George Lincoln Rockwell war der Gründer der „American Nazi Party“, er war in den 60er Jahren in den USA politisch aktiv. Seine Partei hatte als Flagge eine minimal abgewandelte Hakenkreuz-Fahne, und weder er noch seine Anhänger scheuten sich davor, sich öffentlich in Nazi-Uniformen zu zeigen, komplett mit Hakenkreuzbinden. Wenn man sich heute eine solche Figur dächte, könnte man sich nie und nimmer vorstellen, dass diese irgend eine öffentliche Kommunikationsplattform bekäme, und allenfalls wäre sie auf gewisse Gebiete des Internets begrenzt. Rockwell aber, in einer Zeit wo noch viele Leute den zweiten Weltkrieg erlebt oder gar darin gekämpft hatten, kam als Gastreferenten zu Universitäten oder wurde zumal auch im Fernsehen präsentiert, unter anderem in einem Interview, das 1966 vom deutschen Fernsehen produziert wurde. Dieses Interview ist im Internet abrufbar, darin befragt der Moderator den „Commander Rockwell“, der Uniform tragend vor einer Hakenkreuzfahne und einem Foto von Adolf Hitler sitzt, in aller Ruhe zu seiner Partei und politischer Tätigkeit, lässt ihn ausreden, und beendet das Interview ohne Belehrungen. Lediglich in der abschliessenden Einsprechung wird erwähnt, dass diese eine wenig bedeutende Splittergruppe ist, und eine Gewalttätigkeit im Hissen einer Hakenkreuzflagge betont.
Es hat schon fast etwas surrealistisches, aus heutiger Sicht einen solchen Beitrag anzuschauen, der einer Person, die für all das steht, was dem damaligen wie heutigen Mainstream tiefgründig zuwider ist, eine vergleichsweise neutrale und objektive Plattform geboten wird, um seine radikalen Ansichten zu vertreten. Es wäre undenkbar, dass das deutsche Fernsehen, staatlich oder privat, heute einen Gründer einer Nazi-Partei ohne weiteres zu Wort kommen liesse, ohne dass dies im Framing einer Warnung vor einer bösartigen Gefahr geschehe. Wir haben uns fast völlig daran Gewöhnt, dass der öffentliche Diskurs in Funktion der Gesinnung abläuft. Die sog. „cancel culture“ ist kein aufkommendes, punktuelles Phänomen, sie ist Teil unseres Zeitgeistes.
Ab und zu lassen sich Stimmen hören, die sich gegen diese „cancel culture“ erheben, vor einigen Wochen tat es Friedrich Merz, kürzlich der NZZ Chefredakteur Eric Gujer. Trotzdem betreiben sie alle zugleich die Gepflogenheiten, die diese „cancel culture“ ausmachen. Wertschätzende Qualifizierungen und Bezeichnungen sind unverzichtbarer Teil des öffentlichen Diskurses, wenn man von den „rechtsextremen Protesten“ oder „Corona-Leugnern“ spricht, wenn man Ideen pauschal als „Verschwörungstheorien“ abtut, wenn man durchgehend den „unprovozierten Einmarsch Russlands in die Ukraine“ betonen muss, und, vor allem, wenn man Leute oder Phänomene durch Kontaktschuld diskreditieren möchte. All das sind im Grunde nichts anderes als Erscheinungen von „cancel culture“: Indem ein Etikett verpasst wird, soll etwas oder jemand als unzulänglich gebrandmarkt werden, und jeder hat sich daran zu halten, wenn er nicht selber auf diese Art geächtet werden will. Würde heute ein Journalist ein derart objektives Porträt von George Lincoln Rockwell präsentieren, würde er sofort der Nazi-Verherrlichung, Holocaust-Leugnung, des Rassismus und des Antisemitismus angeklagt, und könnte seinen Job an den Nagel hängen.
All diese qualifizierenden Bezeichnungen sind schlussendlich nichts anderes als die Verweigerung der Debatte, der Entzug der Stimme im öffentlichen Diskurs ohne die Möglichkeit, die eigene Position für sich sprechen zu lassen. Stattdessen erlangt die Frage, wer eine Ansicht äussert, ein grösseres Gewicht als die Ansicht selber, und sobald eine Ansicht von „Verschwörungstheoretikern“, „Rechtsextremen“, „Corona-Leugnern“, „Klima-Leugnern“ geäussert wird, hat schon im Vornherein keinen Wert. Wie schon in der Publikation Der dialektische Kindergarten erläutert, wird die Aussage dadurch untragbar, dass sie von einer zuvor schon etikettierten Person geäussert wird, anstatt dass die Äusserung selber gewertet wird. Alle bedeutenden Medien, Politiker, Prominente und sonstige Menschen mit einem Einfluss auf den öffentlichen Diskurs folgen dieser Handlungsweise, aus dem einfachen Grund dass sie sonst selber ausgeschlossen werden, so wie jemand, der sich gegen einen mittelalterlichen Hexenprozess ausgesprochen hätte, selber der Hexerei angeklagt worden wäre. Die geschlossene Gesellschaft, die diesen Diskurs führt, lauert sich gegenseitig auf um anhand der „cancel culture“ andere beseitigen zu können, sie macht sich so dieses Phänomen selber zu Nutze, während sie es zugleich vorantreiben.
Begründet wird dieses Verhalten damit, dass man radikalen oder gar „gefährlichen“ Ansichten keine Plattform bieten will. Die Gesellschaft soll damit zu ihrem eigenen Wohl bevormundet werden, da die Ansicht vorherrscht, dass erwachsene, mündige Menschen dem ersten Unsinn dem sie im Fernsehen hören hinterher rennen werden, bzw. dass die Unterbindung solcher Ansichten es verhindern wird. Die Gesellschaft hat sich zuvor schon Grenzen auf die freie Meinungsäusserung gesetzt, welche im Gesetz festgelegt sind: Drohungen, Verleumdungen, Aufrufe zur Gewalt, usw., können gesetzlich geahndet werden. In dem Moment aber, wo der öffentliche Diskurs entscheidet, eine andere Grenze zu setzen, welche nicht mit der gesellschaftlichen, und folglich gesetzlichen, übereinstimmt, beginnt unweigerlich der Teufelskreis, der eventuell als „cancel culture“ erkannt wird, in dem Moment wo er aber infolge seiner Entwicklung die grotesken Züge annimmt, die heute zu sehen sind. In dem Moment in dem z.B. ein Medium eine Entscheidung trifft darüber, welche Ansichten wiedergegeben werden sollen oder dürfen, wird es vom passiven Vermittler zu einem Akteur, welcher aktiv entscheidet, welcher Diskurs stattfinden darf. Entsprechend wird alles was berichtet wird implizit als Standpunkt dieses Akteurs gedeutet, wodurch dieser nun nicht mehr neutral und objektiv berichten kann, da sonst die Unterstellung droht, selber die präsentierten Ansichten zu vertreten. Folglich kann nur noch in Funktion der Gesinnung berichtet werden: Gesinnungsgenossen können ohne weiteres zu Wort kommen, Gesinnungsgegner können nur unter dem entsprechenden Framing vorgezeigt werden. In einer solchen Situation ist es nur eine Frage der Zeit, dass die unterschiedlichen Stimmen sich mit der Engstirnigkeit ihrer Gesinnung überbieten, da es ihnen die Kapazität gibt, andere zu belehren, wodurch sie blossgestellt werden und in die Bredouille kommen, selber mit ihrer Gesinnung nachzuziehen, oder selber „gecancelt“ zu werden.
Selbst die, die zumal die „cancel culture“ beklagen, machen deshalb mit, reden von „Leugnern“ und „Verschwörungstheoretikern“; zeigen mit dem Finger auf Trump, Russland oder die AfD; und hüten ihre eigene Zunge, um keine Ansichten zu äussern, die ausserhalb des Gesinnungsspektrums liegt. Sie trauen sich selber nicht, mit Taten statt Worten der „cancel culture“ entgegenzutreten, weil sie, bewusst oder unterbewusst, genau wissen, wie dieses System funktioniert und dass sie Teil davon sind. „Cancel culture“ ist bereits ein tief verwurzelter Teil unseres Zeitgeistes.