1. Das Wahlergebnis ist eigentlich keines.
Wenn  sich aus dem gestrigen Votum eine klare Aussage destillieren lässt, dann die, dass das Wahlvolk mehrheitlich mit dem Angebot nicht einverstanden war, keinen der drei Kandidaten überzeugend fand und lieber weiter Merkel gehabt hätte. Wäre sie noch mal angetreten, sie hätte locker zum fünften Mal gewonnen. Und daher war das auch keine 'Richtungswahl'. Die CDU mag Prozente verloren haben wie sonstwas, wenn am Ende ein maximalst moderater Herausforderer wie Scholz, ein Mann wie ein alkoholfreies Hefeweizen, gerade einmal etwas mehr als ein Prozent mehr holt, dann kann davon nicht die Rede sein, geschweige denn von  Wechselstimmung.

"[Antonio]  Gramsci erklärt die Stabilität und Widerstandskraft bürgerlicher  Herrschaft damit, dass es bestimmten Teilen des Bürgertums gelingt, ihre  Interessen als Allgemeinwohl gelten zu lassen und durch selektive  Zugeständnisse und die Ausbildung integrativer Institutionen den Konsens der Beherrschten zu organisieren. Gelingt es ihnen, eine »politisch-ethische Hegemonie« zu erlangen […], tragen die Massen sogar drastische Veränderungen ihres Alltags als vernünftig und notwendig mit." (Harder/Opratko)

2. Die Doppelstrategie der SPD war erfolgreich.
Die  SPD hat es klug angestellt. Mit Scholz einen einschläfernden Merkel-Nachfolger fürs Kanzleramt präsentiert und gleichzeitig Esken und Kühnert die klassisch sozialdemokratische Flanke beackern lassen. Dass das mal einen Wahlkampf lang ohne Hauen und Stechen geklappt hat, ist für den Verein keine Selbstverständlichkeit.

3. Die CDU adenauert weiter.
Als Armin Laschet gestern Abend vor die Kameras trat und sagte, die künftige Regierung müsse das Land modernisieren und in jeder Hinsicht nachhaltiger machen, mochte man sagen: Pardon, Herr Laschet, kann es sein, dass exakt der Verein, dem Sie angehören und für den Sie da angetreten sind, die letzten 16 Jahre die Kanzlerin gestellt hat und weiß Gott Gelegenheit genug hatte, was in diese Richtung zu bewegen, stattdessen aber jeden Ansatz an Modernisierung konsequent ausgebremst und blockiert hat? Es gibt Länder, etwa im Baltikum, die noch vor 15, 20 Jahren quasi Schwellenländer waren, wo man sich inzwischen über den Zustand der deutschen Infrastruktur scheckig lacht. Aber wie sagte einst  Konrad Adenauer? "Wat kümmert misch mein Jeschwätz von jestern?"

4. Eindeutiger Wahlsieger ist Christian Lindner.
Wenn eine bürgerliche Regierung nach linksorthodoxer Lesart lediglich  Sachwalter des Kapitals ist, dann braucht es keine parlamentarischen Mehrheiten dafür. Zwölf Prozent reichen völlig aus. Denn der Wahlsieger, I told you so, heißt Christian Lindner. Weil er immerso lieb dreitagebärtig dackelblickt vermutlich. Da eine neuerliche große Koalition so unwahrscheinlich ist wie eine 'Kenia'-Koalition (rot-schwarz-grün), in der die Union nicht den Kanzler stellt, wird es allein von Lindner und der FDP abhängen, wer nächster Bundeskanzler wird. Das wird er sich mit dem Finanzministerium und krassen antisozialen Zugeständnissen bezahlen lassen oder er wird noch einmal lieber gar nicht regieren als falsch regieren. Hat ihm beim letzten Mal auch nicht geschadet.

"Wenn die SPD 12 Euro  Mindestlohn will und das auch durchsetzen kann, die Linkspartei 13 Euro  fordert, ohne das realisieren zu können - wen wählt man da? [...] In der  Linkspartei gibt es eine oft wiederholte Phrase. Ja, wenn die SPD  wieder sozialdemokratisch ist, dann reden wir mit ihr über eine  Regierung. Das klang immer selbstgefällig. Es war noch schlimmer -  nämlich dumm. Denn nichts musste die auf Anti-SPD-Kurs fixierte  Linkspartei mehr fürchten als eine SPD, die wieder einigermaßen  glaubhaft sozialdemokratisch auftritt. Denn damit steht mit  zerstörerischer Wucht die Frage im Raum: Wofür braucht man dann die  Linkspartei?" (Stefan Reinecke)

5. Eindeutige Wahlverliererin ist die Linke. -- Aber linke Forderungen können punkten.
Man  kann es der Linkspartei nicht oft genug vorbeten: Moralisch im Recht zu  sein, bringt einem in der Politik erst mal gar nichts. Die Nemesis der  SPD zu sein für ihren Verrat auf Dauer auch nicht Obwohl viele Deutsche  einen diffus-dumpfen Pazifismus pflegen, der sich im gespaltenen Verhältnis zu Bundeswehr und NATO ausdrückt, konnte die Linke auch daraus kein politisches Kapital  schlagen. Einige klassische Forderungen (Mindestlohn, Hartz IV) werden  inzwischen auch wieder von SPD und Teilen der Grünen adressiert.  Vorsichtig sollte man sein mit der Einschätzung, ennervierende Debatten  um Identitätspolitik, Quoten und Gendern hätten Wähler abgeschreckt.  Sahra Wagenknecht als prominenteste innerparteiliche Kritikerin dieser  Entwicklung ist in ihrem Wahlkreis (107/Düsseldorf II) auf gerade mal  3,8 % gekommen. Das Ergebnis des Volksentscheids in Berlin zeigt andererseits, dass genuin linke Forderungen sehr wohl mehrheitsfähig sein können. Und die Modern Monetary Theory sickert gerade von links in den Mainstream ein.

6. Zweite Wahlverliererin ist die CSU.
Die  hat in Bayern mit 33 % das schlechteste Ergebnis seit 1949 (29,8 %)  geholt. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es Hubert Aiwanger,  dem populären Vorsitzenden der im Land mitregierenden Freien Wähler,  gelungen ist, sich und die Freien Wähler teilweise als bessere CSU zu  präsentieren. Es gab Zeiten, da wäre ein CSU-Vorsitzender für so ein  Ergebnis geteert, gefedert und unter allgemeinem Hallo aus der Stadt  entfernt worden.

7. Jamaika wird nicht so einfach werden.
Warum nicht? Aus vier Gründen.

8. Wird Laschet nicht Kanzler, wird die CDU sich nach rechts orientieren.
Sollte  die joviale rheinische Schmunzelmuffe nicht im Kanzleramt landen, wird  das höchstwahrscheinlich das Ende seiner bundespolitischen Karriere  sein. In der Bundes-CDU werden dann diejenigen an Gewicht gewinnen, die  für eine Öffnung nach rechts plädieren (Maaßen, Merz, die Werteunion und  der einflussreiche JU-Chef Tilman Kuban z.B.) und auch Bündnisse mit  der AfD auf Landesebene nicht mehr ausschließen. Nicht ausgeschlossen  auch, dass im Zuge der Stimmenverluste der AfD viele enttäuschte CDUler,  die damals zur AfD gewechselt sind, wieder zurückkehren und  entsprechenden Stallgeruch mitbringen werden

"Dass der Mann  auch am Wahltag seinen Stimmzettel nicht fehlerfrei in die Urne zu  befördern in der Lage war, ist bei jenem Akt der politischen  Selbstdemontage nur folgerichtig. […] Entsprechend umwehte den Slogan  »Laschet kann Kanzler« immer ein Hauch von Satire, und nicht wenige  hatten zwischenzeitlich die Vermutung, der Mann sei von der Titanic in  die Union eingeschleust worden." (Katja Thorwarth)

9. Clumsiness won't kill you
Ich sagte es bereits:  Diverse Affären an der Backe, tapsig-ungeschicktes Auftreten, in  Fettnäpfchen latschen und Mangel an Weltläufigkeit haben in Deutschland  noch nie einen vom Kanzleramt ferngehalten. Nicht Helmut Kohl, nicht  Angela Merkel und auch Armin Laschet ist noch nicht aus dem Rennen. Im  Gegenteil, eine satte Portion provinzielles Mittelmaß, eine gewisse  Dosis Slapstick und cringe scheint der Michel gern mit  Bodenständigkeit und Nahbarkeit zu verwechseln, zu viel kühle  Professionalität hingegen mit Strebertum und Herzenskälte. Vielleicht  hätte Olaf Scholz zwischendurch auf einer Bananenschale ausrutschen und  die ehrpusselige Annalena Baerbock auf die Vorwürfe, ihren Lebenslauf  geschönt und ihr Thesenbüchlein teils per copy and paste erstellt zu  haben, einfach achselzuckend mit "So what?" reagieren sollen.

10. Ok Boomer!
Die Generation der sogenannten Babyboomer (60 plus) stellt insgesamt ein Drittel der Wahlberechtigten. Nimmt man  die Alterskohorte 50+ hinzu, stellen sie mit knapp 58 Prozent die  Mehrheit. Die Alterskohorte 70 plus ist sogar die stärkste einzelne. Die Alterskohorten zwischen 18-30 Jahre machen gerade einmal knapp 14 Prozent aus.  Das erklärt einiges. Wer älter ist, tendiert seltener zum politischen  Wechsel, wer in diesem Land jung ist und politisch was bewegen will,  rennt gleichsam gegen eine Mauer aus alten Säcken an, denen Klimawandel,  Energiewende und Soziale Frage weitgehend am Arsch vorbeigehen.  Natürlich gibt es welche darunter, die selbst Kinder und Enkel haben und  das anders sehen, aber das sind, s.o., nicht gerade viele.

"Es  gibt keine Protestwähler. Es gibt nur Dummbeutel. Wer eine Partei  wählt, die offen zu Menschenhass aufruft und die Mörder in  Wehrmachtsuniform zu ehren, der ist entweder nazistisch oder bescheuert –  oder halt beides. Und dem darf man nicht krokodilisch hinterherheulen.  Ist er geläutert, kehrt er zurück - und wenn nicht, soll er halt auf  seinem braunen Misthaufen sitzen bleiben. Es geht auch ohne ihn." (Michael Herl)

11. Die AfD wird zur Regionalpartei Ost
In  Ermangelung eines Themas, mit dem Ängste und Volkszorn sich schüren  lassen und weil sie es zunehmend schwer hat, die Medien vor sich  herzutreiben, ist die AfD von 12,6 auf 10,3 % gesackt. Alice Weidel fand das eine echte Verbesserung - ich stimme ihr ausnahmsweise zu. Aber auch nur, weil sie in ihren  Hochburgen Thüringen und Sachsen stärkste Kraft geworden ist und etliche  Wahlkreise gewinnen konnte. Andernfalls wäre das Ergebnis im Bund  katastrophal geworden. Gleichzeitig hat die SPD sich in den neuen Ländern verdoppeln können.  Die Verluste der AfD in Mecklenburg-Vorpommern sind zwar nicht  dramatisch - man ist immer noch zweitstärkste Kraft -, die  Stimmenanteile nähern sich aber nach dem Paukenschlag von 2016, als man  aus dem Stand knapp 21 Prozent holte, etwa jenen 13 Prozent der  Bevölkerung an, die schon in der SINUS-Studie 1980 als jene mit geschlossenem rechtsextremem Weltbild ausgemacht wurden.  Kernklientel also. Und im Westen der Republik scheint das Abenteuer AfD  fürs Erste weitgehend erledigt zu sein.

12. Es gibt noch ein paar gute Nachrichten.
a) Maaßen hat es nicht geschafft.
b) Klöckner hat es nicht geschafft.
c) Die rechtsoffenen, schwarmintelligenten Schwurbeletten-Parteien 'Team Todenhöfer' und 'Die Basis' sind mit 0,5 % und 1,6 % Zweitstimmen deutlich unter ihren eigenen, durchaus ambitionierten Erwartungen geblieben.


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