Anlässlich des 80. Jahrestages des Massakers von Kragujevac fand am 21. Oktober in der zentralserbischen Stadt eine Gedenkveranstaltung statt, um der Opfer des von den Nazis begangenen Verbrechens zu gedenken, bei dem über 2000 Zivilisten ermordet wurden. Ein Verbrechen, über das in Deutschland kaum einer etwas weiß. Doch dieses Jahr schickte auch Deutschland mit Claudia Roth erstmals einen eigenen Vertreter zu dieser Gedenkveranstaltung.
Massaker an der Zivilbevölkerung
Nach dem Einmarsch der Nazis in Jugoslawien 1941 etablierten die Deutschen ein grausames Besatzungsregime. In sogenannten „Sühneaktionen“ sollten für jeden getöteten Deutschen mindestens 100 Zivilisten massakriert werden. Insgesamt fielen durch solche Aktionen bis Kriegsende über 80.000 Zivilisten den NS-Verbrechern zum Opfer. Besondere Symbolkraft nimmt auch heute noch die Stadt Kragujevac ein, in der nach Gefechten zwischen der Wehrmacht und Widerstandskämpfern im Oktober 1941 eine „Sühneaktion“ befohlen wurde. Als Reaktion auf zehn getötete und 26 verwundete Wehrmachtssoldaten wurden 2264 hilflose und unbewaffnete Zivilisten von deutschen Besatzern erschossen. Traurige Bekanntheit erlangte eine Schule, in der über 300 Schüler sowie deren Lehrer zusammengepfercht und massakriert wurden. Ihren Familien hinterließen die Opfer Abschiedstexte in ihren Schulbüchern.
„Weißer Fleck“ in der Erinnerungskultur
Nach dem Zweiten Weltkrieg spielten die auf dem Balkan verübten Verbrechen für die Bundesrepublik keine große Rolle. Es gab keine Staatsbesuche oder Reparationszahlungen - aus Angst, es würden auch andere Länder solche Zahlungen einfordern. Lediglich Vertreter der DDR kamen im kommunistischen Jugoslawien regelmäßig zu den Gedenkveranstaltungen, um der Opfer der faschistischen Verbrechen zu gedenken. Es dauerte 80 Jahre, bis 2021 erstmals auch ein Vertreter der Bundesrepublik zur Kommemoration erschien. Dennoch – oder gerade auch deshalb, weil so lange nicht darüber aufgeklärt wurde – wird in Deutschland heutzutage kaum über die Verbrechen der Nazis auf dem Balkan gesprochen. Dies ist wenig überraschend, denn angesichts des Ausmaßes des NS-Terrors haben sich in Deutschland vor allem Stichworte wie Auschwitz, KZ, Holocaust oder Stalingrad im kollektiven Gedächtnis verankert. Dass die NS-Verbrechen aber auch territorial viel weiterreichten und dass die Nazis schrecklichste Verbrechen in zahlreichen anderen Gegenden der Welt verübten, gerät dadurch schnell in den Hintergrund.
Wunden des Krieges und Geschichtsrevisionismus
Dass der Besuch der Bundestagsvizepräsidentin aus diesem Grund nicht nur ein wichtiger Schritt hin zur deutschen Beschäftigung mit den NS-Verbrechen auf dem Balkan ist, zeigt sich anhand der politischen Lage in den Balkanländern. Denn nicht nur ist das Verhältnis der ex-jugoslawischen Staaten und deren Nachbarn nach den Jugoslawienkriegen in den 1990-er Jahren nach wie vor durch Misstrauen geprägt. Auch Relikte und Ideologien aus längst vergangenen Zeiten sorgen regelmäßig für Zündstoff. So etwa wird in weiten Teilen der kroatischen Bevölkerung der Massenmord an Juden, Serben sowie Sinti und Roma in kroatischen Konzentrationslagern geleugnet, der von den Nazi-Kollaborateuren des Ustasha-Regimes in Kroatien verübt wurde. Über 700.000 Menschen fielen den Ustasha bis Kriegsende zum Opfer. Nach der Befreiung Jugoslawiens durch kommunistische Partisanen wurden die Nazi-Kollaborateure auf Todesmärsche geschickt und massakriert. Noch heute erinnern in Bleiburg jedes Jahr Kroaten an dieses Ereignis, bei dem immer wieder Ustasha- und Nazi-Symbole getragen und Hitlergrüße gezeigt werden.
Doch nicht nur Kroatien hat ein Problem mit Geschichtsrevisionismus und der Verherrlichung der NS-Zeit, auch albanische Politiker fallen immer wieder mit revisionistischen und irredentistischen Aussagen auf. So fordern Spitzenpolitiker Albaniens und des Kosovo regelmäßig eine Vereinigung dieser Länder. Andere Nationalisten gehen noch weiter und streben eine Vereinigung aller Territorien mit albanischer Minderheit an, die auch Gebiete Montenegros, Serbiens, Nordmazedoniens und Griechenlands umfassen würde. Auch die britische Sängerin albanischer Abstammung Dua Lipa fiel letztes Jahr mit solchen Beiträgen auf sozialen Medien auf, die eine Karte „Großalbaniens“ zeigten. „Großalbanien“ war ein faschistischer Marionettenstaat, den die Deutschen und Italiener nach der Besetzung der Balkanstaaten im Zweiten Weltkrieg zeitweise errichteten.
Deutschlands politische Verantwortung
Aus diesem Grund ist es wichtig, auch über 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges an die Verbrechen zu erinnern – einerseits in Deutschland, von dem das Unheil ausging, aber auch auf dem Balkan selbst, da man nur so Reaktionären, Neonazis und Geschichtsrevisionisten entgegentreten kann. Doch nicht nur kommt es in den Balkanstaaten immer wieder durch historische und politische Meinungsunterschiede zu Krisen. Auch finanzielle Probleme sowie ethnische und territoriale Konflikte prägen nach wie vor den Alltag in der Region: In Bosnien, in dem Kroaten, Serben und Bosniaken zusammenleben, werden staatliche Institutionen regelmäßig durch Vetos der Repräsentanten der drei Völker blockiert. In Nordmazedonien ist das politische Klima durch Konflikte mit nationalen Minderheiten und dem Namensstreit mit Griechenland nach wie vor angeheizt. In Montenegro stehen interne Konflikte auf der Tagesordnung, nachdem nach einem Streit mit der serbisch-orthodoxen Kirche die alte Regierung abgewählt wurde. Und auch zwischen Serbien und dem Kosovo gibt es 22 Jahre nach Kriegsende kein finales Abkommen, das den Status des Kosovo regelt. Dieser wird von der Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten nach wie vor nicht anerkannt.
Deutschland hat angesichts seiner Geschichte und seiner zentralen Rolle in Europa die Verantwortung, einerseits an die Verbrechen aus der NS-Zeit zu erinnern. Andererseits hat es mindestens eine genauso große Verantwortung, durch konkrete politische Maßnahmen eine erneute Verschärfung der politischen Lage auf dem Balkan zu verhindern und für dauerhafte Stabilität in der Region zu sorgen. Claudia Roths Besuch in Kragujevac war ein erster wichtiger Schritt zu diesem Ziel.
Weiterführende Literatur:
Goldstein, Ivo und Slavko Goldstein: The Holocaust in Croatia. Pittsburgh 2016.
Manoschek, Walter: Die Massaker in Pancevo und Kragujevac im Herbst 1941. Zur deutschen Repressionspolitik gegenüber der Zivilbevölkerung im besetzten Serbien, in: Wrochem, Oliver von (Hrsg.): Repressalien und Terror. „Vergeltungsaktionen“ im deutsch besetzten Europa 1939-1945. Paderborn 2017, S. 89-102.
Manoschek, Walter: Kragujevac 1941, in: Ueberschär, Gerd R. (Hrsg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003, S. 114-125.
Schiller, Ulrich: Deutschland und "seine" Kroaten. Vom Ustasa-Faschismus zu Tudjmans Nationalismus. Bremen 2010.