Amanda hörte nur das Kritzeln der Stifte auf dem Papier. Die Kinder malten eifrig an ihren Wunschzetteln. Amanda sah noch einmal in die Runde, dann begann sie ihren Wunschzettel, wie sie es insgeheim nannte.

Sie schrieb: „Suche netten Mann, zuverlässig, häuslich, mit Verständnis für Kinder, kreativ, kontaktfreudig, tierlieb, …“ Amanda stockte und las sich durch, was sie geschrieben hatte. Was hatte Jessica eben noch gesagt?

„Häng deine Erwartungen nicht zu hoch. Wenn du zu viel verlangst, wird sich dein Traumprinz gar nicht melden können, weil er nicht überall ein Häkchen dranmachen kann.“

Da war etwas Wahres dran. Sie nahm ein neues Blatt und ließ jede zweite Eigenschaft weg. Dann endete sie mit „Vielleicht können wir ja schon Silvester zusammenfeiern?“. Unten schrieb sie noch ihre Adresse auf, unterstrich das Wort „Chiffre!“ zweimal und legte den Zettel mit einem Zehn-Euro-Schein in einen Briefumschlag. Die Zeitung hatte damit geworben, dass die Hälfte des Geldes für die Weihnachtskontaktanzeigen an den Kindergarten gehen sollte, in dem Amanda arbeitete.

Otto, der kleine Junge neben ihr, rief: „Fertig!“ Damit war die Ruhe vorbei, die Kinder hatten genug gemalt und an den Weihnachtsmann gedacht und wollten nach draußen. Amanda und Jessica halfen den Kindern beim Anziehen und machten einen gemächlichen Spaziergang mit ihnen zum Spielplatz im Park, denn dann kamen sie an dem Briefkasten vorbei und Amanda konnte ihren Brief einwerfen. Später packten sie die Bilder und Wunschzettel der Kinder in einen Umschlag und schickten alles nach Engelskirchen an das Christkind.

Die Vorweihnachtszeit ging so schnell vorüber! Amanda war abends froh, wenn sie die Füße hochlegen konnte und nichts mehr vom Nikolaus, dem Christkind, Weihnachtsgeschenken oder Tannenbäumen und ihrem Schmuck hören musste. Und dann war ein großer Umschlag von der Zeitung im Briefkasten. Amanda nahm ihn an sich und rannte schnell in ihre Wohnung. Dort öffnete sie den Umschlag und schüttete fünf Briefe heraus. Fünf Antworten auf ihre Anzeige.

„Ich bin gerne zu Hause“, las sie in dem ersten Brief. „Am schönsten ist es, wenn ich gemütlich im Wohnzimmer sitze und mir jemand einen leckeren Kakao bringt.“

Im nächsten Brief war eine Collage, die den Kopf des Absenders und eine Zeichnung beinhaltete, die von einem ihrer Kindergartenkinder stammen konnte. „Ich male gerne und hoffe, ihnen gefällt mein Bild.“

Der dritte Brief begann: „Mann kann nicht in allem gut sein. Ich bin zum Beispiel nicht tierlieb. Dafür aber kreativ, häuslich und nett. Und Silvester habe ich noch nichts vor.“

Amanda überlegte, welche Eigenschaften sie in ihrer Anzeige aufgeführt hatte. Waren es wirklich diese vier gewesen? Vielleicht hätte sie die anderen nehmen sollen. Welche waren das nochmal? Sie wusste es nicht mehr. Der vierte Brief war von einem Reiseveranstalter, der sich auf Silvester bezog. „Wir bieten Ihnen einen exklusiven Urlaub zu Silvester mit Sonderkonditionen an!“ Die Konditionen waren so besonders, dass sie sie sich nicht leisten konnte.

Und die fünfte Antwort – sie sah zweimal auf den Namen – war tatsächlich von ihrem geschiedenen Mann. „Ich mag Frauen, die wissen, was sie wollen“, hatte er geschrieben. „Häuslichkeit ist mein zweiter Vorname, kreativ steht auf meiner Stirn, und ich habe einen Hund, den ich Silvester gerne mitbringen würde …“ Wer ihm zu seiner Verabredung wohl den Hund leihen würde? Oder ob er einen Stoffhund mitbringen und das als Witz bezeichnen würde?

Amanda seufzte und schob die Briefe auf dem Tisch herum, ordnete sie neu, nahm sie dann und legte sie alle aufeinander. Jedenfalls hatte ihr Kindergarten eine Spende erhalten. Und die nächste Partnersuche sollte sie mal im Internet starten. Sie warf die Briefe ins Altpapier und begann, ihren Weihnachtsbaum zu schmücken.

Am 24. Dezember schlief sie erst einmal aus. Zur Mittagszeit machte sie sich auf den Weg zu einem Treffpunkt für Obdachlose, an dem ein Weihnachtsessen angeboten wurde. Sie unterhielt sich mit den Veranstaltern und verschiedenen Gästen, aß und trank gut und üppig und war müde, als sie gegen Abend wieder in ihrer Wohnung eintraf. Den Abend wollte sie in eine Decke gewickelt auf der Couch verbringen und ein wenig fernsehen und am nächsten Tag ihre Mutter besuchen.

Sie döste gerade beim „Kleinen Lord“, als es in ihrer Nähe raschelte. Erschrocken setzte Amanda sich auf. Etwas rumpelte, jemand unterdrückte einen Schmerzensschrei. Dann sah Amanda einen Mann mit roter Kleidung. Weißen Haaren. Weißem Bart. Er saß auf dem Boden und hielt sich den Fuß. Amanda schrie auf, rückte in die Ecke ihrer Couch, raffte ihre Decke um sich und kam sich albern vor.

„Es tut mir sehr leid!“, sagte der Weihnachtsmann.

„Wie kommen Sie hier rein?“, fragte Amanda.

Der Weihnachtsmann stöhnte. „Durch die Balkontür.“ Als Amanda etwas sagen wollte, winkte er ab. „Nein, sie stand offen. Alle, die Weihnachten beschert werden wollen, lassen unbewusst eine Tür offen. Wenn es nicht an Heilig Abend ist, machen sie es am ersten oder zweiten Weihnachtstag. Irgendwann komm ich rein. Ich habe drei Versuche.“ Wieder stöhnte er.

„Haben Sie sich verletzt?“, fragte Amanda.

Er nickte. „Ich bin gerade über den Teppich gestolpert, glaube ich. Hab mir wohl den Fuß verrenkt. Aber es geht schon wieder. Ich muss auch weiter. Frohe Weihnachten, und hoh, hoh hoh!“ Er nahm den Sack mit Geschenken auf, den er neben sich liegen hatte, und versuchte aufzustehen. Aber er kam nicht hoch und stöhnte wieder.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen!“, sagte Amanda und zog den Weihnachtsmann vorsichtig in den Stand. Er roch gut. Nach Apfel, Zimt und Mandelkern, schoss ihr durch den Kopf. Der Weihnachtsmann versuchte einen Schritt nach vorn, sackte aber wieder in sich zusammen, Amanda konnte ihn gerade noch halten.

„Was machen wir jetzt?“, fragte sie.

„Ich muss zu meinem Schlitten“, antwortete der Weihnachtsmann. „Was Sie machen werden, das entzieht sich meiner Kenntnis.“

„Aber das schaffen Sie mit der Verletzung nicht. Ich helfe Ihnen. Warten Sie!“ Sie drückte den Weihnachtsmann in einen Sessel, schlüpfte schnell in Stiefel und Mantel und warf sich einen Schal um, dann zog sie den Weihnachtsmann wieder aus dem Sessel hoch und stützte ihn, während sie mit ihm aus der Wohnung und die Treppe nach oben auf den Dachboden ging, dann hievte sie ihn durch ein Fenster nach draußen, kletterte selbst hinterher, half dem Weihnachtsmann wieder auf, stützte ihn auf dem Weg zum Schlitten, der tatsächlich auf ihrem Dach stand, und schob ihn auf den Kutschbock.

Die Rentiere hatten sofort angefangen zu tänzeln, als sie Amanda gesehen hatten, und der Weihnachtsmann hatte Schwierigkeiten, sie zu halten. Er stöhnte wieder auf.

„Warten Sie“, rief Amanda, „Sie müssen sich so hinsetzen, dass Sie nicht …“ Sie hatte sich gerade über ihn gebeugt, da machte der Schlitten einen Satz nach vorn, sie verlor den Halt, fand sich im Fußbereich des Schlittens wieder und als sie sich aufgerichtet hatte, stellte sie mit Schrecken fest, dass der Schlitten, von den Rentieren gezogen, bereits durch den Himmel taumelte. Amanda schrie. Die Rentiere schnaubten verschreckt und rannten noch etwas schneller. Der Weihnachtsmann hoh-hoh-hohte, um die Tiere zu beruhigen. Dann wandte er sich an Amanda:

„Setzen Sie sich neben mich. Ich kann Sie jetzt nicht zurückbringen, denn ich muss weiter bescheren. Wenn ich für heute fertig bin, bringe ich Sie zurück!“

Am ganzen Körper zitternd setzte Amanda sich. Je länger die Himmelsfahrt dauerte und je ruhiger und langsamer sich die Rentiere bewegten, desto mehr entspannte sich Amanda. Schließlich konnte sie auf die Erde sehen und sich an den vielen Lichtern freuen, die in dieser Nacht leuchteten.

„Es ist so schön“, sagte sie.

Der Weihnachtsmann lächelte. „Ja, dieser Ausblick ist einer der Gründe, weshalb ich diese Arbeit so gerne mache“, sagte er. Dann stöhnte er wieder. „Der Fuß scheint anzuschwellen“, sagte er.

„Damit können Sie aber nicht durch Kamine rutschen oder durch Balkontüren schleichen“, sagte Amanda.

Der Weihnachtsmann seufzte. „Ich glaube, Sie haben Recht. Was mache ich nur?“ Er sah Amanda an.

Die hob die Schultern. „Dann werde ich Ihnen weiterhelfen. Wenn ich schon mal hier bin …“

So schöne Weihnachten hatte Amanda noch nie erlebt. Sie schlich durch Türen, rutschte durch Kamine, legte Päckchen unter Weihnachtsbäume und auf Tische, sortierte Geschenke in Säcke – aber zuerst hatte sie sich den Ersatzweihnachtsmannanzug angezogen und einen falschen Bart angeklebt, den der Weihnachtsmann unter dem Kutschbocksitz liegen hatte.

„Den habe ich vor Jahren versehentlich einem falschen Weihnachtsmann abgerissen“, hatte er Amanda dazu erklärt.

Auf jedem Dach gab der Weihnachtsmann ihr die Geschenke und eine kurze Beschreibung, wo sie welches Päckchen ablegen sollte. Als sie wieder auf dem Dach des Hauses ankamen, in dem Amandas Wohnung war, war Amanda müde, sehr zufrieden mit sich und erstaunt, wie wenig Zeit vergangen war – gefühlt hatte sie in hundert Wohnungen beschert, aber es war erst kurz nach Mitternacht.

„Sie kommen noch einmal mit“, befahl sie dem Weihnachtsmann. „Ihr Fuß muss gekühlt werden. Sonst können Sie in der kommenden Nacht die zweite Runde nicht schaffen.“

Der Weihnachtsmann flüsterte dem vordersten Rentier etwas ins Ohr und schickte die Rentiere mit dem Schlitten dann weg.

„Ich habe ihnen gesagt, dass sie mich morgen wieder abholen sollen. Wenn es Ihnen Recht ist“, erklärte er. Amanda nickte.

In ihrer Wohnung angekommen, platzierte sie den Weihnachtsmann auf der Couch und machte ihm einen kühlenden Umschlag um seinen dicken Fußknöchel.

„Ob das bis morgen besser wird?“, fragte sie.

„Ich bin in den besten Händen“, sagte der Weihnachtsmann und lächelte sie an. „Sie haben so gut beschert, jetzt pflegen Sie mich – ich würde mich freuen, wenn Sie mir bei der zweiten Runde auch helfen könnten. Wir haben das als Team doch wirklich hervorragend und in kürzester Zeit hinbekommen, Amanda!“

Amanda stutzte. „Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte sie.

Der Weihnachtsmann grinste. „Schon vergessen? Ich bin der Weihnachtsmann. Ich bin hierhergekommen, um Sie zu bescheren. Ihr Name stand auf der Wunschliste. Ich heiße übrigens Nick.“

„Auf der Wunschliste?“, fragte Amanda. „Aber ich habe mir doch gar nichts gewünscht ….“

Nick wurde rot. „Doch, das hast du. Und ich wollte eigentlich erst einmal sehen, wer am besten zu dir passt. Aber ich denke, ich habe ihn schon gefunden …“

Amanda wurde heiß, so verlegen war sie, als ihr der Zettel einfiel, den sie im Kindergarten geschrieben hatte. „Der Zettel sollte nicht, er war nicht … Ich brauche keinen …“

Nick legte hob die Hände. „Nein, sag gar nichts mehr. Versprich mir einfach, dass wir morgen wieder zusammen losziehen. Und übermorgen vielleicht auch noch einmal. Und dann …“

„… feierst du mit mir zusammen Silvester“, sagte Amanda und lächelte. Das hatte nicht auf dem Wunschzettel gestanden. Aber sie wusste schon, dass sie sich nichts anderes mehr zu Weihnachten wünschen würde.

© by Anne Haase Köln 2018

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