Emotionen, für aufwallende Tränen, für eine unentwegte, ruhelose Bewegung. So lässt Goethe seinen Zauberlehrling zum Besen sprechen:

Walle! Walle manche Strecke,
daß, zum Zwecke, Wasser fließe…

Wallen wird auch gebraucht für eine Reise ohne feste Bestimmung, eine Bewegung um ihrer selbst willen, eine Reise, die ihren Sinn in sich selbst trägt. Wir kennen noch die Wallfahrt, eine spirituelle Reise also, bei der es um tiefgehende und aufwühlende innere Bewegung geht, eine Reise mit einem inneren Motiv, nicht um das Ankommen an einem Ziel. Zwar sind Anfangs- und Endpunkt bekannt, aber der ankommt ist ein anderer geworden. Eine einfache Reise von A nach B, um in B anzukommen, ist dagegen kein Wallen.

War für das ursprüngliche Wallen die Heftigkeit und Feurigkeit und Erregung kennzeichnend, so erweitert sich der Gebrauch allmählich in ruhigere Gefilde: es wird „von dem ruhigen Wogen des Meeres, dem sanften Rauschen eines Flusses, Baches gebraucht“, wie auch von Dingen, die darin mitgetrieben werden. Schließlich kann es jegliche wellenförmige Bewegung bezeichnen.

Schweig, o Chor der Nachtigallen!
Mir nur lausche jedes Ohr!
Murmelbach, hör' auf zu wallen!
Winde, laszt die Flügel fallen,
Rasselt nicht durch Laub und Rohr!    (Bürger)
Liebe rauscht der Silberbach,
Liebe lehrt ihn sanfter wallen.    (Schiller)
Wir wallen in der Welt, wie in der See die Nachen.    (Hoffmannswaldau)

Sogar das Aussenden von Licht und sein Vibrieren kann mit Wallen bezeichnet werden – darin liegt altes Wissen um die Natur des Lichts als Welle und Schwingung. Dichter lassen Sonne, Mond und Sterne wallen:

Sterne, die droben
blinken und wallen.    (Goethe)
Wie wallt, wie zittert dort der Sonne Licht!    (Herder)
Der unbewölkten Luna Silberschein
wallt lieblich durch der Kirchhofbäume Laub.    (Matthisson)

Urworte mit führendem ‚w‘ prägen die Welt: Wallen – Wirbeln – Wirken – Weilen


Zorn vs. Wut

Zorn (lat. ira, frz. colére), Wut (lat. furor, frz. rage)

Eines der verdrängten Worte, die wir unserem Wortschatz dringend wieder hinzufügen sollten, ist Zorn. Zorn meint eine berechtigte Abwehr gegen eine Grenzüberschreitung, gegen ein Unrecht, gegen eine Zumutung, gegen einen Machtmissbrauch. Zorn sagt: bis hierher und nicht weiter. Zorn heißt: ich wehre mich. Zorn ist gerecht. Zorn führt zu einer gemäßen, angemessenen, kraftvollen, wirkungsvollen Abwehrhandlung. Ich stehe für mich ein. Ich ziehe Grenzen. Ich weise jemanden in die Schranken.

Wir sind aber in den vergangenen Jahrzehnten konditioniert worden, den Zustand des Zorns gar nicht mehr zu spüren und für uns zu nutzen. Wir lassen uns heute zuviel gefallen. Wir wurden erzogen, so etwas wie eine gemäße, zornige Abwehrreaktion gar nicht mehr in Betracht zu ziehen, sondern zuviel zu schlucken, unser Gefühl für Unrecht lange zu unterdrücken, um dann vom Ärger direkt in die Wut zu springen. Zorn wurde uns sogar als Wort aberzogen, so dass wir Zorn als Begriff und Gefühl weitgehend verloren haben. Ersetzt wurde durch „Wut“.

„zornig“ 2.000.000 Google-Treffer
„wütend“ 18.000.000 Google-Treffer

Wut ist jedoch eher ein unkontrolliertes emotionales Ausagieren, ein planloses Draufhauen, eine nicht gemäße Überreaktion, welche die Vernichtung des Gegners anstrebt. Wut ist blind, ist kopflos, ist außer sich, ist von Sinnen. Wut entsteht oft aus Ohnmacht, wenn das Ich keine gemäße Lösung erkennt, der innere Druck jedoch zu sehr ansteigt, als dass er sich weiter unterdrücken ließe. Dieser krankhafte Gemütszustand trifft dann überall auf kleine Auslöser (engl. Trigger), woran sich die gezüchtete Wut entlädt.

Wütend sind meist Einzelne. Es sind Einzelne, die dem inneren Druck nicht standhalten und in einem Ausbruch von Wut ein Ventil suchen. Selten erfasst Wut als rauschhafter Zustand der Raserei eine ganze Gruppe, und dann bloß zerstörerisch.

Zorn dagegen kann Menschen verbinden und zu gemeinsamer, planvoller und kraftvoller Handlung veranlassen. Auch ein ganzes Volk kann in gerechten Zorn geraten, wenn die Mächtigen ihre Macht missbrauchen – der Volkszorn ist sprichwörtlich und hat schon so manchen Tyrannen, manche unrechte Regierung beseitigen können. Ein wunderbares Beispiel ist Schiller’s Drama Wilhelm Tell, worin er beschreibt, wie die Schweizer im Volksaufstand um 1300 sich vom Joch der Habsburger Feudalherrschaft befreiten.

Hohl ist der Boden unter den Tyrannen,
Die Tage ihrer Herrschaft sind gezählt,
Und bald ist ihre Spur nicht mehr zu finden.

Wir werden von Massenmedien, Staat und Konzernen in einem Zustand der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins gegenüber einem übermächtigen anonymisierten System gehalten, in dem wir uns Zorn kaum mehr leisten können, weil uns angesichts der institutionellen Übermacht die Handlungsmöglichkeit, die Souveränität fehlt. Handlung aus Wut wird wiederum als Rechtfertigung für gewaltsame Unterdrückung von außen benutzt, als Anlass für Strafe oder Verurteilung. Darum schickt die Staatsmacht auch gern Aufwiegler (frz. Agent Provocateur) in friedliche Demonstrationen und verdeckte Spitzel in planvoll handelnde Oppositionsgruppen: um gerechten Zorn durch Wut zu vergiften und damit Staat und Medien Anlass zur Verleumdung, zur Gewaltanwendung, zur Unterdrückung zu bieten.

Das gilt nicht nur in Deutschland. Auch Amerikanern und Briten hat man die alten Worte für Zorn (ire, wrath) genommen, stattdessen wurden sie daran gewöhnt, rage und mad zu verwenden; also beispielsweise „I’m mad“ (wörtlich: ich bin wahnsinnig) zu sagen, wenn sie eigentlich meinen: ich bin verärgert. Man ist nicht mehr zornig auf ein grenzüberschreitendes Gegenüber, sondern verbal „dreht man durch“, denn die Worte sagen: ich bin rasend, bin wütend auf dich, bin in Rage.

Worte formen Wirklichkeiten.


Deutsch oder Globalesisch?

Das Deutsch, welches heute überwiegend verwendet wird, ist eigentlich ein Deutsch-Globalesisch: ein deutsches Gerüst in vereinfachtem Satzbau, gefüllt mit lateinischen Lehnwörtern, die sich ähnlich in allen europäischen Verkehrssprachen wiederfinden, weil die meisten englischen, französischen und spanischen Wörter selbst wiederum aus dem Latein stammen.

Ein Beispiel: wenn ich größte Wirkung erzielen will, wäre das auf Globalesisch „maximaler Effekt“, weil man in Englisch „maximum effect“, in Französisch „effet maximal“, in Spanisch „Efecto máximo“ und in Italienisch „Effetto massimo“ sagen kann. Dieselben lateinischen Wörter effectus (Wirkung) und maxime (am meisten) sind als Lehnwörter überall vorhanden.

Die Verbindung von Genauigkeit und Geschmeidigkeit wird auf Globalesisch zur „Kombination von Präzision und Flexibilität“. Die einzigen deutschen Wörter darin sind „von“ sowie „und“.

Wo man ganz besonders international und modern wirken möchte, steigert sich das Globalesisch zum Denglisch. Da wird „die Performance des Teams getrackt“, wenn man die Leistung der Gruppe überwachen will. Da wird „interaktives Online-Coaching“ beworben, wo tatsächlich ein Beratungsgespräch am Bildschirm stattfindet. Man könnte solch heftiges Denglisch schon eine „Pidgin-Sprache“ nennen. Als Pidgin oder Kreol werden Behelfs- und Kontaktsprachen bezeichnet, die sich unter Kolonial- oder Besatzungsherrschaft entwickeln, als Mischung zwischen der Landessprache und der Kolonialsprache. Kreolsprache nennt man die eigenständige Weiterentwicklung der Mischung, die dann auch geschrieben und als neue Muttersprache erlernt wird.

Die Entstehung des Englischen und seine Wechselwirkung mit Deutsch

Englisch kann selbst bereits als Kreolsprache gelten. Wie kam es dazu? Die alten keltischen Völker Frankreichs, Spaniens und Englands waren über Jahrhunderte Teil des römischen Reiches und hatten im Zuge der Romanisierung ihre vormaligen Sprachen weitgehend durch lateinische Mundarten ersetzt. Nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches im 5. Jhd. wurde England durch die nordgermanischen Angeln und Sachsen besiedelt, welche dabei die ansässigen Kelten verdrängten, teils nach Westen (Wales, Irland) und nach Norden (Schottland), teils in eine niedere soziale Schicht. So bildete sich eine sprachprägende angelsächsische Oberschicht zu einer keltischen Unterschicht. Dann eroberten Wikinger ab 793 große Teile Englands. Sie brachten die nordische Sprache mit – da diese ebenfalls der germanischen Sprachfamilie angehört, waren die Veränderungen eher gering.

Das Altenglisch (ēald Ænglisc) klingt nordgermanischen Mundarten recht ähnlich. In diesem Video untersucht ein englischer Sprachforscher, wie gut seine alte Sprache von einem Nordfriesen, einem Hamburger und einem Allgäuer verstanden wird.

Als die französischen Normannen ab 1066 England eroberten, den englischen König stellten und einen neuen Hochadel bildeten, da drückten sie ihre romanisierte Sprache dem eroberten englischen Volk auf, wodurch die vormals keltisch-deutsch-nordische Sprache und die Gesellschaftsstruktur Englands tiefgreifend verändert wurde. Die romanische Sprache der Normannen prägte die neue englische Hochsprache. Die Angelsachsen wurden zur Mittelschicht. Etwa 53% des modernen englischen Wortschatzes sind lateinisch-romanischer, 31% germanisch-nordischer Herkunft, Griechisch stellt 10%. [nach Eduard Huber: Das Werden und Wesen der europäischen Völker]. Keltisch beeinflusste Sprachen hielten sich nur in Wales (Walisisch) und Irland (Gälisch).

So prägt das römische Imperium bis heute die Sprachen Westeuropas westlich des Rheins! Die deutschen Lande unterstanden dagegen nicht dem römischen Imperium, ihre Mundarten waren vom romanischen („welschen“) Einfluss weitgehend frei geblieben. Zwar liebäugelte der deutsche Adel, insbesondere in Preußen, mit dem französischen Hof und seiner Sprache, aber eine rege Bewegung der Sprachpflege hat die welschen Wörter wieder zurückgedrängt oder durch Neuschöpfungen ersetzt. Auch die zeitweilige Eroberung durch Napoleon hat wenig Spuren hinterlassen.

Vor 100 Jahren gab es im Deutschen durchaus einige lateinische, französische und wenige griechische Lehnwörter, aber das beschränkte sich auf das Bildungsbürgertum und auf die Fachsprachen von Medizin, Jura, Musik, Staat und Militär.

Die Entwicklung ab den 40er Jahren

Erst nach der Besetzung Westdeutschlands durch US-Amerikaner und Briten ab 1945 hat eine neuerliche Romanisierung der deutschen Sprache auf dem Umwege des Englischen (Anglisierung) so richtig Fahrt aufgenommen.

In Wissenschaft und Technik hat seitdem Englisch die Vorherrschaft von Deutsch übernommen, der zuvor wichtigsten Sprache von Patenten, Physik und Chemie. Das lag nicht zuletzt an der Emigration deutsch-jüdischer Wissenschaftler, der Zwangsumsiedlung hunderter deutscher Spitzenforscher in die USA in der CIA-Operation „Overcast/Paperclip“, und der Zwangsenteignung deutscher Patente als Reparation, was den größten geistigen Diebstahl der Geschichte darstellt und der amerikanischen Industrie gewaltige Vorteile verschaffte.

Vor allem in die Alltagssprache drängen seit den 50er Jahren englische Wörter und Ausdrücke aus Popkultur (amerikanische und britische Musik, Hollywood), „Business“ (Welthandel) und „Management“ (Unternehmensführung).

Im Warenhandel kamen die Bereiche Bekleidung („T-Shirt, Pullover, Jeans, Shorts“), Kosmetik („Make-up, Eye shadow/liner/base, Lip Gloss“), Freizeit/Leibesertüchtigung („Hobby, Sport, Jogging, Aerobic, Walking“) und seit den 90ern Computertechnik („Software, Hardware, Joystick, PC, CD, Gaming, Download, Streaming, Smartphone, Tablet, Notebook“) dazu – wer heute durch ein Kaufhaus geht, liest mehr Englisch als Deutsch. Die Bereiche Natur, Lebensmittel und Handwerk sind von Anglisierung einigermaßen verschont geblieben.

Wörterbuch Globalesisch-Deutsch

Die meisten globalesischen Ausdrücke sind unnötig und lassen sich leicht durch deutsche Wörter mit gleicher Bedeutung ersetzen. Mit dem ‚Wörterbuch‘ Deutsch-Globalesisch (als PDF, nur über Telegram verfügbar) möchte ich euch einladen, das spielerisch und forschend in eurem Sprechen und Schreiben wieder vermehrt zu tun. Einige Vorschläge für Neuschöpfungen sind auch dabei.

Warum lohnt sich das?

Nun, zunächst einmal werdet ihr verständlicher! Fremdwörter verschleiern und sind weniger eindeutig, als sie scheinen mögen. Oft meint man nur, zu verstehen, hat aber tatsächlich nur eine ungefähre Vorstellung, was gemeint sein könnte. Das führt zu Mißverständnissen. Ist mit „Antagonismus“ nun Gegnerschaft, Wettbewerb, Zwietracht oder Streit gemeint? Die deutschen Worte dagegen sind klar.

Deutsche Worte regen das bildhafte Denken an, was Fremdwörter nicht tun. Das führt zu mehr Vernetzung (Assoziation), mehr Einfällen (Intuition), und höherer Denkgeschwindigkeit.

Die deutsche Ausdrucksweise ist insgesamt genauer, weil die Bedeutung klarer wird, weil mehr Schattierungen zur Verfügung stehen, um etwas fein und passend zu sagen. Man gewinnt Ausdrucksstärke und Tiefe.

Wie von selbst beginnt man nach einer Weile, mit Sprachrhythmus und Stabreimen zu spielen. Daraus gewinnt die Sprache Saft und Kraft und Dichte. Das Sprechen wird lustvoller und gefühlvoller, poetischer.


(wird fortgesetzt)