Nachdem die Hamas begann, erneut tausende Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel zu feuern und der jüdische Staat entsprechend reagierte, wurden in Deutschland und Europa hunderte anti-israelische Demonstrationen organisiert, auf denen es mitunter zu Gewaltanwendung, antisemitischen Sprechchören und Flaggenverbrennungen seitens der Teilnehmer kam. Die Proteste gingen vornehmlich vom islamischen Milieu aus, erhielten jedoch teils große Unterstützung aus dem linken Lager. Das fehlende Interesse, mit dem man auf solche Eskapaden mitunter reagierte, weist auf das gravierende und gern verschwiegene Problem hin, das wir mit muslimischem Antisemitismus haben.

Taktische Maskerade der „Israelkritik“
Von Teilnehmern und Unterstützern solcher Demonstrationen wird beinahe reflexartig auf die vermeintliche Zielrichtung ihrer Agitation verwiesen, die sich gar nicht gegen Juden, sondern Israel richte. Die Grenze zwischen Kritik an der israelischen Regierung und Antisemitismus ist in der Tat fließend. In Gelsenkirchen wurde vor der Synagoge von einer Menschenmenge „Scheiß Juden“ skandiert, in Münster und Bonn wurden vor den dortigen jüdischen Gotteshäusern Israelflaggen verbrannt, in Düsseldorf wurde ein Mahnmal für die während der „Reichspogramnacht“ abgebrannte Synagoge beschmiert und in Berlin unlängst ein junger Mann verprügelt, der seine Cap nach hinten gedreht hatte, weil die Täter sie für eine Kippa hielten und damit offenbar einem antisemitischen „Blutrausch“ verfiehlen.
Dort, wo sich blanker Hass auf Juden entlädt, kann von „Israelkritik“ keine Rede sein. Häufig wurde der Ausspruch „From the river to the sea, Palestine will be free“ vernommen, eine Chiffre für die Auslöschung Israels. Das Existenzrecht des jüdischen Staates wird dabei offen negiert, denn die geographische Fläche zwischen „river“ (Jordan) und „sea“ (Mittelmeer) umfasst die Gesamtheit seines Staatsgebietes. Was das für Israel bedeutet, ist eindeutig. Ebenso oft wurde die Parole „Ḫaibar Ḫaibar yā yahūd ǧaiš Muḥammad sa-yaʿūd“ (Deutsch: „Chaibar, Chaibar, oh ihr Juden, Mohammeds Heer kommt bald wieder“) von den Protestlern rezitiert. Chaibar war zu Zeiten Mohammeds eine von Juden bewohnte Oase, die im Frühjahr 628 von Muslimen militärisch erobert wurde. Der Prophet soll dabei eigenhändig hunderte Juden enthauptet haben. Auch die gern verbreitete Behauptung, die Juden begingen an den Palästinensern die Verbrechen, die vor 80 Jahren an ihnen selbst begangen wurden, ließ nicht lange auf sich warten. Mehr als eine pietätlose und völlig unzutreffende Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen liegt hierin nicht. Wer den Holocaust relativieren muss, um die israelische Regierung zu kritisieren, kritisiert die israelische Regierung nur, um den Holocaust zu relativieren. Man scheint sich dagegen ausschließlich für vermeintliche israelische Gräueltaten zu interessieren. Das Massaker an der christlichen Bevölkerung von Damour durch PLO-Verbände im Jahr 1976, die Zerstörung mehrerer christlicher Dörfer in der Umgebung von Sidon und die Vertreibung oder Tötung ihrer Bewohner durch schiitische Milizen im April 1985 oder etwa die Ermordung tausender Palästinenser auf Befehl König Husseins I. von Jordanien im „Schwarzen September“ 1970 sind „Israelkritikern“ kein Begriff. Diese Verbrechen stören im geläufigen Narrativ lediglich, sie wurden schließlich nicht von Israel begangen. Ein solcher Doppelstandard ist erschütternd und entlarvend zugleich.

„Der ehrbare Antisemit“
Gewiss sind Antisemitismus und „Antizionismus“ historisch unterschiedliche Phänomene. Sie haben in der Gegenwart aber dieselbe praktische Bedeutung und sind zumindest teilweise kongruent. Die Dämonisierung des jüdischen Staates und sinngemäße Übertragung alter antisemitischer Verschwörungstheorien, etwa der Ritualmordlegende („Kindermörder Israel“), ist nur ein Vorwand für längst existierenden Judenhass. Der „ehrbahre Antisemit“ (Jean Améry) hat „ein beneidenswert reines Gewissen“, denn er setzt sich für die vermeintlich Unterdrückten ein und hat nichts zu befürchten, solange sich seine Judenfeindlichkeit nur als „Antizionismus“ geriert. Wer die Politik der israelischen Regierung für den grassierenden Antisemitismus und willkürliche Angriffe auf Juden und Synagogen hierzulande verantwortlich macht, betreibt Täter-Opfer-Umkehr auf billigem Niveau und setzt – ob bewusst oder unbewusst – das seit Jahrhunderten existierende antisemitische Narrativ einer vermeintlichen „Provokation“ der Judenfeindlichkeit durch die Juden selbst fort. Besonders die Proteste in Berlin eskalierten, Polizisten wurden angegriffen und eine aggressive Stimmung verbreitet. Jede dieser Demonstrationen ist eine Schande für Deutschland. Politik und Medien nehmen dies hingegen nicht zum Anlass, deutliche Töne anzuschlagen. So sprach der Berliner Innensenator in grotesk euphemisierender Weise von „erlebnisorientierten Jugendlichen“ und der RBB veröffentlichte einen Beitrag, in dem von einer „sehr guten Atmosphäre“ die Rede war. Wir leben in einem Land, in dem das Gedenken an die Shoah und das Existenzrecht Israels Teile der Staatsraison sind, aber die Gesellschaft nun weitgehend untätig zusieht, wie offener Judenhass wieder auf die Straßen getragen wird. Das ist nicht nur zutiefst erschütternd, sondern eine politische Katastrophe.

Westliche Terrorismusrelativierung als Etappensieg der Hamas
Dabei muss man sich vor Augen führen, dass die Hamas eine terroristische Vereinigung ist, deren erklärtes Ziel die Vernichtung des Staates Israel und seiner Bevölkerung ist. Das in Akte der „Notwehr“ oder „gerechtfertigte Gegenreaktionen“ auf israelische Aggressionen umzudeuten, legitimiert Terrorismus und verkennt die militant-islamistische Natur der Organisation. Man muss sich nur vor Augen führen, welche Erwartungen hier formuliert werden. Soll Israel die Ermordung seiner eigenen Bürger bewusst in Kauf nehmen? Die Art und Weise, wie die Agitation der Hamas legitimiert werden soll, ist geradezu zynisch. Israel hat das Recht und die Pflicht, seine Bürger zu verteidigen. Der Argumentationstopos einer absurden Opferrollendialektik trägt indes nicht zur Konfliktlösung der, sondern fungiert lediglich als „nützliche Idiotie“ für die Terroristen aus dem Gazastreifen. Israel auf der einen Seite ist ein freiheitlich-demokratischer Staat, der nach den Maßstäben seiner Verfassung funktioniert, wir sprechen auf der anderen Seite von einer militanten Terrororganisation. Es gibt hier keine Äquidistanz.
Die Hamas hat seit dem Rückzug Israels aus Gaza im Jahr 2005 eine islamistische Diktatur errichtet und interessiert sich nicht für das Wohl der Menschen im Gazastreifen. Das Gebiet erhält jährlich hohe internationale Hilfszahlungen, die die Terroristen für die Beschaffung militärischen Geräts und Raketen nutzen. Diese Raketen werden bewusst aus Wohngebieten abgefeuert, um im Falle israelischer Gegenschläge möglichst zivile Opfer beklagen zu können, die dann propagandistisch verarbeitet werden können. Dieser perfiden und menschenverachtenden Strategie der Hamas wird hierzulande allerdings nur wenig Beachtung geschenkt, vielmehr wird die Propaganda sogar aktiv aufgegriffen. Die Hamas begreift das auch durchaus als Erfolg. Von den knapp 3500 auf Israel abgefeuerten Raketen sind mehrere Hundert noch im Gazastreifen niedergegangen, sorgten für Todesopfer und beschädigten sogar die eigene Stromversorgung. Die Hamas hat kein Interesse an einer Verbesserung der Lage der Bewohner Gazas, sondern ist einzig getrieben von genozidalem Antisemitismus. Es gibt auf palästinensischer Seite keine demokratische Kraft, sodass eine unabhängige Palästinensernation im besten Falle ein islamischer Staat, im schlimmste Falle ein Terrorstaat wäre. Wem wirklich etwas am Wohl der Palästinenser liegt, der fordert „Free Gaza – from Hamas“.

Muslimischer Antisemitismus und Toleranzparadoxon
Die Probleme sitzen jedoch tiefer. Genau der Antisemitismus, der sich vielfach unter dem Deckmantel einer ihn pseudo-legitimierenden „Israelkritik“ entlädt, ist in den Staaten des Nahen Ostens weit verbreitet. Antisemitische Narrative und Ressentiments finden dort zumeist breite Zustimmung. Im Kinderprogramm der palästinensischen Autonomiegebiete wird Kindern von klein auf blanker Judenhass vermittelt, so auch in entsprechenden Schulbüchern, die oftmals sogar mit Geldern der EU und der Bundesrepublik gefördert werden. Man kann diese auf purer Naivität seitens der westlichen Geberländer beruhende Praxis mit Recht staatlich finanzierten Antisemitismus nennen. Erst vor kurzem kündigte Außenminister Heiko Maas ein Hilfspaket für den „humanitären Einsatz“ im Gazastreifen in Höhe von 40 Millionen Euro an. Dass die entsprechenden Gelder nicht humanitärer Hilfe oder gar der Zivilbevölkerung zugute kommen werden, liegt auf der Hand.
Antisemitismus kann ein endemisches und importiertes Phänomen zugleich sein. In der islamischen Welt weit verbreitete kulturell bedingte Judenfeindlichkeit wird jedoch im Wege der Migration aus den entsprechenden Staaten nach Europa, und insbesondere auch nach Deutschland getragen. Antisemitismus ist im muslimischen Umfeld offenbar ein probates Medium der politischen Agitation, die vergangenen Wochen haben das eindrücklich demonstriert. Solche Einstellungen werden ebenso systematisch von Moscheevereinen wie Millî Görüş oder Ditib gefördert und kultiviert, die als erweiterter Arm des türkischen Präsidenten Erdoğan dessen Einfluss unter in Deutschland lebenden Türken sichern sollen. Von der türkischen Religionsbehörde Diyanet im Ausland ausgebildete Imame werden oft sogar ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland geschickt und predigen hier weitgehend ungestört antisemitische und islamistische Inhalte. Als Teil seiner Taktik verkauft sich der politische Islam in Deutschland zugleich als „moderat“ und will Bestandteil einer „Vielfaltsgesellschaft“ werden. Viele Repräsentanten von Politik und Medien verfallen diesem Narrativ. Werden diese Tendenzen unter dem Deckmantel einer naiven Toleranzphilosophie geduldet, schaufelt sich die freiheitlich-aufgeklärte Gesellschaft ihr eigenes Grab. Stimmen, die Missstände benennen, werden von der linken Zivilgesellschaft entweder ignoriert oder in eine fremdenfeindliche Ecke gestellt. Antisemitismus wird geduldet, solange er nur von Migranten ausgeht. Mit ideologischer Debattenevasion und purer Ignoranz aber löst oder entschärft man keine Probleme, sondern befüllt ein Pulverfass, dass so immer weiter an Sprengkraft gewinnt.

Jüdisches Leben in Deutschland in Gefahr
Die Sorge, als „ausländerfeindlich“ oder „islamophob“ wahrgenommen werden zu können, triumphiert offenbar über das Interesse am Schutz jüdischer Mitbürger. Ein ausführliches Repertoire an Statistiken verrät: Juden fühlen sich in Deutschland überwiegend nicht mehr sicher. Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) liefert jedoch ein verzerrtes Bild über Tatmotivationen und Täterkreis. Antisemitische Straftaten, die nicht unmittelbar zugeordnet werden können, werden pauschal der Kategorie „rechts“ zugerechnet. Dabei liefern Opferumfragen ein anderes Bild, denn Juden fühlen sich hierzulande vor allem aufgrund radikaler Muslime bedroht. Der Antisemitismus-Bericht 2017 des „Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“ ordnet 81 Prozent der entsprechenden Straftaten Muslimen zu, eine Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte von 2018 spricht von 41 Prozent islamistischen Motiven und einer Studie der Universität Bielefeld nach gehen über 80 Prozent der antisemitischen Angriffe von muslimischen Tätern aus. Dass große Teile der Gesellschaft hiervon keine Notiz nehmen, ist nicht nur ein Armutszeugnis, sondern stellt geradezu eine Kapitulation vor dem „islamischen Faschismus“ (Hamed Abdel-Samad) dar. Wie ernst meint Deutschland es wirklich mit seinem „Nie wieder“?

Bild: © Raphaël Vinot, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.en

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