Würde ich es nicht tun, blieb eine verdiente Würdigung wohl aus. Das Bundesverdienstkreuz wird ihm kaum verliehen werden. Denkmäler errichtet zu seinen Ehren, eher unwahrscheinlich. Ein eigener nationaler Feiertag, nur ein schöner Traum. Von der Sonderbriefmarke mit seinem Konterfei, kann keine Rede sein. Keine Rose, kein Asteroid, nicht einmal der kleinste Feldweg werden zukünftig seinen Namen tragen.
Er war ein Niemand, den niemand kannte. Einer von Millionen. Keiner, zu dem die Welt aufschaut. Ein unterdurchschnittlicher Durchschnittsmann. Perspektivlos in seinen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs. Nur die Aussicht auf ein anonymes Grab hielt ihn am Leben. Freud- und freundlos. Sein trauriges Schicksal angenommen und akzeptiert. So war er, Adolph Maria König. Ein Name, ausgedacht von seinen Eltern, der die ganze Perspektivlosigkeit in seiner Gänze, voll zur Geltung brachte. Denn alleine schon mit „Adolph“ ist kein Staat mehr zu machen. Ihn jedoch zu streichen und den Zweitvornamen als Erstvornamen zu installieren, hieße ja zwangsläufig eine Geschlechtsangleichung vornehmen zu müssen. Dazu wäre ein größerer Körperumbau vonnöten, was schon alleine am Pekuniären zum Scheitern verurteilt war. Dazu noch der tragische Nachname, der nur eine illusorische Seifenblase war. Denn das Königshaus, in dem er zur Welt kam, konnte weder mit Versailles, noch mit Schloss Windsor mithalten. Der Monarch König musste sich mit einer Dreizimmerwohnung zufriedengeben und sein Herrschaftsgebiet begrenzte sich auf ein Kinderzimmer mit nicht standesgemäßer bunter Feuerwehrautotapete. Sein Thron, ein wackeliges Holzschaukelpferd, welches der Vater eines Tages an der Straße fand. Das einzig Monarchische dabei war, dass besagter bürgerlicher Vater, einen in der Krone hatte. Kontakt oder Einladungen der anderen Königshäuser blieben aus. Die seelischen Belastungen, ein Ausgestoßener zu sein, prägten sein weiteres Leben. Es schien, als sei er nicht für die Sonnenseite des Lebens geboren und so wandte er sich verstärkt der dunklen Seite zu, die ihn mit offenen Armen empfing. Hier war er anerkannt und fühlte sich glücklich aufgehoben unter Seinesgleichen. Hier im Hades konnte er sich frei entfalten und seinem Leben endlich einen Sinn geben. Er verachtete all diejenigen, die ihm die Huldigungen einer Majestät verweigerten. Kein Hofknicks, keine tiefe ehrerbietige Verbeugung, wurde ihm je zuteil, was schwer an ihm nagte.
Das Tageslicht verabscheuend, blühte er in der Nacht erst richtig auf. Seine Metamorphose, hin zu einem rechtschaffenen Nachtschattengewächs, war kaum abgeschlossen, als er seine wahre Berufung erkannte. Er sah sich als die Reinkarnation, die neue Variante von Robin Hood. Er nahm es den Reichen und gab es sich selbst. So kam er leidlich über die Runden, weil er unter der Schwäche litt, nachts in dunklen Pinten großzügig Runden zu schmeißen.
„Stehlen, um zu geben.“, erhob er zu seinem Lebensmotto, was von seinen neuen Freunden sehr begrüßt und weidlich ausgenutzt wurde.
Dafür erhielt er hier die Anerkennung, die ihm anderweitig versagt blieb. Doch war es ihm nicht genug. Im Stillen brodelte in ihm noch die Hoffnung, auch im Hellen die Akzeptanz zu erlangen. Doch, um dies zu erreichen, war ein sehr gewagter Schritt nötig. Er musste sich dem Sonnenlicht stellen. Er besann sich auf sein großes Vorbild, dem sogar eine große Oper gewidmet wurde, Mackie Messer. Dort hörte er zum ersten mal einen gesungenen Satz, der ihm den Weg wies: „Man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“
Daraufhin warf er sein altes Lebensmotto über den Haufen und verschrieb sich ganz dem Neuen. Er brannte nicht nur dafür, sondern erhob es, da es musikalisch ein Ohrwurm war, sogar zu seiner Erkennungsmelodie. Es war seine persönliche Nationalhymne, die jeder König ohne Volk unzweifelhaft benötigt. Anderswo mögen sie „God save the Queen“ oder „Steht auf wenn ihr Schalker seit“ oder sonst was intonieren, Adolph Maria König ließ nur dieses Lied gelten, entsprach es doch seiner inneren Haltung.
Froh darüber nun endlich seinen Platz gefunden zu haben, sah er sich nun um nach einer sinnvollen Beschäftigung, die ihm die Nächte verkürzen sollten. Als bekennender und danach lebender Individualist, wollte er keinesfalls sich an einen Trend anhängen, sondern vielmehr selbst einen begründen. Diese vielen verwirrten „Nachahmetäter“, von denen die Presse immer wieder berichten, u denen wolle er jedenfalls nicht gehören. Alte Omas überfallen und ihre geringe Rente stehlen, empfand der als würdelos und unhöflich. Auch von Telefonakquise mit dem „Enkeltrick“, kam für ihn nicht infrage, alleine schon wegen seiner notorischen Abneigung Telefongespräche zu führen. Er sah sich mehr als ein Künstler, der kreativ eigenes erschaffen wolle. Lange dachte er über ein Geschäftsmodell nach, welches Eine Bereicherung für sein Leben sein könnte, als auch ihn beruflich voll ausfüllen könnte. Natürlich erkannte er rasch, dass sich nachts viele interessante Möglichkeiten nicht umsetzen lassen, wegen der besonderen Tageszeit. Bankraub ist ja schon ab sechzehn Uhr ein großes Problem, wegen der Öffnungszeit. Drogendealer ist zwar ein lukrativer erfüllender Beruf, aber leider zu überlaufen, ähnlich wie es bei BWLern der Fall ist. Wegen der Einstiegsmöglichkeiten auch bei eines niedrigschwelligen Schulabschlusses, oder erst gar keinem, sind Büsche und dunkle Hauseingänge bereits übervoll mit Kollegen. Er sah sich mehr als konkurrenzloser Anbieter einer Idee, die nur er hatte. Leider lag dort das Problem. Er hatte keine Idee. Jedenfalls keine, die nicht bereits vor ihm jemand hatte. Und dreistes Plagiieren und anderen ihre Ideen zu klauen, dafür war er zu ehrlich. Ein Missgeschick elterlicher Erziehung, die ihm so Steine in den Weg legten. Tagelang lag er wach da und fand einfach keinen Schlaf. Nachts war er entsprechend müde und missmutig unterwegs. Ziel- und sinnlos die Stadt durchstreifend, nach Inspiration suchend. Gedankenverloren und innerlich aufgewühlt, auch in jener, für ihn so schicksalhafter Nacht, die die Wende bringen sollte. Väterchen Zufall sei Dank. Da ging für Adolph Maria, trotz Einschränkung wegen seiner ausgeprägten Nachtblindheit, ein Licht auf, ja ein leuchtender strahlender Stern, der ihm den Weg wies, wie dereinst den Heiligen Drei Königen, deren Geschichte schon mehrfach wortreich verfilmt wurde. Schon die Buchvorlage war ein Bestseller. Auch dort ging es nebenbei um einen König, der Probleme hatte, als solcher anerkannt zu werden.
Es war etwa drei Uhr in der Nacht. Seine schlechte Laune ließ Adolph Maria König an einer am Boden liegenden Dose, mit ehemals brauner Brausefüllung aus, die lustlos auf dem Bürgersteig sich verkehrswidrig aufhielt. Er kickte sie an, um ihr Fehlverhalten unmissverständlich klar zu machen. Dies tat er alle paar Meter, denn immer wieder versperrte sie ihm den Weg.
Völlig auf seinen Gegner fokussiert, wurde er plötzlich von hinten aus seiner Konzentration gerissen, was sich nicht direkt als stimmungsaufhellend erwies.
Er wandte seinen Blick nicht von der Dose, aus angst, sie würde sich sonst aus dem Staub machen oder in die Büsche schlagen.
„Hoppla, jetzt komm ich!“, sang eine fröhliche Counterbaritonstimme fröhlich einen alten Hans Albers Schlager, was sich als sein großer Fehler herausstellen sollte.
„Schlager ist tot. Hans Albers ist tot. Fehlt nur noch einer in der Liste.“, prophezeite Adolph Maria düster, seiner Stimmung angepasst, ohne sich dem Sänger Aug in Aug zu stellen.
„Alter, laber nicht und mach dich vom Acker!“, reagierte der Straßenmusiker äußerst unhöflich, ja geradezu gereizt.
Unter der bewussten Ignoranz des Gehörten konzentrierte sich Adolph Maria auf die rot-weiß zerbeulte Softdrinkdose des bekannten Brauseherstellers und Markenführers, voll und ganz auf den nächsten Kick gegen das leichte Aluminiumgehäuse, mit der Lizenz zum Toreschießen. Doch der Versuch, mittels technischer Fußakrobatik diesen in eine Mülltonne zu lupfen, misslang gründlich. Weder das angepeilte Ziel, noch das zu kickende Objekt wurde von ihm auch nur annäherend getroffen. Zu allem Unglück erlitt er bei dem Manöver auch noch einen Sportunfall. Ein veritabler Kapselriss, Bänderdehnung und die Verschiebung seiner Kniescheibe, machten ihn fortan zu einem Sportinvaliden, ohne Anspruch auf eine Versehrtenpension. Obwohl all dies erst später diagnostiziert wurde, ahnte er bereits, dass seine Karriere am Ball beendet sein würde und dieses Wissen darum, ließ er nun den Bänkelsänger spüren.
Unter großen Schmerzen drehte er sich vorsichtig um und sah dem Mann ins Gesicht, der maßgeblich an seiner Invalidität schuld war. Doch was ihm da entgegenlachte, war alles andere als ein ebenbürtiger Gegner. Es war ein Halbstarker. Ach was, eher ein Viertelstarker. Ein Rotzlöffel von höchstens vierzehn Jahren, mit der Stimme seines Erziehungsberechtigten, der offenbar seiner Verpflichtung nicht nachkam, denn dieses Gesangstalent gehörte längst ins Bett. Und wäre dies nicht schon Grund genug gewesen für eine respektvolle Ohrfeige, stand er auf einem Roller, der nichts mehr mit dem klassischen Roller zu tun hatte, den Adolph Maria aus seiner Jugend kannte.
„Was ist denn das für ein Ding?“
„Das ist ein E-Scooter. Die stehen jetzt überall in der Stadt rum.“, erklärte der Rotzlöffel stolz.
„Sieht aus wie ein Tretroller.“, analysierte Adolph Maria.
„Es ist ein Roller ohne Tret.“, ab der Neunmalkluge zurück.
„Ohne Tret? Dann kommst du doch nicht von der Stelle.“
Der Junge musterte den Ex-Fußballspieler und schüttelte den Kopf.
„Mann, Mann, Mann. Auf welchem Planeten lebst du denn.“
Die verdiente Ohrfeige traf ihn überraschend.
„Du gleich Kind, gleich du. Ich Erwachsener gleich Sie. Ohrfeige soll dir Ansporn sein dein Verhalten zu überdenken und du sollst daran reifen.“, erläuterte Adolph Maria seine Handlungsweise.
„Das sage ich meinem Papa.“, heulte der Geschlagene, wofür er prompt eine Zweite einkassierte.
„Denunziant, die hast du dir redlich verdient.“
Kaum war der Satz punktuell beendet, als der dritte Handschlag folgte.
„Damit du dir das auch merkst.“, war die entsprechende Begründung.
Der rotwangig Geschwollene verstärkte sein Heulen.
„Männer heulen nicht. Männer ertragen ihre Strafen wie ein Mann.“, erinnerte Adolph Maria ihn an sein Geschlecht, über das er Schande gebracht hatte.
Um dem Jungen die Chance zu geben, wie ein richtiger Mann zu reagieren, gab er ihm eine erneute Ohrfeige. Doch noch hatte der Weichling nicht verinnerlicht, wie er zu reagieren hatte, was das tränenüberflutete Gesicht eindrucksvoll bewies.
Adolph Maria hatte wenig Hoffnung, dass eine weitere Ohrfeige ihn auf den rechten Weg führen würde, ließ sich jedoch nicht entmutigen und scheuerte ihm noch eine.
Und weil der Jungspund es nicht für nötig hielt, sich für die gerechtfertigte Züchtigung zu bedanken, setzte es noch eine. Dann endlich ließ er von ihm ab, da seine Hand weh tat und er es vermeiden wollte, deswegen weinen zu müssen.
Dem Ohrfeigenempfänger schien es nun auch fad zu werden, stellte sich auf sein Gefährt, gab gas und brauste an Adolph Maria vorbei, den Bürgersteig entlang.
„Komm sofort zurück. Bürgersteige sind für Fußgänger und nicht für motorisierte Rowdys.“, rief er ihm nach, doch der Ungehorsame dachte nicht daran, sich weiter Backpfeifen einzufangen.
Hinkend und mit angebrochener Hand schleppte sich Adolph Maria nach Hause. Kaum angekommen überkam ihn ein Blitzgedanke, der sein Leben vollkommen auf den Kopf stellen sollte. Das nächtliche Erlebnis ließ ihm keine Ruhe. Obwohl die Sonne noch weit entfernt davon war aufzugehen, legte er sich in sein Bett. Aus Mangel weiterer Bettgenossen unterhielt e sich mit sich selbst.
„Wenn, wie ich annehme, tagsüber noch mehr von diesen Rollern marodierend auf Bürgersteigen fahren und unschuldige Fußgänger terrorisieren, so müsste das doch eine noch nie da gewesene Geschäftsidee mit sich bringen.“
Diese an ihn gerichtete rhetorische Frage beschäftigte Adolph Maria sehr und er wusste zuverlässig, wenn sie jemand beantworten kann, dann nur er. So grübelte er darüber, wog ab, verwarf aufgeworfene Thesen, widersprach sich und relativierte alles wieder. Kurzum, er lieferte sich ein heftiges Gefecht der Argumente. Bei jedem Pro konterte er mit einem gegenpositioniertem Contra. Mittlerweile hatte er sich so sehr in den eigenen Gedanken verheddert, dass er ermattet, übermüdet und überfordert einschlief.
Kaum hatte er die Tiefschlafphase erreicht, als es an seiner Schädeldecke klopfte.
Ein kleines runzeliges altes Männchen verlangte Einlass.
„Ich bin dein persönliches Träumerchen und nehme dich mit auf eine Reise, die du nie vergessen wirst, solange du schläfst. Erst wenn du aufwachst, wirst du dich nicht mehr erinnern können.“
Das kleine alte verrunzelte Männchen lauschte, ob es wohl mit seiner Ankündigung einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte, doch war seine Sorge unbegründet und so drang er ins Innere von Adolph Maria ein.
Der so Heimgesuchte wachte in seinem, speziell für ihn entwickelten Traum auf. Doch statt in seinem Bett stand er mitten auf einer Straßenkreuzung. Ganz alleine und mitten am Tag, was er an der Sonne feststellte, die erbarmungslos schien und sämtliche Thermometer an ihre Grenze der Belastbarkeit brachte. Selbst der Straßenbelag schlug Blasen, so heiß war es. Für Adolph Maria bedeutete dies jedoch kein Problem, denn das alte runzelige Träumerchen hatte vorgesorgt und ihm, recht unpassend zu seinem Frotteeschlafanzug, ein paar Hovercraftturnschuhe verpasst, die ihn knapp über dem Boden schweben ließen.
Angesichts des flüssigen Teers, nicht die schlechteste Erfindung aus Herrn Träumerchen`s Traumfirma, mit angeschlossener Entwicklungsabteilung.
Dort saßen Erfinder und Tüftler und konnten unter traumhaften Bedingungen herumexperimentieren. Aus dem riesigen Fundus, der sich über Jahrhunderte angesammelt hatte, konnte Herr Träumerchen seine Träume ausstatten. Für ihn ein Traumberuf.
Etwas verloren stand Adolph Maria nun da und wartete darauf, das sein Traum weitergeht. Bis jetzt war der nämlich noch ohne Action ausgekommen, was bei Adolph Maria etwas Langeweile aufkommen ließ. Herr Träumerchen stand auf dem Dach eines riesigen Wolkenkratzers und betrachtete aus sicher Entfernung, denn es gab nur ein paar von diesen speziellen Hovercraftturnschuhen, auf das, was er sich da für seinen Träumer ausgedacht hatte. Er musste sich eingestehen, den Traum nicht ganz durchdacht zu haben, was ihn persönlich betrübte. Es schlug ihm so sehr aufs Gemüt, dass er ganz traurig wurde. Und so stand Adolph Maria noch eine Weile untätig auf der Kreuzung herum, weil Herr Träumerchen mit sich zu tun hatte und seiner Verpflichtung eines traumhaften Traumes nicht nachkam. Als Firmenchef konnte er es sich einfach erlauben. Einem Angestellten hätte er diese Nachlässigkeit nicht durchgehen lassen. Irgendwann kehrte er jedoch wieder zu seiner professionellen Arbeitsweise zurück und arrangierte ein paar Special Effects, die dafür sorgen sollten, dass Adolph Maria aus dem Staunen nicht mehr herauskommen sollte.
Adolph Maria staunte nicht schlecht, als sich plötzlich der Asphalt aufrollte und sich an seiner Stelle eine grüne Wiese, garniert mit einer Unzahl von Gänseblümchen erwuchs.
„Ich glaube, ich träume.“, rief Adolph Maria und rieb sich verwundert die Augen. Dieses Manöver geriet dermaßen kräftig, dass er dabei aufwachte.
Entgegen bisheriger Erfahrung, konnte er sich in allen Einzelheiten an seinen Traum erinnern.
Nach dem verkorksten, von ihm Höchstselbst verschuldeten Traumdesaster, verkaufte Herr Träumerchen seine Firma und zog sich aufs Altenteil zurück. Für ihn hatte es sich ausgeträumt.
So sehr Adolph Maria auch über seinen Traum sinnierte, so kam er lediglich zu der Erkenntnis, dass er keinen Erkenntnisgewinn daraus ziehen konnte. Eine sehr frustrierende Erfahrung für ihn. Doch dann, um nicht in tiefe Depressionen zu verfallen, entschied er sich für einen gewagten Schritt. Er ging tagsüber auf die Straße, nur um zu sehen, ob es auch da einen Rollerfahrer gibt.
Dem Ungewissen mutig ins Auge blickend, trat Adolph Maria vorsichtig vor die Tür. Die Helligkeit des Tages, die ihn erbarmungslos traf, ließ ihn zurückschrecken.
Er hielt sich an der Hauswand fest, dann wagte er einen ersten zaghaften Schritt hinaus. Minuten später, die erste Berührung mit dem Bürgersteig. Unsicher sah er sich um.
Auf dem Bürgersteig herrschte ein Gewusel an Menschen, Kinderwagen mit anschiebenden Müttern, die zeitgleich auf ihr Smartphone starrten. Eine ganze Armee von Trolly fahrenden Omas und Opis, die ihre Einkäufe hinter sich herzogen. Skateboard fahrende Jugendliche, die Fraktion der dreiradfahrenden Kinder, sowie Radfahrer, denen Bürgersteige weitaus sicher zu sein schienen wie die Benutzung der Straße. Dort waren nur wenige Autos unterwegs. Plötzlich ein lautes Geschrei. Eine ganze Batterie von E-Scootern kam ihm entgegen, die elegant um die Fußgänger herumfuhren und dann mitten auf dem Gehweg, ihre Höllenmaschinen abstellten und sich anschließend als harmlose Passanten unter das aufgeschreckte Volk mischten.
„Das ist ja lebensgefährlich!“, stieß Adolph Maria aus.
Fassungslos stand er da, wagte sich keinen Schritt weiter und besah sich den bürgerkriegsähnlichen Zustand auf dem Bürgersteig.
Bis in die Abendstunden stand er da. Langsam nahm der Ansturm ab. Nur noch unzählige alleingelassene E-Scooter standen kreuz und quer herum. Adolph Maria hatte über die vielen Stunden des Zuschauens einen tiefen verständlichen Hass auf die rücksichtslosen Fahrer entwickelt. Ohne es zu ahnen, hatte sich längst eine Geschäftsidee vor ihm ausgebreitet, jedoch noch ohne es zu wissen.
Erst allmählich wurde ihm, als er schon längst wieder im Bett lag, diese, seine große Chance bewusst.
Am nächsten Morgen informierte er sich über die Rechtslage und rief dazu die Ordnungsbehörden der Stadt an.
Was er dort erfuhr, machte ihn fassungslos. Die Behörden versuchten ihr Verkehrskonzept, zu verteidigen, doch stießen sie damit bei Adolph Maria auf Granit.
„Das ist doch Bullshit, was sie da sagen Herr Bürgermeister.“, schrie er ins Telefon.
Der so Gescholtene versuchte es zunächst im Guten. Doch da Adolph Maria sich nicht einschüchtern ließ, drohte der Bürgermeister unverhohlen, was ihn erst recht empörte.
„Hör zu, du nur auf Zeit Gewählter! Diese Dinger gehören verboten und aus dem Stadtbild verbannt. Denn da wo sie fahren dürfen, tun sie es ja nicht. Keiner hält sich an die Vorgaben und sind eine Gefahr für rechtschaffene Fußgänger. Tu was dagegen, sonst ist dein Stuhl am Wackeln.“
Dann tat er, was sein gutes Bürgerrecht war und legte, unter Offenlegung aller ihm bekannten Schimpfwörter, wutschnaubend auf.
Er fühlte sich unverstanden und sah sich gezwungen, selbst für eine bürgerfreundliche Straßenhygiene zu sorgen, wenn sich die Obrigkeit als unfähig und hilflos erweist.
Bereits zwei Tage später erschien eine Werbeanzeige von ihm in der Lokalpresse. Es war sein erster literarischer Erguss, den er zur Veröffentlichung brachte. Voller Stolz auf sich und seine Fabulierkunst, las er sich die Anzeige laut vor, um den Klang der Wörter mehr erspüren zu können.
„Sonderangebot zum Schnäppchenpreis“, deklamierte er vor dem Spiegel, damit er auch die Gestik und Mimik seines Vortrags genießen konnte.
Dann machte er eine gewollte Kunstpause, damit das Gesagte seine Wirkung voll entfalten konnte.
Zufrieden mit dem Gesagten, dem Gehörten und dem Erspürten, fuhr er zuversichtlich fort, in der Sicherheit, dass es ähnlich in Qualität und Ausdruckskraft weitergehen möge. Kaum war der nächste vorgetragene Satz verklungen, steigerte er sich in eine nie zuvor erlebte Euphorie. So begeisterten ihn die zu einem grandiosen Satz geformten Worte, die seine ganze Leidenschaft zum Ausdruck brachten.
„Sind euch auch die E-Scooter auf den Bürgersteigen der Nation ein Dorn im Zeh?“
Ganz bewusst hatte er die Begrifflichkeit „Zeh“ gewählt, statt des allgemein bekannten Wortes „Auge“, weil er so trickreich erreichen wollte, mehr Aufmerksamkeit zu erreichen. In der Werbung und der Politik gängiges Stilmittel.
Adolph Maria König, König der Fabulierkunst, klopfte sich zufrieden und anerkennend auf die Schulter.
„Gelungen! Absolut gelungen.“, schluchzte er vor Rührung, die ihn ungefragt übermannt hatte.
Für einen kurzen Moment sah er sich außerstande, weiterzulesen. Bewusst entschied er sich dafür, eine längere Pause einzulegen, ohne den Spannungsbogen abflauen zu lassen. Die Vorfreude auf das, was noch folgen sollte, ließ dies ohnehin nicht zu.
Nach Zuführung einer Tasse Tee, selbstgepflückter und getrockneter Kräuter, aus den Gärten der angrenzenden Nachbarschaft, konnte er sich langsam wieder beruhigen und setzte seine Lesung unvermindert fort.
„Wir entfernen für Sie dieses elektronische Ungeziefer, professionell und zuverlässig.“
Ein Satz, wie eine Offenbarung. So knapp hat zuvor noch keine Firma ihr Geschäftsmodell erklärt. Leichte Übertreibung durch das „Wir“ war statthaft, da es ein vorausschauender Ausblick auf die Zukunft gestattete und weltweite Expansion signalisieren sollte. Zwar außer Atem, aber das Ziel vor Augen, sammelte Adolph Maria seine letzten Kraftreserven und las sich den letzten Satz seines meisterlich ausformulierten Pamphlets vor.
„Chiffre 4711/K19“
Im Spiegelbild sah er seine vollendete Verbeugung, dank eines Schriftstellers vor seinem aufmerksamen Publikum, welches konzentriert, empathisch und an seinen Lippen hängend, geradezu geflasht war. Mehr als zufrieden mit seinem Ersten, weltweit erschienen Essay, was gegen eine unverschämt hohe Gebühr, die Lokalzeitung abgedruckt und veröffentlichte, nachdem es ein kritisches unbestechliches Lektorat durchlaufen hatte.
Die Tage vergingen wie ein zähflüssiger Lavastrom, der sich träge aus einem Vulkan den Hang hinunterstürzt. Allmorgendlich der hoffnungsvolle Blick in den Briefkasten. Jeden Morgen die bittere Enttäuschung. Keine Antwort auf sein seriöses Angebot. Und auch er hatte keine Antwort darauf, wie es dazu kommen konnte. Unverständnis und Verzweiflung, zwei ungekannte Gefühle, beherrschten ihn fortan. Nach einer Woche, trost- und postlosem Briefkasten, nahm seine Enttäuschung merklich zu. Der eigene Selbstmord stand zur Debatte, so wie es jedes verkannte Genie in seiner Karriere einmal durchlebet, wenn diese nicht in die Gänge kommen will. Nur die Aussicht, sich der eigenen aufgeschnittenen Pulsadern aussetzen zu müssen und dem daraus resultierenden ausströmen eigenen Blutes, hielt ihn davon ab. Denn die Ansicht des eigenen Blutes, beförderte schon bei der Vorstellung Übelkeit und an den Rand einer drohenden Ohnmacht. Letztlich konnte er sich jedoch wegen seines ausgeprägten Selbsterhaltungstriebs bedauerlicherweise nicht dazu entschließen. Seine Unfähigkeit, durch einen klaren Schnitt, seinem Leben eine neue Wendung zu geben, stand ihm später noch oft im Wege.
Es steht zu befürchten, dass auch nachfolgende Generationen noch mit querstehenden, herumliegenden und um die Ecke geschossenen E-Scootern leben müssen oder gar von ihnen über den Haufen gefahren zu werden. All dies hätte verhindert werden können, wenn nur ein Mensch auf die Chiffreanzeige geantwortet hätte.
Adolph Maria König war bereit, im Dienste der Menschheit sich zu engagieren. Aber ohne legitimierten Auftrag sah er sich dazu außer Lage. Er meldete Insolvenz an und wickelte seinen Betrieb ab, meldete sich arbeitssuchend, lebte fortan am Existenzminimum. Er strafte den Tag, der ihm ja erst das Ausmaß der E-Scooter Invasion vor Augen geführt hat und verlagerte sein Leben wieder in die Nacht.
Mit zunehmendem Alter wurde er immer sonderbarer. Dies blieb jedoch weitgehend unbemerkt, da er sich längst aus der Gesellschaft verabschiedet hatte. Über das weitere Leben von Adolph Maria König lässt sich nur so viel sagen, er ist unbekannt verstorben. Dies ist vermutlich auch der Grund, weshalb in den führenden Geschichtsbüchern sein Name nicht erwähnt wird.
Und so endet eine unrühmliche Geschichte, deren fragwürdige Moral unausgesprochen zurückbleibt und einen schalen Geschmack, auf dene Zungen der Leserschaft, zurücklässt.
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