“Gibt es auf Erden ein Maß?” Lapidar klingt die Frage, die der Dichter Friedrich Hölderlin in einem seiner späten Gedichte formulierte. Und lapidar ist auch die Antwort, die er auf sie gab: „Es gibt keines.“ Heute, zweihundert Jahre später, wird kaum anders antworten, wer achtsam in die Welt schaut: Menschen brennen aus, weil sie nicht mehr wissen, woran sie sich orientieren sollen. Die globale Finanzwirtschaft läuft heißt, weil sie von maßlosem Profitstreben befeuert wird. Anmaßende Politiker betreiben eine horrende Misswirtschaft. Wohin wir auch blicken: Die aktuellen Krisen der Welt haben etwas damit zu tun, dass Menschen nicht mehr wissen, woran sie maßnehmen sollen.

Tatsächlich war schon im alten Griechenland umstritten, wer oder was als Maß aller Dinge gelten könne. Der Philosoph Protagoras meinte, der Mensch selbst sei für sein Tun und Lassen maßgeblich. Sein Kollege Platon hielt dagegen und sagte, es müsse an Gott maßnehmen, wer angemessen leben möchte: ein Gedanke, der heute, zuzeiten der großen Maßlosigkeit neu bedacht sein will – heute, da der Versuch des modernen Menschen, sich selbst zum „Herrn und Meister der Natur“ (Rene Descartes) aufzuschwingen, zu scheitern droht.

Platons Gedanke lässt sich freilich nur dann auf die gegenwärtige Situation anwenden, wenn man sich von der Vorstellung befreit, eine mythologische Gottheit oder auch der christliche Schöpfergott seien von ihm zum Maß aller Dinge ernannt worden. Nein, wenn der antike Philosoph von „Gott“ spricht, dann meint er damit so etwas wie das zeitlose Grundprinzip des Lebens: die Lebendigkeit, die nach griechischer Vorstellung den Kosmos durchdringt und hält – eine kosmische Lebendigkeit die ihrerseits durchdrungen ist von einer maßvollen Intelligenz: Alles was lebt, so dachten die Griechen, ist darauf angelegt, in einem spannungsvollen, dabei aber harmonischen Gleichgewicht zu schweben. Gesundheit deuteten sie als die Balance der Körperfunktionen und Organe, Gerechtigkeit als Harmonie der Herrschenden und Beherrschten, Schönheit als Einklang der Farben und Formen. „Das Beste ist das Maß“, lautet ein antikes Sprichwort.

Die Übereinstimmung des Mannigfaltigen und Widersprüchlichen, so lehrte Platon, ist dasjenige, worin sich das Leben vollendet. An ihr sollte daher maßnehmen, wer ein gutes, stimmiges, dem Leben selbst angemessenes Leben führen möchte. Maßvolles Tun, Denken und Fühlen galten mithin als die höchsten Tugenden. Daran sollten wir im 21. Jahrhundert maßnehmen. Erstaunlich genug: Die –alten – Griechen erweisen sich heute als Zeitgenossen: als hoch aktuelle, geistige Lehrer Europas, die wiederentdeckt zu werden verdienen.

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