Zugaben
Ich gebe es gerne offenherzig zu, seit ich Bücher schreibe, lese ich keine mehr. Und das aus gutem Grunde! Lese ich Schlechte, rege ich mich nur unnötig auf und mir droht Bluthochdruck oder ein anständiger Herzinfarkt. Lese ich hingegen unverhofft Gute, so ergreift mich sicherlich eine tiefe dunkle Depression, die ich mir weder mental, noch wirtschaftlich leisten kann. Außerdem kämpft mein Therapeut noch mit der Letzten. Vielen ergeht es ähnlich wie mir. Sie sind von anderen Büchern so eingeschüchtert, dass sie aus geradezu religiöser Ehrfurcht es unterlassen selbst welche zu schreiben. Ich kenne persönlich so einen Schriftstellerkollegen, der noch nie etwas geschrieben hat, aus oben genannten Gründen. In seinem Fall kann ich das sehr gut verstehen, denn er ist schon als Mensch indiskutabel.
Alleine schon der Gedanke, ich müsse, aus falsch verstandener Solidarität zu einem Kollegen oder gar als Freundschaftsdienst, etwas von ihm lesen, würde mich um den Schlaf bringen. Zum Glück schreibt er nicht! Mir reicht es schon, wenn er spricht. Denn ich fürchte, so wie er spricht, schreibt er auch. Nicht nur seine enervierende schrille Stimme, mit dem ausgeprägten „S“-Fehler, aufgrund einer Zungenfehlstellung, sondern auch seine nichtvorhandene Modulationsfähigkeit, sein Unvermögen auf Punkt zu sprechen und nicht jede bedeutungslose Nichtigkeit in der Luft hängen zu lassen, dass man nie weiß, wann er endlich fertiggesprochen hat. Nein, das Allerschlimmste ist sein monotoner nasaler Singsang, die jede Schlaftablette überflüssig macht. Selbst so banale Sätze, wie nach der Uhrzeit zu fragen, führt bei mir zu einer kaum noch zu steuernden Aggression. Ich muss dann stets alle meine positiven Eigenschaften aufrufen, um ihm keine runterzuhauen.
Einzig wenn er mein neustes Buch lobt, entspanne ich etwas. Dann klingt es auch irgendwie menschlich! Ich hege sogar den Verdacht, er nimmt extra für seine stets positive Rezension, sich einen Phonetiklehrer, eine Rhetorikkoriphäe und einen Atem- und Stimmtrainer. Und erst dann, nach wochenlangem harten Training, wagt er sich dann vor mich zu treten, um mein Buch zu glorifizieren, zu Lobpreisen und in die höchsten Sphären der Hochkultur zu heben. Wobei ich allerdings darauf dränge, mir die Hymnen telefonisch durchgeben zu lassen, da ein persönliches Aufeinandertreffen, die Gefahr birgt, er könnte darüber hinaus sich hinreißen lassen, mir noch irgendwelche sinnlosen Geschichten aus seinem Leben mitzuteilen. Telefonisch habe ich jederzeit die Möglichkeit ihn einfach wegzudrücken, wovon ich stets regen gebrauch mache. Wen interessiert schon sein trauriges Leben. Einmal, nach einer ausgiebigen und mir schmeichelnden Begeisterungssturm ob meiner literarischen Expertise, wagte er es doch tatsächlich, einen Wunsch zu äußern. Und das just in dem Moment wo ich eine schwache Minute hatte und leichtsinnigerweise gestattete ich es ihm. Schamlos nutzte er diese kleine Schwäche meinerseits, die ich ihm jedoch dreifach zurückzahlte.
„Schreib doch mal was über mich!“
Noch heute klingen mir diese Worte unangenehm in den Ohren. Und ich tat damals etwas, was ich nie für möglich gehalten habe, ich versprach es ihm. Warum und weshalb ich dies getan habe, bleibt für immer ein Rätsel. Leider hat er das Gespräch mitgeschnitten und so konnte ich mich nicht auf ein Missverständnis berufen. Es war bereits der zweite Fehler, den ich leichtsinnigerweise begehen habe. Der Erste war, ihm die Erlaubnis zu geben mich duzen zu dürfen. Das hatte er sich zum Geburtstag gewünscht und da ich kein Geschenk für ihn hatte, erlaubte ich es ihm großzügig. Allerdings gestattete ich es ihm nur dann, wenn wir unter uns waren. In der Öffentlichkeit oder wenn er von und über mich erzählt, solle er weiterhin mich siezen. Er war so dankbar ob dieser großen Ehre, das er es beim Leben seiner Eltern versprach. Doch da diese bereits sehr alt und nur noch wenig Zeit auf Erden haben werden, ließ ich es mir sicherheitshalber schriftlich vor einem Notar bestätigen. Nebenbei bemerkt ist es doch erstaunlich, welche hohe Summe so eine kleine krakelige Unterschrift kostet. Zum Glück musste ich sie ja nicht zahlen!
Jetzt waren wir offiziell per Du und somit befreundet! Ein Umstand, der mir erst danach bewusst wurde und mich in eine tiefe Depression führte.
Doch nun stand ich vor dem schier unlösbaren Problem, über ihn etwas zu schreiben. Aber was soll man über einen absolut langweiligen Menschen schreiben, an dem nichts, aber auch wirklich nicht interessantes zu berichten ist. Drei Tage und Nächte brütete ich über einem leeren Blatt Papier, auf dem ich mir Stichworte, Zitate oder andere Weisheiten, die er einmal verkündet hat und das sicher, ohne zu wissen, was er da gesagt hat. Das Ergebnis war so erwartbar wie niederschmetternd. Seit wir uns kennen, hat er nicht einen Satz von sich gelassen, dem man mit dem Attribut „sinnvoll“ auszeichnen könnte. Ich war kurz davor, aus purer Verzweiflung, ihn anzurufen und ihn zu bitten, schnell mal etwas spontan Geistvolles zu sagen. Die Absurdität meines Vorhabens wurde mir leider in dem Augenblick bewusst, nachdem ich die Nummer gewählt hatte. Die Hoffnung, er möge nicht zuhause sein, zerschlug sich augenblicklich.
„Du rufst mich an?“, hörte ich ihn, mit zittriger und ungläubiger Stimme sagen.
Die Frage, ausnahmsweise sinnvoll, war berechtigt, denn bislang gab es für mich auch keinerlei Grund für ein persönliches Gespräch.
Ich bringe nur einmal im Jahr ein neues Buch heraus und das teile ich ihm per SMS mit. Dann weiß er was er zu tun hat und eilt augenblicklich in eine Buchhandlung um drei Bücher zu kaufen. Das war eine Vorgabe von mir, um den Buchverkauf anzukurbeln. Diese Maßnahme erklärte ich ihm schlüssig, mit den folgenden Worten:
„Ein richtiger Literaturkenner und Liebhaber, insbesondere meiner Bücher, benötigt exakt drei Bücher. Nur wer drei Bücher kauft, beweist seine Leidenschaft, sein wahres Interesse und der zeigt seine unendliche Liebe zu dem Schriftsteller seines Herzens. Das erste Buch ist für den persönlichen geistigen Verzehr. Das Zweite dient der Zurschaustellung und wird eingeschweißt sorgsam im Bücherregal aufbewahrt. Und das Dritte wird an den zu verehrenden Schriftsteller versandt, als unumstößlicher Beleg für den Ankauf. Das ist verbindlich und so gesetzlich manifestiert!“
Zwar würde der letzte Satz nicht vor Gericht standhalten, aber dafür machte er großen Eindruck!
Dass ich ihn nun zum Ersten mal anrief, machte ihn stolz und glücklich und sprachlos. Letzteres machte mich wiederum glücklich, denn unterhalb meines Niveaus mich zu unterhalten wiederstrebt mir zutiefst. So konnte ich, ohne unnötige Unterbrechung, mein Anliegen vorbringen.
„Ich gehe davon aus, du bist alleine, sonst gehört sich die Sie-Form!“, stellte ich klar.
„Ja ...“, sagte er zögerlich, immer noch von meinem Anruf übermannt.
„Kein weiteres überflüssiges Wort!“, mahnte ich an, um ihm unser Gespräch zu erleichtern.
Nicht selten hat schon ein falsches Wort jede Menge Freundschaften zerstört!
„Hör zu, sag nichts!“, wiederholte ich meine Warnung.
Was folgte, war ein langanhaltendes devotes Schweigen. Damit war die Grundlage für ein zielführendes Gespräch gelegt.
„Ich arbeite gerade an deiner Geschichte. Es wird ein literarischer Hochgenuss, der dir ein Denkmal setzen wird. Doch eines bedenke, es sind die negativen Figuren in Romanen, die nachhaltig wirken. Ich erinnere an Kapitän Ahab, der von einem Wal namens Moby Dick getötet wird. Oder denke an Quasimodo, der von den Parisern verlacht wird. Nicht zu vergessen Dracula, der von van Helsing einen Holzpflock ins Herz getrieben bekam. Hätten die drei überlebt, würde heute niemand mehr von ihnen reden. Ich plane nun, Worte für dich zu finden, die dich unsterblich machen werden. Doch es kann Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte dauern, bis ich die Geschichte erschaffen haben werde. Von Nachfragen über den Stand der Entwicklung bitte ich abzusehen, da es nur meine Kreativität im Keim ersticken würde.“
Sein langanhaltendes Schweigen zeigte mir eindrücklich, dass er meine Worte verstanden hatte oder eben nicht. Für mich war das nicht weiter relevant. Entscheidend war, für die nächsten Jahre hatte ich Ruhe! Ich beendete das Gespräch und widmete mich einer wesentlich interessanteren Person. Ich nahm ein ausgiebiges Vollbad. Denn irgendwie fühlte ich geistig mich beschmutzt von dem Gespräch. Lavendelblütenduft beruhigte mich wieder. Ich weiß nicht wieso, aber er regt mich sogar dann auf, wenn er nichts sagt.
Tage später, die Erinnerung an meinen Freund war schon fast verblasst, als das Telefon klingelte. Auf dem Display erschien: „Unbekannter Anrufer!
Das hätte mir Warnung sein müssen, doch meine unstillbare Neugierde trieb mich und ich ging ran. Er war dran. Er, den ich bis eben noch erfolgreich verdrängt hatte, trat wieder ungefragt in mein Leben. Diese Klette! Dieses Groupie! Dieser kriminelle undankbarer Stalker! Entsprechend ungehalten fiel auch meine Begrüßung aus.
„Was?“, sagte ich nur knapp.
„Ich störe dich doch nicht aber ...“
Weiter kam er nicht. Sofort zerstörte ich seine Fehleinschätzung, noch ehe sie sich bei ihm festsetzen konnte.
„Doch!“, raunzte ich ihn an.
„Oh das tut mir leid!“
„Dafür ist es nun zu spät. Was willst du?“
„Entschuldige, ich rufe dich lieber nochmal an, wenn ich nicht störe!“, versuchte er vergebens, seinen kapitalen Fehler auszubügeln.
Ich antwortete, wie man zu antworten hat, wenn man ungefragt angerufen wird, indem ich ihn kommentarlos wegdrückte.
„Nicht an ihren Worten, an ihren Taten sollt ihr sie erkennen!“(FN 1. Johannes 2,1-6FN) , war schon von jeher meine Devise und nur wegen ihm werde ich auch nicht davon abweichen. Ich hatte ja mit allem gerechnet, nur nicht mit seiner Hartnäckigkeit! Zweifellos legte er es darauf an, unsere langjährige Freundschaft zu zerstören, indem er es doch tatsächlich wagte, erneut anzurufen.
So viel Chuzpe hatte ich ihm gar nicht zugetraut. Fast schon wollte ich ihm Respekt dafür zollen, doch glücklicherweise konnte ich mich gerade noch davon abhalten. Ich hätte mich ja sonst unglaubwürdig gemacht und mich im Spiegelbild nicht mehr ansehen können. Mit einem kräftigen Handkantenschlag gegen meine Schläfen brachte ich mich wieder zur Besinnung.
Wer weiß, was sonst passiert wäre, wenn ich diese für mich sehr schmerzhafte Handlung nicht vollzogen hätte. Womöglich könnte ich ihn, in einem Zustand geistiger Umnachtung, zu mir einladen und ihn mit einer herzlichen Umarmung begrüßen. Selbst das grauenhafte Bild eines Bruderkusses stand drohend im Raum. Mich schauderte es bei dem Gedanken!
Erst ein zweiter, noch kräftigerer Schlag, links und rechts auf die Wangen, ließ mich aus meiner apokalyptischen Gedankenwelt wieder aufwachen. Kurzerhand ordnete ich ihn wieder dort ein, wo er hingehörte, in die Kategorie:
Dinge, die die Welt nicht braucht!
„Ich dachte, es war alles geklärt!“, erklärte ich ihm unmissverständlich, mit einem bedrohlichen Tonfall, der noch nie seine Wirkung verfehlt hat.
„Wir wurden eben unterbrochen! Ich bin wohl in ein Funkloch geraten.“, entschuldigte er sich.
„Nur um mir das zu sagen, hättest du nicht anrufen müssen!“, erwiderte ich und drückte ihn abermals weg.
Spätestens jetzt, denn noch deutlicher ging es kaum, sollte er den Wink verstanden haben, doch ein abermaliges Klingeln belehrte mich eines besseren. Warum er außer mir keine anderen Freunde hat, zeigte sich an diesem kleinen Beispiel. Ich beschloss, mein Smartphone auszuschalten und vorsichtshalber auch die SIM-Karte zu entfernen. Ich habe wenig Vertrauen in die Technik und gehe daher immer auf Nummer Sicher. Ab diesem Moment war Ruhe.
„Soll er sich doch zu Tode wählen!“, dachte ich und war mit mir und meiner Entscheidung höchst zufrieden.
Am nächsten Morgen fand ich eine Postkarte im Briefkasten.
Das Motiv sah sehr ansprechend, geradezu lukullisch aus. Ein höchst attraktives Wiener Schnitzel, goldgelb in feinstem Butterschmalz gebraten, dazu ein verlockender Kartoffelsalat, nach Großmutters Art. Eine erfrischende Zitrone, aus einem italienischen Hain, direkt mit dem Flugzeug importiert, nur um das Wiener Schnitzel zu säuern und ihm so einen Geschmack zu verleihen, der zu einer Explosion im Gaumen führt. Neben dem Teller stand ein kristallschüsselchen, indem sich eine Sortenvielfalt an knackigem Salat, Spalten saftigster Tomaten, Gurken aus dem Spreewald, Bambussprossen aus Fernost, Scheiben glücklichster Hühnereier und frisch geröstete Croûtons lagen. Benetzt war das Ensemble vitaminischer Rohkost mit einem cremigen, gut abgestimmten Joghurtdressing, indem sich die feinsten Gartenkräuter aus der Provence befanden. Zweifelloser Höhepunkt und Eyecatcher dieses Firstclassspitzenmenues war das passende erfrischende Kaltgetränk. Wie ein Leuchtturm in der Tiefebene einer nordfriesischen Insel, ragte es sich in die Höhe. Das Weißbier! Frisch gezapft und goldgelb. Die Königin deutscher Braukunst in Reinkultur.
Mir liefen die Tränen hinab, ob so viel Schönheit! Was gäbe ich nicht alles dafür mich nun, nein jetzt sofort über diese Köstlichkeiten herzumachen und meine Geschmacksknospen zum kollektiven Jubilieren zu bringen. Ich konnte nicht anders, ich strich vorsichtig mit meiner Zunge über gastronomische und verheißungsvolle Stillleben.
Doch was das Bild versprach, konnte die schnöde Karte nicht halten. Das über den Tellerrand weit hinaus überlappende goldgelbe und krosse Schnitzel schmeckte nach Pappdeckel. Enttäuscht und erschüttert in seinen Grundfesten, zog sich meine Zunge beleidigt zurück in den sicheren Schoß meiner Mundhöhle. Ich wisch mir die kleinen Spuckebläschen, die bereits Fäden zogen, aus den Mundwinkeln. Mit verächtlicher Miene warf ich die desaströse Postkarte aus dem Fenster. Wäre es jedoch offen gewesen, hätte ich wohl niemals von der Besonderheit dieser Postkarte Kenntnis erlangt. So begab es sich, dass die Karte zwar zielsicher die Fensteröffnung traf, prallte jedoch von dem Glas ab und segelte sanft zu Boden. Ermattet blieb sie dort liegen. Jedoch erging es ihr nicht anders wie dem wohl berühmtesten Marmeladenbrot ever, welches vom Tisch fällt und stets auf der Marmeladenseite aufschlägt. So und nicht anders, ich schwöre, erging es auch der Postkarte. Und so offenbarte sie unfreiwillig etwas, was ein gut gehütetes Geheimnis von ihr war. Die Postkarte hatte nämlich eine Rückseite und nicht nur das! Sie war beschrieben. Schon von oben erkannte ich, anhand der krakeligen Kinderschrift, die mit einem grünen Buntstift wenigen Worte in Schreibschrift. Da hatte mir also ein kleines Kind geschrieben. Vermutlich Grundschule. Erste oder maximal zweite Klasse, so meine Einschätzung.
Leider konnte ich, durch die Entfernung, Augen zu Boden, nicht erkennen, was das Begehr des mir fremden Kindes war.
Nun gab es nur eins! Einer musste sich erbarmen und näher zu dem anderen kommen. Entweder die Augen zum Boden oder der Boden zu den Augen. Ich ahnte schon bei dem Gedanken, der Boden würde sich nicht aufmachen. Ein Entgegenkommen war von ihm nicht zu erwarten. Und ohne Mitwirkung meines gesamten Körpers war es den Augen ihrerseits unmöglich, selbständig sich auf den Weg zu machen. Ein Kompromiss zwischen den beiden Kontrahenten nicht in Sicht. Also gab ich, als gänzlich Unbeteiligter dieses Disputs nach und ging vor der Karte in die Knie. Es verging eine geraume Zeit, bis der Körper sich komplett absenkte und hernach sich wieder erheben konnte.
Es war ein Kampf der Neugierde gegen die Bequemlichkeit. Doch wie so oft im Leben siegte die Neugierde, gegen den drohenden Verlust der körperlichen Unversehrtheit.
Sofort begann ich begierig den Inhalt der Karte zu inhalieren.
„Hallo Du, überall wo ich auch hinkomme, scheint ein Funkloch zu sein. Ich erreiche dich nicht. Ich wollte dich doch gerne zum Essen einladen! Schreib mir doch bitte postalisch zurück, ob und wann du kommen möchtest. Aber ich verrate nicht, was es geben wird. Allerdings habe ich einen kleinen Hinweis auf dieser Karte versteckt, der aber nur schwer zu entschlüsseln ist. Liebe Grüße!“
Da lag es nun also in Grün vor mir! Ein unglaublich verlockendes Angebot auf ein leckeres kostenloses Essen, mit einem Freund, den ich nicht mag.
Ich war in einer Zwickmühle gefangen! Alleine die Vorstellung auf ein perfekt zubereitetes zartes Kalbsschnitzel, gepaart mit dem kläglichen Versuch, mich auf seine ungelenken Konversationsbemühungen einlassen zu müssen! Quälendes Gespräch gegen meine Leibspeise! Himmel gegen Hölle!
Die ganze Nacht lag ich wach. Unfähig ein Auge zuzumachen, da der Magen permanent knurrte. Nur zur Vorsicht hatte ich mich auf eine strenge Diät gesetzt, für den Fall ich nehme die Einladung an. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich satt zu ihm gegangen wäre und auf der halben Strecke des Schnitzels kapitulieren müsste. Das wäre wie eine Jungfrau besuchen und sie in dem Zustand zurückzulassen.
Nach einer schlaflosen Nacht hatte ich mir einen Plan zurechtgelegt, den ich für praktikabel und vielversprechend hielt.
Auch eine gewisse Originalität konnte ich darin erkennen.
Voller Stolz auf mich und Tatendrang, ging ich die Sache an.
Wobei, um der Wahrheitsliebe Tribut zu zollen, muss ich eingestehen, so ganz ausgereift war er noch nicht. Es war mehr die Hülle eines Planes, der noch inhaltlich ausgestaltet und gefüllt werden musste. Doch wenn es um einen wasserdichten Plan, den niemand je durchschauen wird, geht, war ich recht zuversichtlich. Ich vertraute auf meine Erfahrung, mein Wissen und meine zu Recht gefürchtete Schlitzohrigkeit, gepaart mit einem unerschöpflichen Reservoir an schauspielerischen Mitteln. Tarnen und Täuschen war von jeher meine Bastion! Mit dem gehörigen Selbstvertrauen begann ich mit dem Schlachtplan, auf den selbst Napoleon neidisch gewesen wäre. Ich verließ meine Wohnung, die ein Molloch der kreativen Diaspora war und zog hinaus in Gottes weite Natur, wo ich ungestört nachdenken konnte. Der Kinderspielplatz war, trotz des launigen Sommertages, wenig bevölkert. Eine Tatsache, die ich mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm. Nur ein kleiner dicker Junge, unter den Habichtsaugen seiner Mutter, die ihm körperlich in nichts nachstand, schaukelte, unter dem Ächzen der Schaukel, fröhlich vor sich hin. Sehr zu meinem Missfallen! Denn das was mich hierher trieb, war ausgerechnet diese Schaukel. Schaukeln bringt nun einmal meine Gedanken in geistige Schwingungen. Doch hundert Pfund Fleischmasse standen, bzw. schaukelten und versperrten mir so den Weg, hin zu meinem Ziel. Doch so leicht ließ ich mich von meinem Vorhaben nicht abbringen, dem Entern der Schaukel. Ich setzte mich auf eine Bank und setzte zusätzlich meinen Gefürchteten „Runter von meiner Schaukel“ Blick auf. Den hält niemand länger aus!
Doch unverhofft musste ich erkennen, die ausgefeite Strategie wirkte nicht so recht. Obwohl ich ihn mit meinem zerstörerischen Blick minutenlang anstarrte, prallte er bei dem Koloss ab.
„Na gut!“, dachte ich und griff zu einer neuen Taktik.
Dann eben psychologische Kriegsführung! Nur in besonders extremen Situationen greife ich zu diesem Mittel, denn es ist nicht ungefährlich. Für den anderen! Zwar habe ich es noch nie an einem Kind ausgetestet, aber vom Gewicht her, war er als vollwertigen Erwachsenen anzusehen. Das Besondere an meiner Form der psychologischen Kriegsführung besteht darin, ich kämpfe über die Bande. Das habe ich beim Billard gelernt. Dabei stößt man die Kugel gegen die Bande, sie prallt ab und trifft auf die gewünschte andere Kugel und versenkt sie im Loch. Meine Bande war die Mutter, die sich gerade einen Döner einverleibte.
„Darf ich?“, grüßte ich höflich und wies auf die freie Stelle neben ihr.
„Hmmm!“, vernahm ich aus dem Döner.
„Wow!“, dachte ich, denn offensichtlich hatte sie die Fähigkeit gleichzeitig zu essen und Konversation zu betreiben.
Ihr „Hmmm“ deutete ich als: „Ja nehmen Sie ruhig Platz und es freut mich, Sie kennenzulernen, an so einem schönen Sonnentag!“
Es ist schon erstaunlich, was in so einem kleinen „Hmmm“ alles drinsteckt. Alles nur eine Frage der Deutung!
In jedem Falle hatte ich nun ihr Vertrauen und konnte Stufe zwei zünden.
„Ein reizendes Kind! So sportlich! Sie müssen sehr stolz auf ihn sein.“
Sie lächelte mich durch den Döner an und mein vergiftetes Lob wirkte. Hoffnungslos verloren, klebte sie bereits jetzt schon in meinem Spinnennetz, ohne es auch nur zu ahnen.
Dann seufzte ich laut auf, um ihr Interesse auf mich zu lenken.
Doch mein größter Gegner, der Döner, war stärker. Die Frau dachte gar nicht daran, ihre kariösen Zähne aus ihm herauszuziehen.
„Der sieht ja sehr appetitlich aus!“, log ich, mit vielsagendem Blick auf das zermanschte Ding.
„Hmmm!“, glaubte ich aus dem Schmatzen, zu hören.
Wahrscheinlich meinte sie: „Ja er ist einfach zu delikat. Wohl gewürzt und fein abgeschmeckt. Ein Fest für alle Sinne!“
Dann setzte ich an zu dem finalen Dolchstoß.
„Ich beneide den Jungen, so schön schaukeln zu dürfen. Meine Eltern haben es mir als Kind stets verboten, wegen der Hämorriden.“
„Hmmm?“, entfuhr ihr eine durchaus berechtigte Frage.
„Ja meine Eltern waren sehr besorgt um mich und meine Gesundheit. Unmäßiges Schaukeln befördert das Wachstum von Hämorriden! Hat Sie denn ihr Kinderarzt darüber nicht aufgeklärt? Den würde ich sofort wechseln und ihm eine Klage an den Hals wünschen, wegen unterlassener Hilfeleistung oder“
Ein lautes Husten und Röcheln, welches von einem Verschlucken diverser Fleischstücke in Soße herrührte, machte mich sicher, die Mutter hatte die Botschaft verstanden. Nun konnte ich beruhigt abwarten. Und tatsächlich, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, tat sie, was ich erwartet und provoziert hatte. Sie wischte ihren Mund ab, an dem die Joghurtsoße herabfloss und rief nach ihrem Sohn.
„Pascal-Frederick, komm sofort von der Schaukel! Sofort! Hörst du nicht Pascal-Frederick?“
Doch Pascal-Frederick dachte gar nicht daran zu entschaukeln! Er ließ die Mahnung seiner Mutter im Wind verpuffen. Hilflos musste sie mit ansehen, wie sehenden Auges die Hämorriden ihres Sohnes bereits zu wuchern begannen.
„Pascal-Frederick, wenn du jetzt sofort herkommst, dann bekommst du ein lecker Döner!“
„Einen!“, wollte ich ihr noch zurufen, doch da kam Pascal-Frederick angelaufen, nahm seine Mutter an die Hand und zog sie Richtung Dönerbude.
Nun war der Weg frei! Sieg auf ganzer Linie!
Kaum saß ich auf der Schaukeln, begann ich sie in Bewegung zu setzen. Nach einer vorsichtigen Phase des Anschaukelns wagte ich, allen Mut zusammenzunehmen, den Aufschwung in unbekannte Höhen. Immer waghalsiger wurde ich. Meine Synapsen im Gehirn gerieten endlich auch in Bewegung und konnten sich frei entfalten. Eine Idee nach der anderen schoss mir durch den Kopf. Zwei Stunden später und mein Plan stand fest, wie ich an mein Wiener Schnitzel kommen konnte, ohne mir den Abend zu verhunzen.
Dies war auch höchste Zeit, denn von der ganzen Schaukelei war mir hundeelend geworden! Orientierungslos und schwankend versuchte ich, durch das große Tor des Spielplatzes zu kommen.
Beim dritten Versuch gelang mir das auch, wenngleich mit zerrissener Jacke und Prellungen am Oberkörper. Aber was ist das schon, im Vergleich zu meinem wasserdichten Plan. Den gesamten Nachmittag nutzte ich zur persönlichen Rekonvaleszenz. Inzwischen waren es zwei Tage ohne Aufnahme von Lebensmitteln. Ich brauchte die freigewordenen Ressourcen für das beste Wiener Schnitzel ever. Entsprechend war auch meine Laune. Dann war der große Moment gekommen.
Mit leichter Nervosität und feuchten Händen, ergriff ich mein Smartphone und rief ihn an.
„Du rufst mich an? Was für eine Ehre! Du sagst mir doch nicht etwa ab?“, sprudelte es aus ihm raus und in der letzten Frage schwang eine Mischung aus Verzweiflung, Trauer und Hoffnungslosigkeit mit.
„Wenn du jetzt anfängst zu heulen, lege ich sofort auf!“, unterbrach ich ihn sofort.
Ab da war nur noch Schweigen zu hören, was ich ihm hoch anrechnete. Es war Balsam für mein ohnehin schon strapaziertes Nervenkostüm.
„Pass auf, hör zu und unterbrich mich nicht!“, wies ich ihn an.
Er brauchte diese klaren Anweisungen, wenn unser Gespräch einen guten Verlauf nehmen sollte.
„Also, bevor ich die Einladung final annehme, habe ich zuvor einige wenige unbedeutende Fragen. Diese sind kurz und knapp, am liebsten mit einem Klaren Ja oder Nein zu beantworten, um dieses Gespräch nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Verstanden?“
„Ja!“, kam es zögerlich.
Sehr gut, du lernst schnell! Erste und wichtigste Frage: Du kannst auch wirklich kochen?“
„Ja ich ....!“
„Ein Ja genügt! Denk an die Regeln.“, musste ich erzieherisch eingreifen.
Sein Schweigen verriet mir, er nickte, als Zeugnis, es nun endgültig verstanden zu haben.
„Und ich bekomme ein Wiener Schnitzel, so wie es auf der Karte zu sehen ist, dazu ein frisch gezapftes Weißbier?“
„Ja!“, war die knappe Antwort.
„Gibt es weitere Gänge und wenn ja, wie viele?“
„Ähm ...“, hörte ich, nach leichter Verzögerung, stotterhaft.
„Nicht: Ähm, sondern ich will ein klares Ja hören und eine Zahl!“, musste ich ihn erneut ermahnen.
„Drei?“, kam es zaghaft.
„Fünf!“, erhöhte ich, um ihm die Chance zu geben, sich zu beweisen.
„Ja!“, war denn auch die von mir erwartete und einzig akzeptierte Antwort.
„Gut! Schicke mir eine SMS mit deinem Menüvorschlag. Dann klären wir die weiteren Schritte.“
Mit diesem eindeutigen Arbeitsauftrag legte ich auf, denn mehr war zur Zeit nicht zu besprechen.
Eine halbe Stunde verging. Nichts tat sich.
Sowohl ich, als auch mein Bauch knurrten ungeduldig vor uns hin. Dann der erlösende SMS-Ton. Mir lief schon das Wasser im Munde zusammen und ein Rinnsal ergoss sich vom Kinn herab, direkt auf mein Hemd. Doch dieser Umstand brachte mich nicht aus der Ruhe, denn die Reinigung würde er bezahlen müssen. Schließlich trug er die alleinige Schuld für den Speichelfluss. Wenn ich mir selbst etwas Koche entsteht der nie. Rasch überprüfte ich seine Menükarte, die an einigen Stellen mir noch etwas zu ungenau waren.
„Als Beilage Kartoffeln!“, stand da.
Das war absolut ungenügend. So etwas ist zu spezisieren! Auch der handgeschöpfte Käse ließ Fragen offen. Höhepunkt der Ungenauigkeit war jedoch das Dessert.
„Halbgefrorenes, übergossen mit hausgemachtem Rumtopf!“
Was soll man mit so einer schwachen Information anfangen? Nichts! Eine präzise Darstellung meines Abendessens stellte ich mir anders vor. Jedoch die größte Frechheit war, es fand sich kein Hinweis auf die diversen Weine, die passend zu jedem Gang gereicht werden müssten. Der erwartet doch wohl nicht ernsthaft, ich würde mich mit dem zum Schnitzel passenden Weißbier, die anderen Gänge gaumentechnisch versauen. Festentschlossen sah ich mich genötigt, nun die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Ich konnte ja nicht zulassen, dass er sich bis auf die Knochen blamiert vor mir. Trotz meines Widerwillens und persönlicher Antipathie, entschloss ich mich großherzig, ihn erneut anzurufen.
„So geht es ja nun wirklich nicht!“, begrüßte ich ihn und ehe er auch nur ein Wort seines Unvermögens sagen konnte, wies ich ihn an zu schweigen, bis ich den Befehl aufhebe. Wortlos folgte er meiner Anweisung.
Es ist auch das Einzige was ich an ihm schätze, diese devote Unterwürfigkeit.
Schnell gab ich ihm meine Änderungen durch. Ich hatte mir sogar die Mühe gemacht, für ihn Weine herauszusuchen, die er mir anbieten darf. Das würde ich auch nicht für jeden tun. Aber so bin ich nun mal. Ein Menschenfreund!
Nachdem wir alles zu meiner Befriedigung durchgesprochen hatten, gab es nur noch ein Problem zu klären. Dies verlangte von mir ein Höchstmaß an Diplomatie. Dementsprechend vorsichtig begann ich.
„Du musst mir das Essen liefern!“
Ich ließ den Satz erst einmal wirken, ehe ich die Erklärung nachschob.
Das verschaffte mir auch die nötige zeit, mir eine entsprechend glaubwürdige Erläuterung auszudenken, die keinen Zweifel an der Redlichkeit meiner Aussage wecken konnte. Wobei ich mir da eigentlich keine Sorgen machen musste, denn besonders aufgeweckt war er ohnehin nicht.
„Ich hatte eben besuch von Professor van Arken, dem Leiter der Seuchenbekämpfung. Ich habe die spanische Grippe. Ich bin durchseucht. Höchstansteckend und nun in einer gesetzlich vorgeschriebenen Quarantäne. Ab jetzt bin ich ein nationales Risiko, wenn ich meine Wohnung verlassen sollte. Mit einmal ausatmen könnte ich das ganze Land infizieren. Ich bin eine epidemische Atombombe! Und Schnupfen habe ich auch noch.
Unter diesen Umständen wollte ich ja das Essen absagen, aber trotz meines schwerinfektösen Krankheitsverlaufs, wollte, nein kann ich dir das nicht antun. Du wärst zutiefst traurig und das möchte ich nicht. Du kannst gefahrlos herkommen und das Essen, sowie die Getränke in den Aufzug stellen. Oben nimmt es dann jemand vom Sicherheitsdienst entgegen. Durch eine eigens eingerichtete Luftschleuse gelangt es dann zu mir.“
Dieses Szenario, was ich da vor ihm ausgebreitet hatte, ließ ich etwas wirken und dann gestattete ich ihm kurz, mir gesundheitliche Grüße zu übermitteln. Dies tat er dann auch, mit tränenunterdrückter Stimme, was mich rührte.
Ich verabschiedete mich von ihm, mit dem Hinweis, er möge unbedingt darauf achten, dass das Essen noch heiß sein wird und die Weine richtig temperiert sein sollen, da es sonst die Krankheit nur verschlimmern würde.
Er sagte noch irgendetwas Unbedeutendes, doch da hatte ich ihn schon weggedrückt.
Punkt acht hörte ich den Aufzug. Ich kontrollierte alles und stellte mit Verärgerung fest, er hatte nicht an ein Amüsgöl gedacht. Typisch Hobbykoch!
Zwei Stunden labte ich mich an den Köstlichkeiten. Und ich muss sagen, als Koch ist er ein wahres Genie, nur als Freund eben nicht zu gebrauchen.
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