Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) If AI lifts off, will living standards follow?

Im Artikel wird diskutiert, ob Künstliche Intelligenz dauerhaft das Wirtschaftswachstum steigern könne. Manche Institute prognostizierten bis zu 20 Prozent Wachstum jährlich, andere wie Daron Acemoglu rechneten lediglich mit 0,1 Prozentpunkten zusätzlich. Bei 7 Prozent pro Jahr würde sich eine Volkswirtschaft in zehn Jahren verdoppeln, bei 20 Prozent sogar drei Mal in einem Jahrzehnt – Szenarien, die theoretisch durch selbstverbessernde KI möglich erschienen. Allerdings werde bezweifelt, ob KI tatsächlich fähig sei, bessere KI zu entwickeln und zugleich strategische, körperliche oder emotionale Arbeit zu übernehmen. Zudem gebe es Grenzen durch Energiebedarf und strukturelle Schwächen („O-Ring-Effekt“), bei denen einzelne Fehler ganze Systeme unbrauchbar machten. Auch der „Baumol-Effekt“ verhindere, dass Produktivitätsgewinne in Sektoren wie Bildung oder Pflege in gleichem Maße realisiert würden. Die historische Erfahrung zeige, dass trotz technischer Revolutionen das Wachstum seit den 1970ern eher schwach blieb. Die Schlussfolgerung laute, dass selbst 1 Prozent Wachstum schwer zu sichern sei. (Tim Harford, Financial Times)

Ich bin extrem skeptisch gegenüber diesen Verheißungen - in beide Richtungen. Weder glaube ich an eine baldige goldene KI-Zukunft (diese liegt vielleicht in einigen Jahrzehnten, aber ich sehe nicht, dass ich sie noch erleben werde), noch an eine Dystopie, in der menschliche Arbeit nicht mehr benötigt wird. Diese im Artikel genannten Extreme in der Einschätzung von Wachstumspotenzialen sind vor allem Clickbait. Die realistischere Einschätzung scheinen mir die 0,1% Wachstumspotenzial zu sein - was ja auch schon eine Menge wäre. Die Skepsis, die Hardford äußerst, scheint mir daher mehr als angebracht.

2) Centrist Democrats Are the Actual Traitors to Their Party

Im Beitrag wird argumentiert, dass nicht progressive, sondern zentristische Demokraten die eigentlichen „Parteiverräter“ seien. Anlass ist die Bürgermeisterwahl in New York, bei der der progressive Kandidat Zohran Mamdani die Vorwahl klar gewann, während Parteigrößen wie Hakeem Jeffries oder Chuck Schumer ihre Unterstützung verweigerten und Andrew Cuomo trotz Niederlage als Drittparteikandidat antritt. Kritisiert wird, dass etablierte Demokraten bei Niederlagen Prinzipien wie „Vote Blue No Matter Who“ missachteten, obwohl sie dieses Mantra sonst nutzen, um linke Parteiflügel zur Loyalität zu zwingen. Beispiele aus 2016 und 2020 würden zeigen, dass Bernie Sanders und seine Anhänger Hillary Clinton und Joe Biden nach Vorwahlniederlagen klar unterstützten, während die „Uncommitted“-Kampagne 2024 trotz Kritik an Bidens Israel-Politik letztlich öffentlich zum Votum gegen Trump aufrief. Daraus folge, dass Progressiven mehr Loyalität nachgesagt werden könne als dem Parteiestablishment, das seine Bindung an Kontrolle über die Partei höher gewichte als an deren Einheit. (Aaron Regunberg, The New Republic)

Ich halte das für eine fruchtlose Debatte. Man kann ja gerne irgendwelche Primaries zählen, aber letztlich kommt dabei wenig herum, schon allein, weil die Unterscheidung zwischen Kandidat*innen und Aktivist*innen künstlich ist und je nach persönlicher Präferenz das Ergebnis verzerrt. Nimmt man nur Kandidat*innen, klar, dann sind die Zentristen die "Verräter*innen". Aber von denen gibt es halt auch wesentlich mehr. Nimmt man die Aktivist*innen mit rein, sieht die Lage schon wieder sehr anders aus. Beständig die Clinton-Primaries zu relitigieren ist auch nicht sonderlich produktiv. Das ist jetzt über acht beziehungsweise schon fast zwanzig Jahre her und hat für heute keine große Bedeutung mehr. Die Democrats erleben eine Basisrevolte, die sich allerdings noch wesentlich kleiner und handzahmer ausnimmt als die, die die alte GOP seit 2008 hinweggefegt hat. Ich gebe den Zentristen gute Chancen, den innerparteilichen Machtkampf für sich zu entscheiden, schon allein, weil die Linke traditionell viel zu doof ist, sich die Macht zu sichern.

3) Pflichtdienst? Ja, aber für alle!

In dem Meinungsbeitrag wird die aktuelle Debatte um Wehr- und Pflichtdienste aufgegriffen und ein generationenübergreifendes Modell vorgeschlagen. Beschrieben wird, dass derzeit vor allem zwei Varianten diskutiert würden: die Wiedereinführung der alten Wehrpflicht oder eine soziale Pflichtzeit nur für junge Menschen. Beide Modelle seien jedoch entweder nicht geschlechter- oder nicht generationengerecht. Stattdessen plädiere der Autor für eine zweijährige Pflichtzeit, die je zur Hälfte vor dem Berufseinstieg und nach dem Renteneintritt abzuleisten sei. Dabei könnten Tätigkeiten flexibel gewählt werden, von Militär über Katastrophenschutz bis hin zu Pflege oder Sozialarbeit; auch bereits absolvierte Dienste oder Care-Arbeit sollten angerechnet werden. Ziel sei es, sowohl den Personalmangel in Bundeswehr und Sozialbereichen zu lindern als auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen Jung und Alt zu stärken. Eine ausschließliche Belastung der Jugend wäre „ungerecht und ein verheerendes Signal“. Stattdessen müsse eine faire, gemeinsame Lösung durch breite gesellschaftliche Debatte gefunden werden. (Jörg Tremmel, Welt)

Ich bin in der Debatte insofern agnostisch, als dass ich keine Ahnung habe, wie sinnvoll so ein Pflichtdienst generell ist. Mein Stand ist, dass weder Bundeswehr noch die sozialen Dienste die Kapazitäten haben, diese ganzen Pflichtdienstleistenden überhaupt aufzunehmen (und auch nie hatten; Wehrgerechtigkeit gab es ja nicht einmal in den Hochzeiten des Kalten Krieges). Deswegen scheint mir das weniger an realen Bedarfen orientiert, sondern eher weltanschaulich geprägt. Die Frage ist vor allem, welchen gesellschaftlichen Effekt man sich erhofft. Und hier wäre meine Vermutung, dass alle Hoffnungen und Befürchtungen übertrieben sind. Weder würde eine Wehrpflicht Deutschland militarisieren noch würde ein Pflichtdienst irgendwie den gesellschaftlichen Zusammenhalt wesentlich stärken. Man kann das machen, aber man sollte sich nicht die tollen Effekte erhoffen, die hier erhofft werden, und auf viel sinnlose Beschäftigungstherapie und eine größere Verteilungsbürokratie vorbereitet sind. Nur bei einem bin ich nicht agnostisch: wenn man das macht, dann tatsächlich erstens für beide Geschlechter (was in meinen Augen flankierende familienpolitische Maßnahmen erfordert) und zweitens in einer Art wie Tremmel das hier vorschlägt generationengerecht.

4) Wie eine faire Erbschaftsteuer aussehen könnte

In der Kolumne wird erläutert, dass die Erbschaftsteuer in Deutschland seit Jahren unverändert sei und Reformbedarf bestehe. Zwar fordere Markus Söder eine Senkung um 50 Prozent und die Möglichkeit regionaler Steuersätze, doch lehne Kanzler Merz dies ab. Angesichts anhängiger Klagen beim Bundesverfassungsgericht sei jedoch wahrscheinlich, dass eine Anpassung komme. Derzeit profitierten vor allem Großvermögen von Ausnahmen: Während Milliardenerben im Schnitt nur 2,8 Prozent zahlten, läge die Belastung kleinerer Erben bei rund neun Prozent. Kritisiert werde, dass die bestehenden Privilegien für Unternehmen und Immobilien Ungleichheit verstärkten. SPD-Vertreter verlangten daher höhere Steuern für Millionenerben, die Union sei intern gespalten. Als „Königsweg“ wird ein Modell mit sehr niedrigen, aber einheitlichen Steuersätzen ohne Ausnahmen vorgeschlagen – etwa drei Prozent, zahlbar auch in Raten. Dies wäre einfach, gerecht und transparent und knüpfe an Merz’ alte Idee der Steuerreform auf dem Bierdeckel an. (Ursula Weidenfeld, Spiegel)

Diese Flatratesteuermodelle haben immer das Problem, dass sie an der politischen Realität scheitern. Klar, das könnte man so machen, aber ich sehe nicht, wie man an den Partikularinteressen vorbeikommt und jemals eine ausnahmenfreie Steuer hinbekommt. Man sieht das ja auch an der Aufstellung der im Artikel genannten Interessensgruppen. In der Bevölkerung ist die Frage des Eigenheims absolut virulent; eine Erbschaftssteuerreform, die nicht große Freibeträge für selbst genutzten Wohnraum gestattet, scheint mir eine politische Totgeburt. Und eine Steuer, die ausnahmslos alle Familienbetriebe besteuert könnte vielleicht eine absolute Mehrheit der LINKEn durchsetzen, aber eine andere politische Formation sehe ich dafür nicht.

5) What is Blueskyism?

Nate Silver diagnostiziert den Niedergang von Bluesky und prägt dafür den Begriff „Blueskyism“: eine online-tribale Haltung, die politische Überzeugungsarbeit toxisch mache. Netzwerkeffekte hätten Bluesky nie über die Startrampe gebracht; nach einem Hoch um die Wahl 2024 seien die täglichen Poster von ~1,5 Mio. auf ~0,6–0,66 Mio. gefallen, die täglichen Follower von ~3,1 Mio. auf <0,4 Mio. X bleibe trotz Problemen um Größenordnungen größer. „Blueskyism“ sei weniger Ideologie als Habitus, der vor allem in stark weißen, hochgebildeten Milieus (D.C., Vermont, Oregon) verbreitet ist und schon 2019/20 auf Twitter prägenden Einfluss hatte. Silver beschreibt drei Kerneigenschaften: (1) „Smalltentism“ – aggressives Grenzziehen und Moralpandemien gegen Abweichler nahe der eigenen Position (NYT, zentristische Liberale), was Reichweite verenge; (2) „Credentialism“ – Berufung auf akademische/identitäre Autorität statt Argumente, bis hin zu Doppelmoral (etwa Pandemieregeln vs. Proteste 2020); (3) „Catastrophism“ – humorlose Alarmstimmung als Tugend, die eher Resignation als Mobilisierung erzeuge. Diese Muster hätten auf Twitter zeitweise funktioniert, seien aber in der „Ideen-Marktwirtschaft“ unattraktiv und erklärten, warum Bluesky vor allem „für die Eigenen“ sende. Politisch zähle Popularität und das Gewinnen neuer Anhänger; Subkulturen, die Dissens scheuen, schrumpften. Silvers Fazit: Bluesky werde wohl als kleine Nischen-Community überleben, aber nicht überzeugen – wer Mehrheiten will, braucht Offenheit statt Abschottung. (Nate Silver, Bulletin)

Ich bin unglücklich mit Silvers Versuch, seine Beobachtungen auf Bluesky zu kaprizieren. Ich weiß, dass er es nur als Beispiel nimmt, aber genauso wie die Meckerliesen über Twitter geht er davon aus, dass seine Erfahrung repräsentativ ist. Ich verstehe beispielsweise nie Leute, die bei Twitter ihren Feed vom Algorithmus sortieren lassen. Mich hat die Musk-Übernahme deswegen von dem, was ich sehe, nie tangiert: ich sehe nur die Accounts, denen ich folge, und sonst keine. Und würden die nicht so viel Dreck retweeten, würde ich auch den nicht mitkriegen. Dasselbe gilt für Bluesky: wenn man da nicht den Radikalinskis folgt, dann kriegt man deren Kram auch nicht mit. Dass jemand mit Nate Silvers Reichweite dem nicht so gut entgehen wie ich glaube ich sofort; ich muss ja hier in den Kommentaren auch mehr Kram lesen, als ich manchmal will. Aber das ist halt der Preis der Reichweite. Wo Silver allerdings Recht hat sind die Netzwerkeffekte: diese Atomisierung sorgt für einen rapiden Nützlichkeitsverlust und die Verinselung und Radikalisierung von Gruppen. Ein Beispiel aus meinem eigenen Umfeld ist das Twitterlehrerzimmer: das existiert nicht mehr, weil eine radikale Bubble nach Bluesky und der Rest ganz weg ist. Auf Bluesky erzählen sich da jetzt diverse Leute, wie Recht sie haben, aber das war es auch schon.

Resterampe

a) Mao lesen – und die Lage in Gaza verstehen (Welt). So ein Quatsch. Als ob Mao das erfunden hätte. Man muss den echt nicht größer machen, als er ist. Aber vermutlich ging es auch nur darum, vage wieder alles Schlechte mit "links" zu verbinden.

b) Florida Decided There Were Too Many Children (The Atlantic). Elefanten im Porzellanladen der Zivilisation.

c) Der Verbotsfetischismus bedroht unsere stolze Autonation (Welt). Bei solchen Schlagzeilen frage ich mich immer, ob da irgendjemand Satire schreibt.

d) Zur Debatte ums inhaltliche Stellen der AfD. (Welt) Siehe auch in der ZEIT.

e) Thread zu Milei und Argentinien. (Twitter)

f) Der Schutz der Meinungsfreiheit geht weiter. (Netzpolitik)


Fertiggestellt am 06.09.2025

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