Während der Verlauf der Pandemie durch die britische Mutation B.1.1.7 an Fahrt aufnimmt, reagieren die politischen Verantwortlichen in Deutschland weiterhin mit Zurückhaltung.
Aktualisiert am 15.01.2021
Aktuell verbreitet sich inzwischen auch in Deutschland die hochansteckende britische Mutation des Coronavirus B.1.1.7. Hierzulande berichtet wurde über das Bekanntwerden der Mutante in England erstmals am 19. Dezember durch Spektrum.de. In den darauffolgenden Tagen war die Mutation Thema in allen führenden Medien. Die Besorgnis war groß, die Regierung reagierte zunächst schnell. So gut wie alle Flüge von und nach Großbritannien wurden eingestellt. Von führenden Virologen hieß es, das Virus sei nicht tödlicher, es sei lediglich ansteckender. Das ansteckender auch tödlicher bedeutet, wurde aber schnell klar, denn je mehr Menschen sich infizieren, desto mehr Menschen erkranken auch schwer und desto mehr Menschen versterben dann auch. Insgesamt sogar mehr, als bei einer tödlicheren Variante, so die Modellisten.
Die vermeintlichen Anstrengungen, die wir seit November unter dem Namen Lockdown light und seit dem 16. Dezember unter der Bezeichnung Lockdown, unternehmen, um das Infektionsgeschehen auf sehr hohem Niveau – bei durchschnittlichen Inzidenzwerten zwischen 100 und 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen – einzufrieren, könnten bald völlig lächerlich wirken, angesichts dessen, was uns bevorstehen könnte. Was das ist, zeigt ein Blick nach London, wo vor einigen Tagen eine Sieben-Tage-Inzidenz von 1.000 vermeldet wurde. Dort gilt inzwischen der Katastrophenfall. Das Gesundheitswesen befindet sich längst jenseits des Leistbaren.
Mit Beginn der Weihnachtsfeiertage wurde es in Deutschland erst mal still in den politischen Kanälen. Keine Kommunikation dessen, wo wir bezüglich der Verbreitung der Mutation stehen. Das hatte verschiedene Ursachen. Zum einen wurde bekannt, dass in Deutschland nicht, wie in vielen anderen Ländern üblich, flächendeckende Genom-Sequenzierungen vorgenommen werden, so dass wir der neuen Virusvariante hierzulande aktuell im Blindflug begegnen. Hinzu kam, dass es zwei Wochen lang auch keine verlässlichen Zahlen zum Infektionsgeschehen gab, da über die Feiertage weniger getestet wurde und nicht alle Gesundheitsämter Daten übermittelten. Zu der ohnehin schon gedrückten Stimmung angesichts der Weihnachtszeit unter veränderten Vorzeichen, kam nun auch noch die Verunsicherung. Wohingegen die Politik seit Ende Oktober auf Weihnachten eingestimmt hatte, als ob sich die Pandemie mit Beginn der Impfungen zum Jahreswechsel von selbst erledigen würde, kam jetzt also der endgültige Plot-Twist.
Die Verantwortlichen erweckten indes erstmal den Eindruck, sie seien jetzt im Weihnachtsurlaub, und man kümmere sich dann im neuen Jahr in Ruhe darum. Dass dem nicht so war, ist anzunehmen. Doch eine kontinuierliche Kommunikation wäre hier wichtig gewesen, um der sowieso schon erschöpften Bevölkerung ein wenig Sicherheit zu geben: Was ist der aktuelle Wissensstand? Woran arbeitet man gerade? Wie schätzt man die Lage ein und wann sind erste Maßnahmen zu erwarten? Zum Ende der Ferien, meldeten sich schließlich die ersten politischen Akteure zu Wort. Im Zuge der anlaufenden Impfkampagne sprachen manche von ihnen bereits jetzt wieder über Lockerungen.
Wir tappen fast völlig im Dunkeln, was die Verbreitung von B.1.1.7 in Deutschland angeht. Stand heute gibt es 16 durch das Robert Koch-Institut bestätigte Fälle aber erst in dieser Woche liegt eine Verordnung des Gesundheitsministeriums vor, welche vorsieht, dass künftig fünf Prozent der positiven Proben sequenziert werden, so dass ein realistischeres Bild der Verbreitung entstehen kann. Bis die Sequenzierungen anlaufen und neuentdeckte Fälle regelmäßig gemeldet werden, wird noch Zeit vergehen. Zeit, in der sich die Mutante in der Bevölkerung ungehindert verbreiten kann.
Die Politik reagiert, wie auch schon in den Wochen zuvor, immer mit derselben Strategie. Wochen lang wird zwischen Kanzleramt und Ländervertreter*innen um Kompromisse gerungen, die schließlich in kleinteiligen Ergänzungen zu bereits bestehenden Maßnahmen münden, deren Wirksamkeit von Experten oft als fraglich angesehen wird, wie zum Beispiel der 15 km Bewegungsradius. Das Problem - die nach wie vor hohen Infektionszahlen - nachhaltig und vorausschauend anzugehen, scheint man sich nicht zuzutrauen.
RKI-Präsident Lothar Wieler sagte heute in einer Pressekonferenz, dass wir die Pandemie bis Ende des Jahres unter Kontrolle haben werden. Bis Ende des Jahres, das bedeutet noch ein ganzes weiteres Jahr. Und das bedeutet dass wir jetzt Entscheidungsträger brauchen, die alternative Strategien entwickeln, wie wir durch dieses weitere Jahr kommen, je nachdem, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt. Diese Strategien müssen gut kommuniziert werden und eine Verbindlichkeit haben, damit sie Sicherheit geben. Nur so können sich die Menschen darauf einstellen und nur so kann eine endgültige Resignation der Bevölkerung verhindert werden. Gefragt ist von Seiten der Regierung jetzt Weitblick und Führungsverantwortung.
Nachdem im Bereich des Privaten nun weitgehend alle Register gezogen wurden, muss es jetzt auch möglich sein, die Unternehmen in die Pflicht zu nehmen. Homeoffice muss, wo immer es geht, durchgesetzt werden, der ÖPNV muss entlastet werden und es braucht Konzepte um die Testungen massiv auszuweiten. Dass Appelle an die Eigenverantwortung bei der Bewältigung dieser Jahrhundertaufgabe nicht ausreichen, sollte inzwischen auch dem Letzten klar geworden sein. Deshalb brauchen wir jetzt ein entschiedenes Vorgehen von Seiten der Politik: Eine Niedrig-Inzidenz-Strategie (manche sprechen sogar von Zero Covid), die dafür sorgt, dass sich die neue Virusmutation hierzulande nicht auch rasant verbreitet und dass wir uns nicht weitere 12 Monate von Lockdown zu Lockdown hangeln, sondern dass wir in absehbarer Zeit zur Normalität zurückfinden können. Dies scheint ausgeschlossen, wenn sich B.1.1.7 erst mal als dominierende Virusvariante durchgesetzt hat.
Unsere politische Kultur und unsere Medienberichterstattung zeichnen sich dadurch aus, Alarmismus zu vermeiden. Eine alarmistische Kommunikation wird als unseriös, als Panikmache wahrgenommen. Was tun aber, wenn man es mit einer Pandemie zu tun hat, die nicht warten kann, bis sich der gesellschaftliche und politische Diskurs darauf eingependelt haben, was zu tun ist? Anstatt immer dem Stimmungsbild einer vermeintlichen Mehrheit hinterher zu stolpern, muss die Politik in so einer Ausnahmesituation auch mal die Verantwortung übernehmen und Dinge entscheiden, die notwendig sind, auch wenn der gesellschaftliche Konsens noch nicht soweit ist.
So wie es auch im Frühjahr getan wurde, als das Coronavirus zum ersten Mal in Deutschland auftauchte. Damals gelang es uns gut, das Infektionsgeschehen einzudämmen, von anderen Ländern wurden wir als Vorbild gehandelt. Inzwischen wurde der politische Diskurs vergiftet, besonders die Aussagen von Coronaleugnern, einer sehr kleinen Minderheit, haben in der öffentlichen Debatte und damit auch von der Politik überproportional viel Aufmerksamkeit erhalten. Aber auch viele Unternehmen stellen sich konsequent quer und weigern sich, in dieser Situation Verantwortung zu übernehmen. Die Verantwortung wird stattdessen von der privaten Bevölkerung getragen, die zunehmend zermürbt ist von einem Alltag ohne privater Kontakte, ohne vernünftiger Bildung, ohne Kinderbetreuung, stattdessen aber mit Existenzängsten. Das gefährdet zunehmend die Akzeptanz der Maßnahmen, und die ist unsere wichtigste Währung im Kampf gegen die Pandemie - vor allem, wenn sie sich durch B.1.1.7 jetzt auch noch zu beschleunigen droht.
Anfang kommender Woche will sich die Kanzlerin vorzeitig wieder mit den Ministerpräsident*innen treffen, um über weitere Verschärfungen des Lockdowns zu beraten. Genau einen Monat wird es bis dahin gedauert haben, seit die ersten Meldungen über B.1.1.7 in Deutschland aufgekommen sind. Ein Monat bis von der Politik kommuniziert wird, was sich in der Bevölkerung längst als Stimmung niedergeschlagen hat. Die Lage ist ernst, wir müssen jetzt handeln. Bleibt zu hoffen, dass die dann beschlossenen Maßnahmen über das weitere Beschneiden der letzten Spielräume im Privaten hinausgehen und dort angesetzt wird, wo momentan noch immer weitgehend uneingeschränkt Kontakte stattfinden. Nämlich in den Betrieben und den Büros, im Arbeitsleben, in der sogenannten Wirtschaft. Wir brauchen endlich einen harten Lockdown, der seinem Namen auch gerecht wird. Und vor allem brauchen wir eine Perspektive.
Foto: Fusion Medical Animation
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