Man stelle sich folgende Szene vor. Irgendwann in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, es ist der Höhepunkt des Kalten Krieges zwischen den USA und der UdSSR, NATO und Warschauer Pakt. An einem geschäftigen Freitagnachmittag steigt ein Geschwader, bestehend aus 20 Bombern und Kampffliegern von der US-Airbase Ramstein in der Pfalz auf. Vier davon Nuklearbomber, wobei unklar bleibt, ob die atomaren Zerstörer der Lüfte auf diesem Einsatz Atomsprengköpfe an Bord tragen oder nur Attrappen. Der Kampfverband fliegt gegen Osten, dringt über der Ostsee bisweilen in den Luftraum der DDR ein und bewegt sich rasch Richtung sowjetisches Baltikum.
Was wäre wohl passiert damals? Schwer zu rekapitulieren, aber vielleicht wäre „wegen einer Provokation des kriegslüsternen Westens,“ so hätte das die kommunistische Presse der Ostblock-Staaten danach dargestellt, der „Dritte Weltkrieg ausgebrochen“. Vorausgesetzt, es hätte noch eine Welt danach gegeben, über die sich hätte berichten lassen.
„Zum Glück“ mag man im Rückblick sagen, hat es nie Politiker und Generäle gegeben, die derart unverantwortliche Aktionen riskierten. Weit gefehlt, gar schlimmer. Es gibt sie wieder. Vielmehr ihn, er residiert im Zhongnanhai in Peking, dem Sitz des Politbüros der kommunistischen Partei Chinas. Denn genau solch eine brandgefährliche Provokation initiierte Xi Jinping, seines Zeichens Staats- und Parteichef der Volksrepublik China (VRCh) und der ihr übergeordneten Kaderpartei KPCh, am letzten Freitag im März dieses Jahres.
Beim bis dahin größten Zwischenfall dieser Art sind mehr als 20 Kampfflugzeuge der chinesischen Streitkräfte in den Luftraum Taiwans eingedrungen und haben den Angriff – mit Nuklearsprengköpfen – auf US-Marineverbände geübt, die im Südchinesischen Meer kreuzten. Der Auslöser für dieses Husarenstück war gewesen, dass wenige Stunden zuvor die USA mit Taiwan ein Abkommen zum „Küstenschutz“ der Inselnation unterschrieben hatte.
Washington ist laut „Taiwan Relations Act“ dazu verpflichtet, der demokratischen Inselrepublik im Falle eines Angriffs der VRCh militärisch zu unterstützen. Das einfachste wäre natürlich, dass Washington auf Taiwan Truppen stationiert. Das ist aber, zumindest bisher noch, im Kongress politisch nicht durchsetzbar. Schon deshalb, weil China die Insel als Teil seines kommunistischen Regimes betrachtet und eine US-Truppenstationierung dort als Kriegserklärung ansehen würde. Davor schreckt die USA noch zurück.
China hält von derartigen Rücksichtnahmen allerdings recht wenig. Mit Tag um Tag gefährlicheren Aktionen sucht das Xi-Regime Konflikte mit dem Westen. Nicht nur mit den USA. Da wird gegen Australien gezündelt, weil dort ein chinesischer Spion aufgeflogen ist oder Canberra als erste Regierung eine genauere Untersuchung zu den Ursprüngen des Coronavirus verlangte, das in der chinesischen Millionenstadt Wuhan seinen Ursprung hatte.
Dann hetzen Chinas Wolfskrieger im Diplomatengewand gegen Kanadas Premier Justin Trudeau, chinesische Staatsanwälte zerren gar kanadische Staatsbürger als Politgeisel vor Gericht. Grund: ein Auslieferungsgesuch der USA für eine prominente chinesische Geschäftsfrau, die sich in Kanada aufhält. Und wenn die EU samtweiche Sanktionen gegen gerade mal vier chinesische Offizielle wegen Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang verhängt – noch nicht einmal der Provinzgouverneur gehörte dazu – rollt Peking gleich mit einer ganzen Staffel Sanktionspanzer ins EU-Parlament ein, wie sie dort noch nie eingefahren ist.
Das klingt wie Chinas Versailler Verträge, eine Schmach der Geschichte, die 160 Jahre zurückliegt und jetzt wieder ausgemerzt werden muss.
Dazu wurden gleich noch Einreisesperren gegen europäische Think-Tanks und Wissenschaftler verhängt. Das Credo: Europa sanktioniert Menschenrechtsverletzung, das Xi-Regime straft freies Denken ab und möchte, dass sich dieses Diktum weltweit genauso gefährlich festsetzt, wie die Spikes des in China freigesetzten Corona-Virus in den Körpern seiner Opfer.
Als wäre das alles noch nicht genug, um die Beziehungen nachhaltig zu schädigen, wird auch noch der Internet-Mob auf westliche Firmen losgelassen, wenn sie es auch nur gewagt haben anzumerken, dass sie keine Baumwolle aus chinesischen Straflagern in Chinas Westprovinz verwenden.
Jetzt will die Xi-KP dem eigenen Volk schon weismachen, dass die Ausländer sich wie die Alliiertenarmee von 1860 verhielten, die im Zweiten Opiumkrieg den kaiserlichen Sommerpalast Yuanmingyuan geschleift hatten. Das klingt wie Chinas Versailler Verträge, eine Schmach der Geschichte, die 160 Jahre zurückliegt und jetzt wieder ausgemerzt werden muss. Und zwar mit militärischen Mitteln.
Was Führer Xi befiehlt, den man in China übrigens „Papa Xi“ und seine Frau „Mama Peng“ nennen muss, hat mittlerweile nicht nur faschistoide Grundzüge angenommen, sondern erfüllt alle 14 Kriterien, mit denen der britische Autor Laurence W. Britt 2003 Faschismus neu sortierte. Chinas Kommunismus ist eigentlich ein Nationalsozialismus der klassischen Sorte.
Dass der Idee der Wolfskrieger ein zutiefst faschistisches Gedankengut innewohnen könnte, hat übrigens der deutsche, sehr KP-freundliche Sinologe Wolfgang Kubin schon bei den Ursprüngen der Bewegung befürchtet.
Was heute als Placet für schlecht geschulte Diplomaten, offensichtlich ohne gute Kinderstube, gilt, ihre politischen Widersacher im Westen nicht mehr jugendfrei niederzubrüllen und nieder zu twittern, hat eigentlich in dem Buch eines chinesischen Dissidenten seinen Ursprung. Ich hatte nicht nur das Vergnügen als erster über den Autor, der damals aus Sicherheitsgründen unter dem Pseudonym Jiang Rong formierte, schreiben zu dürfen. Er war auch einer meiner besten Freunde in China.
Als überzeugter Gewerkschaftler saß Lü Jiamin, so sein richtiger Name, nach dem Tiananmen-Massaker 1989 in Haft und ist wahrhaft über jeden Verdacht erhaben, rechtstotalitäre Anwandlungen zu hegen.
Zunächst erzählt Lü in Wolf Totem seine eigene Lebensgeschichte, als er in der Kulturrevolution (1966-76), wie viele seiner Altersgenossen auch, zur proletarischen Umerziehung aufs Land verschickt wurde.
Lü wurde zu Nomaden in die Innere Mongolei verfrachtet, wo er versuchte, einen Wolf zu zähmen, aber scheiterte, weil sich Wölfe nicht domestizieren lassen. Diese rührende Tier-Mensch Geschichte trug dem Dissidenten Lü, der mit der Erfolgsautorin Zhang Kangkang verheiratet ist, weltweiten literarischen Ruhm ein. Bald wurde sein Buch ein Millionenseller und auch im Westen verfilmt.
Dazu erörtert Lü in einem Essay, das der Erzählung angehängt ist, aus seiner Erfahrung als Regimekritiker, warum Chinesen nicht mehr Lämmer, sondern Wölfe sein müssten, wenn sie sich befreien, gemeint „demokratisieren“, wollten. Es spricht für die Perfidie des kommunistischen Propagandaapparates, dies in eine nationalsozialistische, zutiefst xenophobe Kampfrhetorik gegen den Westen umzudrehen.
Aber unter Xi Jinping, der seit 2012 an der Macht ist, wäre auch Lü Jiamins Buch nicht mehr denkbar. Selbst China-Kenner und Sinologen sind schockiert, wie der Staats- und Parteichef das Land von einer gemäßigten kommunistischen Diktatur in eine Ein-Mann-Autokratie mit nie da gewesener Gedankenkontrolle seiner 1,4 Milliarden Untertanen verwandelt hat.
Und China vor Xi als gemäßigte kommunistische Diktatur zu beschreiben, das ist eine mehr als höfliche Umschreibung. Denn es war auch das Land, das 1989 gut 3000 Demonstranten inmitten seiner Hauptstadt mit scharfer Munition niedermetzeln ließ. Aber neben dem Wohlstand, den die Reform vielen Chinesen vor der Ära-Xi beschert hatte, war auch ein gemäßigter kritischer Diskurs in ein paar wenigen Medien und im Privaten möglich. Davon aber ist unter Xi Jinping nichts mehr geblieben.
Denn es gibt nur einen Gott-gleichen in China und das ist Staats- und Parteiführer Xi Jinping.
Welche abstrusen Formen das angenommen hat, kann sich im demokratischen Westen kaum jemand vorstellen. Dass etwa in Chinas streng kontrollierten sozialen Medien anfangs der Xi-Regentschaft die Kinderbuchfigur Winnie-the-Pooh Bear verboten wurde, weil das in den Augen der KP-Zensoren einer despektierlichen Beschreibung des Parteichefs gleichkäme, hat man im Westen mit einem Stirnrunzeln weggeschmunzelt.
Auch den Umstand, dass unter Xi Jinping Worte, Namen und Bezeichnungen wie Dalai Lama, Tiananmen-Zwischenfall vom 4. Juni 1989 (Tiananmen-Massaker sowieso), Wei Jingsheng, der im Gefängniskrankenhaus an Krebs verstorbene chinesische Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo und alles, was sich jemals kritisch zur kommunistischen Partei Chinas (KPCh) äußerte, im streng kontrollierten chinesischen Internet nicht mehr zu finden war. (Auch der chinesische Name des Autors dieser Zeilen und Wei Jingsheng-Biograf).
Dann aber waren im fortschreitenden Verfolgungswahn des Xi-Regimes in chinesischen Suchmaschinen Firmen wie Google, Facebook, Twitter auch nicht mehr aufzufinden. Danach kamen Begriffe wie der Nobelpreis, die 1911 gegründete Chinesische Republik, das Wort Festland auf den Index. Denn mit Letzterem umschreibt man im demokratischen Taiwan das kommunistische Herrschaftsgebiet. Schließlich verschwand in Baidu Baike (Chinas Wikipedia) das gesamte Jahr 1989, das Jahr der Studentenproteste.
Jetzt merzen Hunderttausende von Trollen und Zensoren, die jedes Zeichen in Tageszeitungen und besonders den sozialen Medien kontrollieren, selbst Beschreibungen wie „Schlager-Gott“ oder eine „gottgleiche Stimme“ aus. Denn es gibt nur einen Gott-gleichen in China und das ist Staats- und Parteiführer Xi Jinping. Unlängst wurde gar das chinesische Zeichen für Smaragdgrün 翠(Aussprache „cui“) verboten.
Warum? Hier die Erklärung: Das Schriftzeichen für Smaragdgrün (翠) enthält zwei sogenannte Lautradikale, die anders ausgesprochen auch für den Familiennamen des Parteichefs 习 (Familienname: Xi) 近平 („Vor“- bzw. Rufname: Jinping) stehen. Aber unter den beiden Lautradikalen im „Kopf“ des Zeichens „cui“ (翠) findet sich ein anderes Zeichen eingebaut, das für „sterben“ und „untergehen“ steht. Die Verwendung von „Cui“ (翠) für Smaragdgrün im chinesischen Internet, so die kranke Logik der Zensuren, hieße, dass man dem Parteichef etwas Schlimmes wünsche. Und das ist nur ein Beispiel von mittlerweile hunderten, wenn nicht gar tausenden, verbotenen Schriftzeichen oder Sprachspielereien.
In Hongkong werden gerade die Schulbücher auf „patriotischen“ Kurs getrimmt. Das heißt etwa, dass Begriffe wie „Republik China“ auch dort nicht mehr zu finden sind.
Derartiger Irrsinn macht aber an den Grenzen der Volksrepublik China nicht mehr halt. Und in Südkorea denkt man mittlerweile ernsthaft darüber nach, alle Konfuzius-Institute zu schließen. Grund: Zu viele Eltern hatten sich darüber beschwert, dass das chinesische Sprachinstitut ihren Kindern eine von China dominierte Geschichte des eigenen Landes vermitteln wollte. Darin spielt die koreanische Halbinsel bestenfalls noch eine Rolle als tributpflichtiges Fürstentum am Rande des chinesischen Reiches.
Aber kann das gut gehen? Nein, sicher nicht. Wie die Geschichte mehrfach bewiesen hat, mögen derartige Provokationen das heimische Publikum zu immer neuen Hasstiraden befeuern und in einen immer tieferen Rausch der nationalistischen Verblendung treiben. Irgendwann liefen in der Menschheitsgeschichte und auch in der Geschichte Chinas derart gefährliche Manöver des pathologischen Verfolgungswahns, gepaart mit Nationalismus und Xenophobie, immer blutig aus dem Ruder.
Und dann? „Kulturrevolution“, „Großer Sprung nach vorn“, so hießen die Kampagnen der massenhaften Verblendung, die in der Geschichte des kommunistischen Chinas in einem Blutrausch endeten. Vielleicht aber schlimmer? Sarajevo lässt grüßen, vielmehr der Überfall auf Polen durch Adolf Hitler im August 1939.
Was will Xi? Die Weltherrschaft ist zu befürchten. Peter Jennings, ehemaliger stellvertretender Staatssekretär für Strategie im australischen Verteidigungsministerium, fasst dies folgendermaßen zusammen: „Auf globaler Ebene strebt die KPCh danach, eine strategische Führungsmacht zu werden, die ihre eigenen Regeln für das Auftreten auf internationalem Parkett festlegt. Beijing ist nicht mehr bereit, die ihm nach dem letzten Weltkrieg zugewiesene Rolle als passiver Beobachter zu akzeptieren, auch wenn es selbst vielleicht am stärksten von diesem System profitiert hat.“
Selbst namhafte Sinologen sind sich nicht zu schade jede kritische Auseinandersetzung mit China als „China-Bashing“ niederzumachen.
Wer zum Beispiel aufmerksam die Chats um den Auftritt der beiden chinesischen Spitzenpolitiker Yang Jiechi und Wang Yi mit US-Außenminister Antony Blinken in Anchorage, Alaska im chinesischen Cyberspace verfolgte, stieß dort immer wieder auf Chat-Beiträge wie diesen: „Wir sind schon bei der Führung der Welt angelangt.“ Oder: „Wir sind die Nummer eins.“ Und: „China führe die Welt.“ Es gibt kein unabhängiges Internet in China. Derartige Auftritte sind bis ins Kleinste von dem riesigen Propagandaapparat der kommunistischen Partei Chinas orchestriert.
Chinas Propagandisten bezeichnen derartiges Vorgehen als „Krieg um die internationale Meinungshoheit“. Nach einer Untersuchung des Australien Strategic Policy Institute erreicht China über Twitter und Facebook zunehmend ein internationales Publikum. Der englischsprachige Kanal des Staatsfernsehens hat auf Facebook 115 Millionen Follower. Im vergangenen Jahr hätten dessen Berichte über Xinjiang, in denen es meist um angeblich glückliche Uiguren geht, 5,8 Millionen Likes generiert.
Mareike Ohlberg vom German Marshall Fund of the United States hat kürzlich beschrieben, wie umfangreich die Bemühungen selbst lokaler chinesischer Behörden sind, im internationalen Meinungswettbewerb mitzumischen. Sie wertete eine Ausschreibung der lokalen Sicherheitsbehörde der Drei-Millionen-Stadt Tieling für ein automatisiertes Online-Kommentar-System aus. Darin war von bezahlten Kommentaren auf insgesamt 1000 Facebook-, Twitter-, Youtube-Konten und zehntausenden Weibo-Konten die Rede. Der mögliche Betreiber sollte in der Lage sein, mehr als 1000 Kommentare pro Sekunde generieren zu können. Dagegen scheint die Troll-Armee von Vladimir Putin nur noch eine Brigade von digitalen Zwergen zu sein.
Derartige automatisierte Gehirnwäsche fruchtet längst auch in westlichen Ländern. Selbst namhafte Sinologen sind sich nicht zu schade jede kritische Auseinandersetzung mit China als „China-Bashing“ niederzumachen. Doch grundsätzlich gilt: Je weniger das Heer aus ausländischen Claqueuren chinesisch spricht, geschweige denn lesen kann, desto mehr gehen sie der chinesischen Propaganda auf den Leim.
Sie lassen sich von ihr mit bezahlten Aufsätzen und Erste-Klasse-Flügen zu vermeintlich internationalen Konferenzen in China ködern. Dort müssen sie dann als nützliche Idioten herhalten, die in chinesischen Inlandsmedien die KP lobpreisen. Der Landessprache unkundig ist es ihnen sowieso nicht möglich zu überprüfen, wie ihre Zitate und Aufsätze teils grotesk umgedichtet werden – stets zum Wohle des Führers Xi Jinping.
Beim Aufstieg zur führenden Weltmacht im ideologischen, militärischen und ökonomischen Kontext ist China jedes Mittel recht – lügen, einschüchtern, täuschen und betrügen. Was man nicht aus eigenen Fähigkeiten erschaffen kann, wird im Ausland geraubt, gestohlen oder abgekupfert.
Den meisten Verantwortlichen und Funktionären ist ohnehin jeder moralische Kompass abhandengekommen, wenn sie als Generation in den Gemetzeln der Kulturrevolution aufgezogen, überhaupt jemals einen besaßen. Kaschiert werden soll all das durch ständige, irrwitzige Verbote und kafkaeske Sprachregelungen und durch das Erklären der absurdesten Dinge zu Staatsgeheimnissen.
Das Hongkonger Gesetz zur Nationalen Sicherheit erlaubt es jetzt auch Verstöße gegen Chinas staatliche Interessen, die im Ausland „begangen wurden“, zu ahnden.
„Ausländische Wissenschaftler, Journalisten und Unternehmer können, wenn sie im Ausland aus Sicht Pekings etwa die Sicherheit Hongkongs gefährden, bei Einreise nach China festgesetzt werden,“ schreibt Kristin Shi-Kupfer auf Manager-Magazin Online. „Im aktuellen Entwurf des neuen Datensicherheitsgesetzes ist vorgesehen, ausländische Institutionen und Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen, wenn diese nach Meinung der Regierung in Peking chinesische Unternehmen diskriminieren.“
Damit könnten etwa auch das Abfassen und Verbreiten dieser Analyse als Straftat geahndet und der Autor beim nächsten Transit im Hongkonger Flughafen in Haft genommen werden.
Wie radikale Islamisten, selbst wenn ihnen das Blut ihrer Opfer schon durch die Finger trieft, gerne noch behaupten, dass der Islam eine Religion des Friedens sei, so ist es Teil der chinesischen Agitprop-Maschinerie, das Bild von der friedliebenden und solidarischen chinesischen Nation zu besingen. Doch besudelt von der eigenen Hybris und dem Rausch des Nationalismus verplappern sich kommunistische Kader immer häufiger im Netz. So wie dieser hier:
Vor einem sichtlich amüsierten Publikum erzählt der lokale Kader in Chinesisch, was die Strategie der Kommunistischen Partei mit dem Ausland gewesen sei: „Wir haben sie ins Land geholt, um ihre Technik zu kopieren und zu stehlen, jetzt werfen wir sie wieder raus und machen sie kaputt“. Oder dieser renommierte Professor erzählte vor laufenden Kameras, wie man Politiker und Geschäftsleute in den USA bestochen habe, um Einfluss auf die amerikanische Politik zu nehmen.
Seit die KPCh an die Macht kam, hat sie mit diesen Mitteln zuerst jeden innenpolitischen Gegner unter ihren eigenen Bürgern und auch Widerstand der liberalen Geister in den eigenen Reihen niedergemacht. Dann haben die KP-Funktionäre den Minderheitenvölkern ihre Identität geraubt und deren Führer ermordet oder vertrieben. Die Liste der Kampagnen und Opfer ist lang: „Kampf gegen rechts“, „Großer Sprung nach vorne“, „Kulturrevolution“, „Kampf gegen den bürgerlichen Liberalismus“. Die Namen: Liu Shaoqi, Hu Yaobang, Zhao Ziyang, Wei Jingsheng, Wang Dan, Liu Xiaobo und Millionen Unbekannter mehr.
Das gleiche Muster verfolgt Xi Jinpings Plan von der „Neuen Seidenstraße“ nun weltweit. Nicht Weltfriede ist das Ziel, sondern die Eingliederung kleinerer Nationen in das chinesische Wirtschafts- und das Herrschaftssystem der KPCh. Erst werden ärmere Länder mit vermeintlich günstigen Wirtschaftsförderungs- und Infrastrukturmaßnahmen für Brücken, Straßen und Häfen angefüttert. Meist ist ein Kickback an korrupte lokale Eliten im Spiel. Beispiele: Sri Lanka, Montenegro, Kasachstan, Tanzania, aber auch Serbien und Ungarn.
Wenn dann die Finanzierungsraten, die weit über dem marktüblichen liegen, nicht mehr bedient werden können, gehen die Filetstücke lokaler Infrastruktur in den Besitz chinesischer Firmen oder der VR-China über. Ein System übrigens, durchaus vergleichbar mit dem Tributsystem für Chinas Anrainer und andere Barbaren zu Kaiserzeiten. Nur dass damals die Barbaren Gold, Tee, Tropenfrüchte und Giraffen nach Peking trugen. Heute sind es Rohstoffe, Dollar und Renminbi, die chinesische „Volks-Dollar“ Währung.
China ist eine offene, aggressive Hegemonialmacht geworden. Aber glaubt Xi ernsthaft, er könne anderen Ländern sein Gesellschaftssystem aufdrängen, ausländische Politiker anlügen und diese würden irgendwann Giraffen an seinen Kaiserhof tragen? Er könne die Kavallerie nach Piräus schicken oder gar nach Budapest und Bukarest? Ist Xi Antreiber oder Getriebener? Wo ist die Bruchlinie?
Denn was die KP, das Regime Xi und seine Wolfskrieger-Diplomaten treibt, ist durchaus vergleichbar mit der Entstehung des japanischen Faschismus in den 30er Jahren oder den Provokationen von Adolf Hitler vor den Münchner Verträgen.
Wird China den Bogen überspannen, wenn es Taiwan besetzt, was wie angekündigt spätestens bis 2029 geschehen müsste? Oder erst, wenn China von einem an Peking verschuldeten Balkanstaat einen Hafen als Rückzahlung verlangt und der zur chinesischen Militärbasis umgewandelt wird?
Die Weltgemeinschaft und China befinden sich durch das aggressiv nationalistische Herrschaftsgebaren Pekings in einer ähnlich gefährlichen Lage, wie sie vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg stand. Denn was die KP, das Regime Xi und seine Wolfskrieger-Diplomaten treibt, ist durchaus vergleichbar mit der Entstehung des japanischen Faschismus in den 30er Jahren oder den Provokationen von Adolf Hitler vor den Münchner Verträgen. Beides endete in einer globalen Katastrophe.
Und das gefährlich ist, dass Xi nicht zurück kann, ohne das Gesicht zu verlieren. Er hat seinem Volk viel versprochen. Wohlstand für alle. Das demokratische Taiwan notfalls auch mit Gewalt der Volksrepublik China anzuschließen. Eine Raumstation, Landung auf der Rückseite des Monds, dann auf dem Mars. Später mit den USA gleichzuziehen und bis 2049 die führende Weltmacht zu werden. Aber was, wenn er nicht alle Versprechen halten kann oder sie zu teuer werden?
Noch gelingt es der staatlichen Propaganda und durch immer mehr Abschottung das Volk von einer Woge zur nächsten Woge des Nationalismus zu peitschen. Er hat sich bereits zum Staatspräsidenten auf Lebenszeit küren lassen. KP-Generalsekretär ein Leben lang, vielleicht auch „Steuermann“ wie dereinst Mao, das soll beim großen Parteitag im nächsten Jahr folgen.
Aber was passiert, wenn die Wirtschaft unrund läuft? Und zieht die Armee auch in einem Krieg gegen Taiwan mit, wenn daraus ein fürchterliches Blutbad für unerfahrene junge Rekruten werden könnte? Was, wenn Raketen auf chinesische Städte regnen? Wird sein Politbüro auch einen Krieg um Taiwan fechten, wenn daraus ein Krieg mit Japan, Korea, den USA, Australien, Indien und vielleicht sogar unter Beteiligung von europäischen Staaten erwächst? Ganz zu schweigen von der atomaren Option.
China ist militärisch viel verwundbarer als etwa die USA, weil zumindest der Osten deutlich dichter besiedelt ist als die noch amtierende Supermacht. Eine bunkerbrechende Rakete auf den Sanxia-Staudamm am Yangtze – was freilich einem Kriegsverbrechen gleichkäme – würde eine Flutwelle auslösen, die selbst Shanghai noch mit einer drei Meter hohen Wasserwand verwüstet.
Ist Xi dann immer noch ein mächtiger Drache oder doch nur ein Ikarus wie die meisten seiner Vorgänger auch? Nach außen sieht der rote Kaiser wie ein Sieger aus.
Doch längst ist die vermeintlich so brummende Wirtschaft auf ziemlich viel Ton gebaut. Laut Angaben der chinesischen Regierung verfügen immerhin 600 Millionen Menschen über ein monatliches Einkommen von nur knapp 1 000 Yuan (155 US-Dollar). „China ist noch immer ein armes Land, beim Bruttosozialprodukt pro Kopf liegt es auf dem Niveau von Montenegro oder Surinam. Und der Wohlstand ist extrem ungerecht verteilt,“ schreibt der IPG-Newsletter der Friedrich-Ebert-Stftung. „Die Ungleichheit in China (gemessen durch den Gini-Koeffizienten) ähnelt der in den USA und Indien. Da China eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen hat, bedeutet das, dass noch immer hunderte von Millionen Chinesinnen und Chinesen in Armut leben.“
Das Produktivitätsniveau der chinesischen Volkswirtschaft liegt laut einer Studie der Weltbank erst bei einem Drittel der amerikanischen. Die Gesamtverschuldung schnellte letztes Jahr mit über 300 Prozent in japanische Gefilde. Besonders besorgniserregend dabei der schnelle Anstieg an privaten Schulden, die vor allem auf den Preisanstieg im Immobiliensektor zurückzuführen sind. Da ist eine gewaltige Blase entstanden. Landesweit stehen mehr als 100 Millionen Wohnungen leer. Mit Betongold hatte sich Xi Jingping aus mehreren Konjunkturdellen gerettet.
Aber, „gelingt es China nicht von einem investitionsgetriebenen Wachstumsmodell auf ein innovationsgetriebenes Modell umzusteuern,“ schreibt Matthias Kamp in der NZZ, „könnte die jetzige Lokomotive der Weltwirtschaft in der so genannten Middle-Income-Trap landen.“ Der Rückgang der Geburtenrate verstärkt das Problem.
Und Innovation will das Xi-Regime nur zulassen, solange es seiner Machterhaltung und der Bereicherung der führenden Familien des Landes dient. Wer Widerworte wagt, wie Ma Yun (Jack Ma), der Gründer der Alibaba-Gruppe, ist schnell seine Milliarden und mitunter seine Freiheit los. Aber der zum Aufstieg und Übertrumpfen des Westens nötige Erfindergeist ist in China nicht in den meist maroden Staatsbetrieben, sondern bei kreativen Startups und Privatbetrieben zuhause. Wie lange lassen sich deren Akteure persönliche Freiheit und demokratische Rechte durch Han-Chauvinismus und Wohlstand abkaufen?
Noch glaubt Xi, dass er die Eskalationsspirale mit dem Westen immer weiterdrehen kann, ohne dass es ihm schadet. Dass das Ausland auch dann noch angekrochen kommt, wenn Firmen wie VW und Staaten wie Deutschland als Zugang zum vermeintlich so unersetzbaren chinesischen Markt, den chinesischen Politkommissaren das Blut der Tibeter, Uiguren, Hongkonger Dissidenten und vielleicht bald auch der fast 24 Millionen Taiwaner von den Stiefeln lecken müssen.
Aber hat Xi dieses Spiel nicht längst überreizt?
In den letzten Monaten, geschockt von der anfänglichen Pekinger Vertuschung der Corona-Krise, tanzen zuerst kleinere Staaten wie Australien, Tschechien nicht mehr nach der Pfeife von Papa Xi. Die USA hat mit Quad eine Allianz zur Bändigung und Eingrenzung Chinas geschlossen, die vor einem Jahr noch undenkbar erschienen wäre. Erstmals seit Ende des Indochina-Konfliktes zog vor wenigen Tagen eine französische Fregatte unmittelbar vor der chinesischen Haustür mit japanischen, australischen und US-Matrosen in ein Manöver.
Xi ist es in der Tat gelungen, sich innerhalb von wenigen Jahren vom Darling der Weltpolitik, dem niedlichen Winnie the Xi-Bär zum verachteten Despoten zu wandeln, den man gerne dem Internationalen Gerichtshof überstellen würde.
Wie lange wird es dauern, bis die Wirtschaft da umdenkt. Zuerst die ausländische und dann die einheimische, chinesische, denen ein Konflikt mit dem Westen und auch den asiatischen Nachbarstaaten nicht dienlich sein wird?
Die Sinologin Kirstin Shi-Kupfer lieferte dazu auf Manager-Magazin-Online ein interessantes Gedankenspiel: „Wie wäre es, wenn die Unternehmen, die am stärksten vom chinesischen Markt abhängig sind, einmal zusammenrechneten, was sie die Erschließung neuer Märkte und die Sicherung ihrer Lieferketten ohne chinesische Partner kosten würde?“ Und dann? „Anschließend präsentieren die Unternehmen öffentlichkeitswirksam eine von der Politik in Deutschland und Europa flankierte und finanziell geförderte neue Indo-Pazifik-Strategie. Das Ziel: den geopolitischen Rahmen setzen für eine langfristige Exit-Option aus China und Hinwendung zu anderen großen Märkten wie Indien oder Indonesien. Auf die Reaktion aus Peking dürfte man gespannt sein.“
Wahrscheinlich ist dies der interessanteste und auch der mutigste Anstoß, der aus der deutschen Sinologie in den letzten 20 Jahren entsprang. Denn er zielt auf den eigentlichen Kern der Auseinandersetzung ab. Nicht China hat ein Problem mit dem Westen. Im Gegenteil, solange China darauf abzielte, eine gleichberechtigte, halbwegs verlässliche Nation, im Konzert einer multipolaren Welt zu sein, verzieh der Westen auch schnell so derbe Ausrutscher wie das Massaker auf dem Pekinger Tiananmen-Platz.
Aber Xi Jinpings rücksichtslose, ja faschistoide Politik eines Welt-umspannenden Han-Chauvinismus ohne Rücksicht auf Verluste, kann keine halbwegs eigenständige Nation tolerieren. Xis größter Fehler war diese Politik zur Ultima Ratio chinesischen, staatlichen Handelns hochzustilisieren, sie mit Jahreszahlen zu belegen wie einen Fünf-Jahresplan in der Zeit der kommunistischen Tonnenideologie. Ohne Gesichtsverlust kommt er da nicht mehr raus. Und Gesichtsverlust bedeutet in China auch Machtverlust.
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann seine Mitstreiter erkennen, dass ihre Loyalität zu Xi bei dessen Versagen auch sie mit in den Abgrund ziehen wird. Bisher hatte sich der Parteichef da ziemlich sicher gefühlt. Die letzten Jahre ließ er vom Politbüro bis in die Spitzen der Provinzverwaltungen hinunter alle vermeintlichen Gegner mit Anklagen wegen Korruption oder anderer vermeintlicher Verfehlungen aus den Ämtern entfernen oder gleich ins Gefängnis werfen. Doch ganz so sicher, dass er nur noch mit Loyalisten umgeben ist, scheint sich Papa Xi nicht mehr zu sein.
Am alljährlichen Galadinner zum Abschluss des Nationalen Volkskongresses mit ausländischen Diplomaten und Journalisten im März hatte Xi in diesem Jahr erstmals nur noch dicht umringt von Sicherheitsleuten Platz genommen. (Wien/ Singapur – Juni 2021)
PS: Nach dem Verfassen dieses Essays drehte China erneut an der Eskalationsspirale mit dem Westen. Als Reaktion auf das G7-Treffen im britischen Cornwall drangen am 15. Juni insgesamt 28 chinesische Kampfflugzeuge in den Luftraum über Taiwan ein. (Siehe Screenshot aus der Straits Times/ Singapur.)
Zuerst erschien auf: "Der Rikscha-Reporter - Blick auf Asien von Jürgen Kremb", am 17. Juni 2021.
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