Wie schön könnte die Welt sein. Wonnemonat Mai. Die Sonne scheint für Fahrradtouren und Spaziergänge. Es ist Spargelzeit. In wenigen Tagen werde ich 76 Jahre alt.

Dass ich 1946 geboren wurde - und nicht wie mein Vater 1918 - habe ich immer als besonderes Glück empfunden. Ich wurde in die längste Friedenszeit hineingeboren, die Deutschland in seiner Geschichte erlebt hat.

Seit 81 Tagen ist diese Friedenssicherheit erschüttert. Erinnerungen an den kalten Krieg kommen hoch. Gleichgewicht des Schreckens. Atomare Apokalypse.

Der Bundeskanzler spricht von einer „Zeitenwende“ und der Bundespräsident sieht einen „Epochenbruch“ mit Blick auf den russischen Überfall auf die Ukraine. Laut Meinungsumfragen haben mehr als Zwei Drittel in Deutschland Angst vor einem 3. Weltkrieg.

Das hätte ich lange Zeit nicht mehr für möglich gehalten. Sicher, es hat seit 1945 viele Kriege auf der Welt gegeben. Es gab nicht einen Monat, wo nicht irgendwo auf unserem Planeten geschossen und gestorben worden wäre. Aber in Westeuropa hatten es die früher notorisch verfeindeten Staaten doch geschafft, eine Friedensordnung hinzubekommen.

Statt in wechselnden Bündnissen Sicherheit voreinander zu suchen, machten sie sich gegenseitig voneinander abhängig (Montanunion) und entwickelten durch europäische Integration Strukturen gemeinsamer Sicherheit (Europäische Union).

Ich kann mich noch gut an den 18. Juni 1990 erinnern, als Genscher und Schewardnadse sich in Münster trafen, um über die deutsche Einheit zu verhandeln. An die „Gorbi, Gorbi“-Rufe, mit der wir unsere Dankbarkeit für die Wiedervereinigung skandierten.

Was nach 1945 für die Staaten Westeuropas gelungen war, konnte jetzt auch mit den mittel- und osteuropäischen Staaten gelingen: eine gemeinsame Friedensordnung für ganz Europa unter Einschluss Russlands. Schließlich hatte auch Moskau 1990 die Grundlage dieser Friedensordnung, die Charta von Paris, unterschrieben, gemeinsam mit den USA, Kanada, und praktisch allen europäischen Staaten. In dieser Charta sind die Prinzipien für die Friedensordnung in Europa nach dem Ende des Kalten Kriegs festgelegt: Gleichberechtigung und Souveränität aller Staaten, Unverletzlichkeit der Grenzen, Gewaltverzicht, Menschenrechte.

Mit der Invasion in Georgien 2008 und spätestens mit der Annektion der Krim 2014 und dem Angriff im Donbas wurde zwar klar, dass Russland sich an diese Friedensordnung nicht mehr gebunden fühlte. Aber erst der 24. Februar 2022 macht (hoffentlich) allen klar, was auf dem Spiel steht.

Putin will die Ukraine vernichten. Er bestreitet ihr Recht, als unabhängiger Staat zu existieren. Sie gehöre zu Russland. Die Ukrainer:innen seien kein eigenes Volk, sondern Teil des russischen Volkes, behauptet er. Wer sich nicht als Russe oder Russin fühle, sei ein Nazi, gehöre in „Filtrationslager“ und ausgesondert. Zigtausend wurden inzwischen in den von Russland eroberten ukrainischen Gebieten in dieser Weise „denazifiziert“ und nach Sibirien verschleppt.

Es ist nicht eine Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen, wie meist zu lesen ist. Es geht darum, ob die Charta der Vereinten Nationen noch gilt, die in Art. 2 Abs. 1 das „Prinzip der souveränen Gleichheit aller Mitgliedsstaaten“ postuliert.

Ein allgemeines Gewaltverbot soll diese Souveränität sichern.

„Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ (UN-Charta Art. 2 Ziff 4)

Putin will eine neue Weltordnung, in der nicht das Recht, sondern das Recht des Stärkeren regiert. Russland nehme sich, was ihm gebühre. Putin macht aus seinen revisionistischen, nationalistischen und imperialistischen Absichten keinen Hehl.

Widerspruch im Inneren muss er nicht fürchten. Er ist unbeschränkter Alleinherrscher, das Land ist gleichgeschaltet. Seit 20 Jahren wäscht seine Propaganda die Gehirne schon der Kinder im Kindergarten. Wer Putins Geschichtsdeutung widerspricht oder entgegen amtlicher Sprachregelung nicht von „militärischer Sonderoperation“ spricht, sondern von Krieg gegen die Ukraine, riskiert langjährige Haftstrafen.

Unverhohlen droht Putin Schweden und Finnland mit negativen Konsequenzen, falls sie der NATO beitreten würden. Auf diese Idee hatte er die beiden neutralen Länder mit seinem Überfall auf die Ukraine erst gebracht.

Von Polen könnte eine Bedrohung für Russland ausgehen, sagt der russische Außenminister Lawrow, falls die Ukraine weiter mit Waffenlieferungen unterstützt werde. Im russischen Staatsfernsehen werden Szenarien eines Atomkriegs durchgespielt. Die Sendung „60 Minuten” vom TV-Sender Rossia 1 präsentiert eine  Infografik über die Flugzeit von RS-28 Sarmat-Raketen in die Hauptstädte der Länder, die der Ukraine die meisten Waffen liefern: Von Kaliningrad nach Paris sind es 200 Sekunden, nach London 202 Sekunden, nach Berlin 106 Sekunden.

So glorifiziert das russische Fernsehen einen Atomkrieg
Das russische Fernsehen berichtet nun auch über das Thema Atomwaffen – und berechnet schon mal, wie lange russische Raketen bis nach Berlin brauchen.

Das bleibt nicht ohne Wirkung. In einem offenen Brief haben 28 Intellektuelle, darunter Alexander Kluge, Reinhard Mey, Dieter Nuhr, Alice Schwarzer, Martin Walser, Harald Welzer, Rangar Yogeshwar, und Juli Zeh den Bundeskanzler aufgefordert,

„weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern…Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen…könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen.“

In einem von Ralf Fücks initiierten offenen Brief, den ich auch unterzeichnet habe, widersprechen Intellektuelle und Politiker:innen wie Gerhard Baum, Wolfgang Ischinger, Daniel Kehlmann, Sascha Lobo, Prof. Armin Nassehi, Prof. Karl Schlögel, und Marina Weisband:

„Wer einen Verhandlungsfrieden will, der nicht auf die Unterwerfung der Ukraine unter die russischen Forderungen hinausläuft, muss ihre Verteidigungsfähigkeit stärken und die Kriegsfähigkeit Russlands maximal schwächen. Das erfordert die kontinuierliche Lieferung von Waffen und Munition, um die militärischen Kräfteverhältnisse zugunsten der Ukraine zu wenden. Und es erfordert die Ausweitung ökonomischer Sanktionen auf den russischen Energiesektor als finanzielle Lebensader des Putin-Regimes.“

Es lohnt sich, die beiden offenen Briefe zu lesen. Sie spiegeln die ganze Bandbreite der gegenwärtig in Deutschland geführten Diskussion.

Ich finde es gut, dass wir in Deutschland so offen darüber diskutieren können, was der richtige Weg ist, damit Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine möglichst schnell beendet. Wie weitere Eskalationen und eine Ausdehnung auf andere Länder vermieden werden kann. Denn in diesen Zielen sind sich ja alle einig.

Meine Meinung dazu habe ich hier gesagt. Wer einen Atomkrieg verhindern will, darf Putin gegen die Ukraine nicht gewinnen lassen.

1990 hieß es, Frieden in Europa könne es nur gemeinsam mit Russland geben. Epochenbruch und Zeitenwende bedeuten, dass wir den Frieden in Europa gegen Russland sichern und verteidigen müssen. Gegen die Sowjetunion war uns das im Kalten Krieg gelungen. Russland ist viel schwächer als die Sowjetunion und Warschauer Pakt. Ich bin zuversichtlich, dass Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit auch jetzt helfen.

Diese Kolumne erschien zuerst in Rums - neuer Lokaljournalismus für Münster

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