„Reise, Reise Räuberleiter“ höre ich still und völlig übertrieben im Kopf und packe Kekse und Wasser in den Rucksack. Sonntagsausflug. Meine Tochter und ich rechnen aus, wie unser Ziel aussehen könnte.
Es muss:
- nah sein
- menschenleer sein, um etwaigen Coronaleugnern oder sonstigen Menschen nicht zu begegnen
- landschaftlich atemberaubend sein
- „Wo‘s kalt ist machen wir Feuer und montags schlafen wir aus“ sagt das Lied und will mich zum Auswandern bewegen, aber ich bin ortsgebundnen wie eine Katze und erinnere meine Tochter an Punkt 1.
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Darum fahren wir schließlich ins Moor um die Ecke. Da war noch keiner von uns beiden.
Im Internet steht: der Zugang ist schwer zu finden. Es war auch schwer in den Suchkriterien zu finden, dass es sowas überhaupt hier gibt. Ein Moor! Ich muss an meine Kindergartenzeit vor 35 Jahren denken, als ich im Museum in Schleswig war und vor dieser Moorleiche stand. Sie hatte feuerrote Haare und ich stand lange davor. Zu lange, fand meine Kindergärtnerin wohl. Sie hat mich nämlich an die Hand genommen und weg gezogen von ihr. Ich erinnere mich noch immer daran. Ich weiß noch, wie das Gesicht der Moorleiche aussah, aber nicht mehr, wie das Gesicht meiner Kindergärtnerin aussah.
„Was sagt das über mich?“ schießt es mir in den Kopf. „Nichts.“ beschließe ich ohne weiter darüber nachdenken zu wollen.
Das Ausflugsziel scheint uns jedenfalls perfekt. Laut den Google Ausflugstipps ist es schwer zu finden, schlecht besucht an Vormittagen am Sonntag und somit ist es sicher nicht voll von Spaziergängern. Außerdem ist es an diesem Tag kalt und windig.
„Was machen wir, wenn wir eine Moorleiche finden?“ frage ich meine Tochter und denke an das Museum und feuerrotes Haar. „Den Notruf wählen. Die orten nämlich im Gegensatz zur Polizei auch gleich das Handy. Spart Zeit, um irgendwelche Ortsangaben zu beschreiben.“ „Genial!“ denke ich und biege auf einen winzigen Parkplatz ab. Leer. Nur wir stehen hier mit einem silbrigen alten Auto. Mein Handy zeigt: ein bisschen Empfang. Findet der Notruf uns trotzdem? Und die Presse, die darüber berichten wird, muss uns ja auch finden. (Schlagzeile: „Mutter und Tochter machen sensationellen Zufallsfund an Ostern! Statt bunt gefärbten Eiern finden sie durch Torf rothaarig gefärbte Moorleiche!“)
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All das überlege ich heimlich und öffne meine Fotos: hier habe ich Google-Earth-Bilder vom Zugang zum Wanderweg abgespeichert. Man muss sein Datenvolumen schließlich sparen und auf wenig Empfang vorbereitet sein.
Ich zeige über die nasse ungemähte Wiese: „Da müssen wir lang, sagt das Google-Earth-Bild. Und dann rechts zu den Büschen. Da irgendwo durch und dann sind wir da!“
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Wir stapfen über die Wiese. Bekommen nasse Füße. Winden uns durch Gebüsch und bleiben an Brombeerhecken hängen. Ein winziger Tropfen Blut bildet sich an meinem Handrücken. Dann steht da plötzlich ein Schild für Wanderer: „Naturschutzgebiet. Bleiben sie auf den Wegen.“
Vor uns tut sich eine seltsame Landschaft auf: die satten grünen Farben von Wiese und sprießendem Laub und bunten Frühjahrsblüten sind plötzlich weg. Ein schmaler Pfad schlängelt sich vorbei an Moor und seltsamen Pflanzen, die in ihm wachsen. Die Geräusche von der Landstraße sind nicht mehr zu hören. Kein Singvögel piept. Nur ein Raubvogel schreit etwas entfernt und meine Tochter und ich lauschen bedächtig und erzählen uns gegenseitig unsere Gedanken, was für ein Vogel das ist und welchen Grund er hat, zu rufen.
Wir gelangen immer weiter in das Moorgebiet hinein. Der Weg ist so schmal, dass wir hintereinander gehen müssen und ich finde es irgendwie unheimlich. Diese Stimmung. Die Birken sind in ihrem Weiß zu grell für die gedeckten Brauntöne rundherum und stechen scharf hervor im dunklen Moor. Aber das sage ich nicht, ich empfinde es nur und stochere mit einem stabilen Ast im morastigen Untergrund neben dem Pfad, um dem Weiß der Birken zu entkommen. Langsam schaffe ich es, dass der Ast immer tiefer in den Boden dringt und stelle mir vor, dass ich der Stock wäre. Meine Tochter schaut fasziniert zu und sagt, dass die Birken farblich zu anstrengend sind für ihre Augen. Dann bricht der Ast und nur die Bruchstelle erscheint als heller Punkt im dunklen Morast. „Diese helle Stelle... Das ist mein Kopf.“ denke ich im Vergleich und mich schaudert es.
Wir gehen immer weiter den Pfad entlang und dann erstarre ich. Im Augenwinkel sehe ich einen Mann in einem Gebüsch hocken. Er ist dunkel gekleidet und hat eine schwarze Kapuze auf und verharrt ganz still. Beobachtet uns. Wartet. Mein Herz schlägt und innerhalb von zwei Sekunden gehe ich innerlich die Möglichkeiten durch und entschließe mich: für Flucht. Aber ich bleibe stehen. Ich verstehe nicht warum und mein Kopf sagt: Angst! Und mein Körper wartet auf die Adrenalin-Ausschüttung, damit ich in der Lage bin, zu handeln. Nach zwei weitere Sekunden will ich meiner Tochter gerade so ruhig wie möglich sagen: „Wir drehen uns jetzt um und laufen super schnell den Weg zum Auto zurück!“, Da überholt sie mich etwas genervt und fragt nebenbei: „Was ist denn, Mama?“ Sie schaut sich die Umgebung an und schlendert weiter, als wäre nichts. Ich zwinge mich, zu dem Mann im Gebüsch zu sehen und erkenne, dass es das schwarze Wurzelwerk eines umgestürzten Baumes ist.
„Nichts.“ sage ich und bin erleichtert und will sofort nach Hause und ärgere mich über meine Sinnestäuschung und fühle in diesem Moment einfach zu viel. Nach einiger Zeit fragt meine Tochter: „Geht das jetzt immer so weiter? Mit diesem Weg? Oder kommt noch was?“ Es fällt mir schwer, zu lügen, aber ich tue es trotzdem. Statt von den mysteriösen Steinhaufen zu erzählen, die hier noch sein sollen und das es noch dieses und jenes gibt, sage ich: „Keine Ahnung. Geht bestimmt einfach so weiter.“ und sie sagt, dass es dann ja „gut ist und wir zurück zum Auto können.“
Geheime innere Erleichterung.
Auf dem Weg zurück geht sie vorne, weil ich es so bestimmt habe. Ich drehe mich oft um. Schutzbereit und fluchtbereit. Ich. Die immer sagt: „In der Stadt gibt es mehr Verrückte, als im Wald. Dort ist keiner.“
Ich. Die immer schon alleine mit einem Rucksack unterwegs war und einfach so im Wald draußen geschlafen hat. Ich. Bin plötzlich ängstlich und denke an „Tatort“ und schwedische Krimis und daran, dass man tote Menschen bestimmt gut im Moor verstecken kann. Ich denke an den abgebrochenen Ast und die Umrisse von einem Mann mit Kapuze hinter einem Gebüsch. Ich seufze innerlich und bin froh, dass ich eigentlich ja nicht unter Paranoia leide. Und dass ich eigentlich auch nicht zu Ängstlichkeit neige. Es nervt mich plötzlich, dass ich mich verwundbar fühle, aber ich weiß auch, dass man sich seine Ängste nicht aussucht und das ein warnendes Bauchgefühl wichtig ist. Dann denke ich an das verschwommene Gesicht der Kindergärtnerin und an das scharf umrissene Gesicht der unbekannten Moorleiche.
Und ich glaube wegen dieser Situation am Ostersonntag habe ich für mich gemerkt: dass ich inzwischen einfach zu viele Krimis gucke. Meine rege Fantasie damit befeuere. Gruseln zuhause ist schön und bringt Spaß. Gruseln im Naturschutz ist Shit. Denn mein Kopf weiß ja, dass meine Angst unbegründet ist. Denn mein Kopf weiß ja, dass meine Fantasie gerne Funken schlägt. Denn mein Kopf weiß ja, dass man zwar zur falschen Zeit am falschen Ort sein kann, aber er weiß auch: Dass es statistisch gesehen unwahrscheinlich ist, dass ein Verrückter am Ostersonntag in einem verlassenen Naturschutzgebiet, dessen Zugang kaum zu finden ist, auf hilflose Opfer wartet, die:
- Theoretisch sehr schnell laufen können dank ihrer genetischen VO2max
- Theoretisch sehr gut die 112 wählen können und die Tastenkombi dafür am Aus-Knopf kennen.
- Praktisch wissen, wie man mit stabilen Ästen umgeht, die nicht im Moor versinken und noch fest umklammert von der Hand gehalten werden.
„Verrückte Mörder sitzen an Ostern sicher bei ihren verrückten Verwandten und schmieden verrückte Pläne.“ überlege ich auf dem Heimweg. „Oder sie sitzen im Knast. Oder sie warten auf besseres Wetter und sind stattdessen auf Jagd nach harmlosen Menschen in der ausgestorbenen Stadt, wo man sich wenigstens vorm Wind und Regen mal unterstellen kann.“
Schon diese Gedanken zeigen mir: ich sollte keine Krimis gucken. Ich sollte meine Fantasie nicht noch mehr befeuern. Kopf: sei mal ruhig jetzt. Bitte.
Auf dem Rückweg spielt das Radio im Auto fröhliche Pop-Musik und meine Tochter schaltet es aus. Weißes Rauschen von den Reifen auf dem Asphalt ist ihr lieber und deswegen höre ich im Kopf „Reise Reise Räuberleiter“ und bewege meine linke Schulter im leisen Takt dazu. Das Lied ist zu fröhlich und beschwingt, aber es hilft mir bei der Selbstregulation. Bekanntes ist gut für mich.
Abends im Bett gucke ich mir die wenigen Handyfotos vom Ausflugsziel an. Ich war zu viel mit Ästen und Mooruntertauchversuchen mit diesen (und Furcht vor umgestürzten Bäumen, die sich als hinter Sträuchern hockenden Männern mit Kapuze tarnen) abgelenkt und habe daher wenig fotografiert. Ich sehe Birken, die zu weiß für die Umgebung sind und Gräser, die wohl nur im Moor wachsen. Ich sehe gedeckte Töne und höre innerlich den Schrei des Raubvogels. Es war seltsam. Und seltsam unheimlich.
Ich habe dieses Gefühl des „Es-ist-unheimlich-Ich-will-nach-Hause.“ zu selten erlebt, um darüber schreiben können, aber es ist beruhigend, dass meine Tochter es gänzlich anders empfunden hat. Sie guckt keine Krimis. Sie hat andere Erinnerungen und Erlebnisse als ich. Sie fand es toll und ein bisschen langweilig und die Birken waren zu weiß (und in meinen Gedanken sind die Haare der Moorleiche noch immer zu rot).
Unsere Pläne haben sich aber erfüllt:
Die Landschaft war atemberaubend und gleich um die Ecke. Menschenleer war es und wunderschön. Meine Ängste verblassen beim Anblick der Fotos. Und das ist auch gut. Denn ich möchte dort wieder hin. Aber dann nehme ich irgendetwas im Rucksack mit, was ich dort nicht dabei hatte:
meinen Mut, der irgendwo an diesem Tag irgendwo im Moor verloren gegangen ist und den ich dringend wiederfinden möchte. Er gehört nämlich nicht ins Museum. Sondern zu mir.
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