Jung und erfolglos. Besser lässt sich meine momentane Lebenssituation nicht beschreiben. Ich stehe vor der Schwelle eines neuen Abschnitts und muss nun die Weichen so stellen, dass ich eine Zukunft habe, die mich finanziell absichert und meinen Fähigkeiten entspricht. Ich bin siebzehn Jahre und sexuell aktiv.
Aktiver geht kaum. Jedenfalls theoretisch bin ich auf den Ernstfall vorbereitet. Ich habe die Bravos meines Vaters im Keller gefunden. Zwanzig Jahre gebündeltes Wissen.
Wenn ich meinem Klassenlehrer vertraue und dafür sehe ich eigentlich keinen Grund, sieht er mein Abitur in weiter Ferne. Meine Leistungen wären in einem versetzungsunwürdigen Bereich angelangt, die ihm Sorgen machen. So die Meinung eines Mannes, der Tweed Saccos, in diversen Brauntönen, mit Birkenstocksandalen und halbwegs weißen Golfsocken kombiniert. Wie er es so geschafft hat, eine Frau für sich zu gewinnen, bleibt sein Geheimnis.
Sie unterrichtet ebenfalls und ich sitze bei ihr im katholischen Religionsunterricht. Sie ist nur lieb und nett und hat noch nie eine Note verteilt, die oberhalb der Drei liegt.
Bis auf mich hat sie im Halbjahreszeugnis nur Zweien vergeben, nur mir hat sie eine Drei gegeben, was ich ihr meinerseits nicht vergeben habe. Um die zu erreichen, muss man sich schon mächtig anstrengen. Dabei beteilige ich mich rege am Unterricht. Hierin, sagt sie, wäre die Drei begründet.
„Jürgen, weniger ist manchmal mehr.“, offenbarte sie mir vor versammelter Klasse.
Ehrensache, dass ich den Fehdehandschuh aufnahm und am Ende der Stunde verließ sie weinend die Klasse. Sie ist eben meiner Sprachgewalt nicht gewachsen. Ich kann eben Menschen in Grund und Boden reden. Dieses Talent ist mir gegeben und warum soll ich es verkümmern lassen. Ich habe nun einmal einen großen Pool an Worten. Ach was Pool, es ist ein See, ein Ozean voller Worte, die ich im Laufe der Jahre eingelagert habe und aus dem ich reichlich schöpfe, wann immer es angesagt ist. Zwar wird mir immer wieder von den Unpädagogen, bei denen es zu mehr nicht gereicht hat, vorgeworfen, ich würde viel reden, aber wenig sagen. Dem trete ich dann wortreich entgegen, bis ich sie in die Flucht der Pause geschlagen habe. Wer meine Fähigkeiten nicht erkennt und fördert, dem sollte man seine pädagogische Befähigung absprechen. Ich hab Edles für mich getan. Nur nach außen getragen habe ich dies nicht, um sie nicht noch weiter zu beschämen und zu destabilisieren.
Meiner Meinung nach sollte es ohnehin verboten sein, dass Lehrer Lehrerinnen ehelichen und umgedreht gilt das im Besonderen.
Die dadurch zwangsläufig entstehenden Lehrerkinder sollten Warnung genug sein. Statistisch gesehen ist die Selbstmordrate bei Lehrerkindern fast doppelt so hoch, wie beispielsweise bei Müllwerker und Fleischereifachverkäuferinnenpaarungen. Leider hat hier der Gesetzgeber ein tragisches Schlupfloch gelassen, was endlich zu schließen ist, denn immer mehr Lehrkräfte paaren sich untereinander, weil sie einen Freundeskreis haben, der sich nur aus ihresgleichen speist. Da unterhält man sich nur über Noten, Bildung und Unterrichtskonzepte. Horizonterweiterung sieht anders aus.
Die Abendunterhaltung einer Fleischereifachverkäuferin mit ihrem müllwerkelnden Ehemann ist ungleich breiter aufgestellt. Alleine die Tatsache, dass sie im Freundeskreis keine Lehrkräfte haben, macht sie zu einem bodenständigen glücklichen Ehepaar.
Und ich weiß, wovon ich spreche. Meine Eltern sind ein ausgesprochen glückliches Paar. Und dich bin der gelungene Beweis dafür. Der Frucht ihrer Lenden entstiegen, um ein ganz Großer zu werden. Ein Lehrerkind hat ja keine andere Wahl, als in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten. Die ganze Erziehung fußt ja darauf. Es wird darauf konditioniert und getriggert. Mir hingegen steht die Welt offen. Meine Eltern würden sich niemals in meine Schulangelegenheiten mischen. Sie lassen mich Mensch sein. Für sie sind hohe Noten kein Weltuntergang, sondern Zeichen meiner Persönlichkeit. Dafür schätze ich sie sehr. Eine Nichtversetzung ist für sie kein Drama. Es ist vielmehr ein Jahr weniger Berufsleben. Und das Abitur ist doch nur Mainstream. Ich schwimme da lieber gegen den Strom.
Ich bin ein Individualist. Keiner wie alle. Wenn ich irgendwo mit meiner Meinung reingehe, komme ich auch mit meiner wieder raus. Der einzige der mir das Wasser reichen kann, ist ein Kellner. Jede Schwäche kann auch eine Stärke sein. Ich bin von mir überzeugt und muss nur noch andere davon überzeugen. Während meine Mitschüler sich wochenlang, einige monatelang damit beschäftigen, was sie wohl werden können, steht meine Planung längst und das binnen kurzer Zeit. Während andere noch nach ihren Talenten suchen, liegt meines auf der Zunge. Meine Profession ist das Sprechen. Ich jongliere artistisch mit Worten. Bin ein Meister des Fabulierens. Rhetorisch so geschickt, dass ich über Themen mich auslasse, von denen ich nichts verstehe und niemand bemerkt es. Sprechen, ohne was zu sagen, meine Leidenschaft. Wo ich hin Rede wächst kein Widerspruch mehr. Würden meinen Worten taten folgen, wir hätten eine viel bessere Welt.
Ich habe eine Aura, die einen aufhorchen lässt. Mein Charisma füllt jede Frittenbude. Ich bin der geborene Politiker.
Ein Vorbild habe ich nicht und wenn, so kann nur ich es sein. Selbstbewusstsein ist mir in die Wiege gelegt. Körperliche Anstrengung war nicht dabei. Und ich vermisse sie auch nicht. Wo andere mit Blut, Schweiß und Tränen von der Arbeit kommen, werde ich dies in meine Reden stecken. Erst neulich sah ich mir eine Bundestagsdebatte an, die ihr Einschlafpotenzial voll ausschöpfte.
Was da so zahnlos schlecht und emotionslos abgelesen wird, was irgendein hoch bezahlter Redenschreiber ihnen auf notiert hat, grenzt fast schon an Arbeitsverweigerung. Wobei sie nur den Parteigranden nach dem Mund reden. Und da ist es egal aus welcher Partei der, die oder das Redner kommt.
Eine Partei, die mich als Mitglied aufnimmt, würde ich niemals beitreten. Ich vertrete mich und meine Meinung. Etwas, was mit keiner Partei kompatibel wäre.
Wenn Demokratie heißt, jeder darf zu allem was sagen, dann stehe ich für die Einführung der absolutistischen Monarchie. Ein Herrscher gleich eine Meinung. Das verwirrt die Bevölkerung, ergo Untertanen, dann nicht so.
Mit einem Cäsar hatten es die Römer doch nicht schlecht. Die sind nur deshalb untergegangen, weil dieser Brutus nicht an sich halten konnte. Sonst würde Cäsar heute noch herrschen. Denn das Römische Reich war ein sehr Lustiges, wenn man sich die Asterix Comics einmal ansieht. Oder Nofretete, erste Frau im Staate. Die wurde bewundert wegen ihrer Nase, die natürlichen Ursprungs war und nicht plastisch optimiert. Wenn die was sagte, da gingen die Männer aber in Deckung. Auch die war sich nicht zu schade Asterix, um Hilfe zu bitten. Überhaupt ein Teufelskerl. Ein Globetrotter vor dem Herrn. Wo der nicht alles war. In Belgien, in der Schweiz, bei den Indianern und sogar im Morgenland. Sogar bei den Pikten war er, wo immer die auch sein mögen.
Noch bevor die grünen damit anfingen, bildete er bereits mit seinem adipösen Freund Obelix eine Doppelspitze. Ohne dessen Mitwirkung müssten wir heute auf eines der berühmtesten Zitate der Politik verzichten. Den hat Cäsar selbst erdacht, ohne das ihm eine Werbeagentur reinreden konnte.
„Lasst dicke Männer um mich sein.“
Und schon glaubte Helmut Kohl, er sei gemeint.
Der hat sich dann sofort seinen „Mantel der Gechichte“ angezogen und ins Kanzleramt gegangen. Sechzehn Jahre und etliche Saumagen später, konnte man ihn nur mit Mühe entfernen, sonst würde er heute noch seine Sitzblockade betreiben.
Aber kehren wir zu dem Wesentlichen zurück. Zu mir.
Mein Lebensplan sieht vor, politisch gleich oben einzusteigen. Ich trete doch nicht in irgendeinen Ortsverein bei, dort horrende Mitgliedsbeiträge zu zahlen, um dann Plakate zu kleben für irgendwelche Hansel, die glauben, sie wären die richtigen für den Bundestag. Ich bin nicht so vermessen. Ich glaube nicht, ich wäre der Richtige dafür. Ich weiß das. Mein großes Vorbild in dieser Hinsicht ist Rio Reiser.
Der wollte schon damals König von Deutschland werden. Der wollte das nur. Ich gehe da sogar einen Schritt weiter. Ich werde König von Deutschland. Der Bundespräsident ist ein Auslaufmodell. Erster Mann im Staat und hat nichts zu sagen. Wer braucht denn so was. Schon bei meiner Namensgebung bewiesen meine Eltern Weitsicht.
Mit „Jürgen“ da haben sie einen Volltreffer gelandet. Jürgen ist in der Königsgeschichte einmalig. Wären sie Lehrer gewesen, würde ich heute wohl Ludwig heißen. Und dann wäre ich nach Ludwig dem Zweiten, jetzt der Dritte. Und wer möchte schon dritter sein. Gerade noch auf das Treppchen gekommen und keinen interessiert es. Wer wurde denn dritter bei den Olympischen Spielen 1964 in Calgary im 400m Lauf der Damen? Eben! Übrigens niemand wurde dort dritte, weil die Spiele in Tokio waren. Die Dritte war übrigens Judy Amoore aus Australien. Und die ist heute nicht einmal eine Fußnote der Geschichte.
König Jürgen der Erste wird jedenfalls nicht im maroden armen Berlin in einer Waschmaschine hausen. Ich residiere! Schloss Neuschwanstein ist ohnehin gerade im Leerstand, seit Ludwig II zum Schwimmen gegangen ist. Außerdem schon möbliert. Das spart Steuergelder, die sinnvoller eingesetzt werden können. Zum Beispiel eine Seilbahn hinüber zu schloss Hohenschwangau. Wenn ich da hin und her pendele, muss keine Straße wegen mir abgesperrt werden. Dann kann das Volk mich auch nicht belästigen mit blöden Selfies. Das Volk möchte ja auch schließlich zu seinem Herrscher aufblicken. Wo ginge das besser als bei Schloss Neuschwanstein.
Es ist auch repräsentativer als bei den anderen Staatschefs, wenn ich mir deren Butzen so anschaue. Ich stehe dann abends auf einer Zinne und schaue auf meine Untertanen hinab. Dazu das Alpenpanorama. Ich inmitten eines Postkartenidylls. Der Bundestag wird aufgelöst und da kommt KIK oder Woolworth rein. Die Landesfürsten werden enteignet, denn es wird nur noch ein Land geben. Mein Land.
Ich, der Mann aus dem Volke kommend, vertritt das Volk. Zukünftig wird kein park, keine Straße mehr mit Wahlplakaten zugemüllt, die ohnehin nichtssagend sind. Wahlen sind überflüssig, denn ich regiere durch. Und das Volk wird mich so bewundern, wie ich es tue.
Einst, ich prophezeie es voraus, wird ihre Majestät König Jürgen der Erste, die Geschichtsbücher füllen, wenn Cäsar bereits längst vergessen sein wird.
Und schon heute freue ich mich auf den neuesten Asterix Band: Asterix und Obelix auf Neuschwanstein.

Dir gefällt, was Rolf Bidinger schreibt?

Dann unterstütze Rolf Bidinger jetzt direkt: