Was die US-Wahl und das Ende der Ampel wirklich bedeuten
Es ist der 9. November 2024 – eigentlich ein Tag der Erinnerung an wichtige Ereignisse der deutschen Geschichte; in diesem Falle aber mehr noch ein Tag des Innehaltens ob der jüngsten Ereignisse. Hinter uns liegt eine Woche, in der Donald Trump erneut zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde – und in der es zum Bruch der Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP gekommen ist. Die Koinzidenz gibt zu denken. Zumal dann, wenn man die Begleitmusik im Ohr hat, die mit dem Ampel-Aus einherging. In vielem erinnert sie auf bestürzende Weise an das, was man bis vor wenigen Jahren nur von jenseits des Atlantiks kannte – also aus dem Land, das gerade dabei ist, nicht nur seine Demokratie abzuschaffen, sondern auch seine demokratische Kultur zu vernichten. Und so gibt es allen Grund zur Sorge, dass Deutschland sich auf demselben Weg befinden könnte: auf einem Weg, der gepflastert ist mit Häme, Spott, Gehässigkeit und Niedertracht – mit Egozentrik, Narzissmus, Machtgier und Ignoranz; auf einem Weg, der unser Land auf ähnliche Weise zu spalten droht, wie es in den USA bereits geschehen ist; auf einem Weg, der sich immer mehr von der Demokratie entfernt und der dasjenige zerrüttet, was von den Gründern unserer Kultur im alten Griechenland als das Politische bezeichnet wurde.
Das Politische ist das Herz der westlichen Zivilisation. Entdeckt im alten Athen bezeichnet es den offenen Handlungsspielraum eines Gemeinwesens (pólis), dessen Mitglieder es als ihre Aufgabe sehen, zugleich für das Wohl der Bürgerschaft im Ganzen und das gute Leben eines jeden Bürgers im Einzelnen zu sorgen. Dieser Raum des Politischen dient der gemeinschaftlichen und gemeinsam verantworteten Entscheidungsfindung der Bürgerschaft. Er ist der eigentliche Raum der Freiheit, in dem die Vielen einander in Freundschaft begegnen. Sein Fundament ist die Rechtsstaatlichkeit, sein Dach der Gemeinsinn. Die Säulen, die es tragen, heißen Gleichheit vor dem Recht und Gerechtigkeit. Es ist ein Raum, in dem die Menschen eigenverantwortlich die Geschicke ihres Gemeinwesens gestalten, um gemeinsam zu erblühen und zu prosperieren.
Das setzt voraus, dass man sich beteiligt: dass man miteinander redet, einander zuhört, miteinander ringt und dabei immer von der Frage geleitet ist, was dem Gemeinwesen – und mithin jedem Einzelnen – zum Wohl gereicht: was dem Gemeinwohl dienlich ist. Eine Bürgerschaft, die sich in diesem Geiste im Raum des Politischen versammelt, nannte man im alten Griechenland den démos. Ihm die Geschicke der Polis anzuvertrauen, ist die Idee der Demokratie als einer Verfassung, die den Raum des Politischen als Raum des guten Lebens trägt und strukturiert.
Etwas anderes ist das, was man im alten Griechenland den óchlosnannte – ein schwer übersetzbares Wort, das der lateinischen plebs und dem deutschen Wort Mob oder Pöbel entspricht. Darunter verstand man die Summe einzelner Subjekte, die in ihrem Handeln vom Eigennutz bewegt werden und gerade nicht das Wohl des Gemeinwesens, sondern nur ihren eigenen Vorteil im Blick haben. Zum óchlos werden diese Einzelnen dann, wenn sie sich in ihrem jeweiligen Eigennutz verbinden, um in einem Gemeinwesen die erforderliche Macht zu erlangen, um ihre Eigeninteressen durchzusetzen. Dabei macht sich der óchlos gerne das demokratische Instrument der Mehrheitsentscheidung zunutze, um sich einen Anschein demokratischer Legitimation zu geben, wo er doch in Wahrheit die Demokratie vernichtet und an ihre Stelle eine Ochlokratie errichtet hat – um ein Wort des Historikers Polybios zu verwenden.
Eben das erleben wir in den Vereinigten Staaten von Amerika. Nach allem, was wir aus den Wählerbefragungen wissen, verdanken sich die Wahlentscheidungen der Trump-Wähler ausschließlich egoistischen Motiven wie Wohlstandswahrung und Abschottung gegen Einwanderung – während die Wähler von Kamela Harris oft aus Sorge um den Erhalt der Demokratie für die Demokratin stimmten. Dazu passt, dass an der Seite von Trump ein Elon Musk agierte: der Prototyp dessen, was wir in der Philosophie den Homo Oeconomicus nennen – eines Menschen, der bei allem, was er tut, nur seinen eigenen Vorteil zu maximieren gedenkt. Trump und Musk sind Exemplare reinsten Wassers dieses Menschentyps und damit zugleich die Totengräber des Politischen. Der Raum des Politischen ist für sie nicht der Freiraum der Bürgerschaft, sondern ein Marktplatz, auf dem es nur darum geht, den Mitbewerber auszuschalten und sich selbst durchsetzen – ein Raum, in dem es gerade nicht um Kooperation und Konsens geht, sondern um Kampf und Vernichtung des Gegners; ein Raum, in dem nicht das Gemeinwohl gehegt wird, sondern der eigene Willen zur Macht. Und die bekommt man eben am einfachsten, indem man den ganz in der Homo Oeconomicus-Denke gefangenen Mob mobilisiert, ihm die Erfüllung seiner egozentrischen Wünsche verspricht und ihm zugleich die Macht über die vermeintlich Minderwertigen zubilligt – ganz gleich, ob es sich dabei nun um Einwanderer, Homosexuelle oder neuerdings wieder Frauen handelt. Diese Logik wird von Trump perfekt bedient. Und es ist zu fürchten, dass ihm die Rechtspopulisten und Ochlokraten in Europa darin folgen. Denn der Erfolg scheint ihm Recht zu geben. Zumindest so lange, wie der Preis, den man dafür entrichten muss, unsichtbar bleibt: der Untergang einer Zivilisation und Kultur.
Und das Gleiche droht uns nun in Deutschland, dessen Demokratie nicht nur von den Ochlokraten in BSW und AfD sowie den demokratiemüden Wählern dieser Parteien unter Beschuss genommen wird, sondern fatalerweise auch von den Spitzenpolitikern der Partei, die aller Wahrscheinlichkeit nach die vorgezogenen Bundestagswahlen gewinnen wird. Denn wer ist dieser Friedrich Merz? Ein Ex-Aufsichtsratsvorsitzender von Black Rock, einem Unternehmen, das wie kein zweites die Ideologie des Homo Oeconomicus internalisiert und im Namen des eigenen Profits skrupellos ganze Volkswirtschaften ruiniert hat. Aber man muss nicht die Vergangenheit bemühen, um zu erkennen, wie sehr Friedrich Merz vom Ungeist des Eigennutzes getrieben wird. Zusammenarbeit, Kooperation, Konsensfindung im Dienste des Gemeinwesens liegen ihm völlig fern – woraus sich sicher schließen lässt, dass er nicht politisch zu denken vermag; ja, dass er überhaupt nicht zu denken vermag, wenn denn denken etwas mit der Fähigkeit zu tun hat, im Dialog mit anderen eigene Positionen zu überdenken und gemeinsam Lösungen zu finden – sofern das Denken etwas anderes ist als machtpolitisches Kalkulieren und Ersinnen von Strategien zur Vernichtung des Gegners. Was Merz seit Monaten öffentlich zu erkennen gibt, lässt jedenfalls den Schluss zu, dass es diesem Mann in keiner Weise um das Gemeinwohl des deutschen Gemeinwesens zu tun ist, sondern ausschließlich seiner eigenen Machtgier geschuldet ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er ganz ins ochlokratische Lager überwechselt und mit der AfD koaliert – denn dass er unfähig und, schlimmer noch, unwillens ist, mit einer demokratischen Partie zu kooperieren, mit der man im Raum des Politischen Kompromisse schließen muss, hat er ja bereits in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben. Merz ist kein Demokrat und wird auch keiner mehr werden. Das unterscheidet ihn von Olaf Scholz, der sich allein dadurch als Demokrat erwiesen hat, dass er um des Landes willen seine Macht preiszugeben bereit ist.
Wirklich verstörend dabei ist allerdings, dass niemand ihm dafür Respekt zu zollen bereit ist. So weit ist offenbar die Erosion des Politischen – vor allem in der Medienöffentlichkeit – vorangeschritten, dass sich in diesen Tagen niemand hat finden lassen, der Olaf Scholz für die Entlassung seines ebenfalls demokratie-fernen Finanzministers gewürdigt hätte; der erkannt hätte, dass der Bundeskanzler sich als Demokrat erwiesen hat; wie übrigens schon häufig während seiner Amtszeit – denn dass demokratische Führung eben nicht darin besteht, bei jeder Gelegenheit Unmut zu sähen um sich des Ochlos zu bemächtigen (siehe Merz), sondern dadurch ausgezeichnet ist, im Stillen nach Kompromissen zu suchen und erst im Notfall klare Kante zu zeigen, ist bei unseren politischen Kommentatoren längst schon in Vergessenheit geraten. Und so zerstören wir nach US-amerikanischem Vorbild unsere Demokratie und spielen deren ochlokratischen Totengräbern die von diesen so heiß begehrte Macht in die Hände: die Macht, sich selbst und ihre Lobbygruppen zu bereichern und die Bürger in willfährige Konsumenten zu verwandeln. Düstere Aussichten an einem 9. November.
Und was machen wir jetzt? Am einfachsten wäre es, sich in das Heer der zehn Millionen Depressiven einzugliedern, die unser Land derweil aufzubieten vermag. Aber das kann es nicht sein. Gerade jetzt ist das Gegenteil gefragt: Mut, Zuversicht, Kampfgeist. Es ist noch nicht zu spät. Die Demokratie ist noch zu retten – wenigstens in Deutschland und Europa. Aber es liegt an jedem einzelnen von uns. Das politische System selbst ist nicht in der Lage, sich zu reformieren. Es ist korrumpiert von der geistigen Pathologie des Homo Oeconomicus – von dessen anti-politischer Selbstsucht. Diese geistige Pathologie gilt es zu bekämpfen. Bekämpfen aber lässt sie sich nur mit den gewaltlosen Mitteln des Geistes. Weshalb es dabei auch weniger um Kampf als vielmehr um Heilung geht: um die Wiederherstellung eines menschlichen und sozialen Gesundheitszustandes, von dem wir derzeit – zehn Millionen Depressive – weit entfernt sind. Aber das heißt nicht, dass er unerreichbar wäre. Den Weg zu ihm weisen die Werte der Demokratie: Freiheit, Toleranz, Kooperation, Konsens, Miteinander, Lebendigkeit, Schönheit, Freundschaft, Frieden. Sie alle entsprechen dem Wesen eines guten Lebens. Sie alle haben die Kraft, ein Menschentum aus der Trance des egozentrischen Konsumierens zu wecken und für eine menschliche Zukunft zu begeistern. Anders als durch eine geistige Disruption wird sich die Demokratie nicht retten lassen. Damit aber können Sie heute noch anfangen – einfach, indem sie diese Werte durch ihr Tun bezeugen: Wohlwollen statt Hass, Freundlichkeit statt Häme, Dank statt Spott, Lob statt Tadel, Gemeinsinn statt Eigensinn.
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