Gab es wohl in junger Vergangenheit mal eine Zeit, in welcher Bildung und Wissen einen höheren Stellenwert genossen, als Ignoranz und Einfalt? Schwer zu sagen, denn unsere Erinnerungen bezüglich zeitgeistlicher Phänomene sind meist von Subjektivität gefärbt, und eine eindeutige Quantifizierung, die Rückblickend klare Schlüsse diesbezüglich zulassen würde, ist nicht möglich. Jeder Zeitgeist wird nebst in der Erinnerung derer, die ihn erlebten, auch in der kulturellen Produktion und im öffentlichen Diskurs seiner Zeit festgehalten, was auch jeweils subjektive Abbilder dieses flüchtigen Gedankenstroms sind. So gesehen, scheint es in der Vergangenheit doch mal so gewesen sein, dass man Intelligenz oder Kultiviertheit in gewissem Mass schätzte. Betrachten wir, wie Archäologen die Dinosaurierknochen ausgraben, Kultur und Diskurs vom 20. Jh., so gilt zumeist die Idee von Bildung als etwas, was den Menschen erhebt, ihn zumal missverstanden macht, aber sich schlussendlich als noble Eigenschaft durchsetzt.

Inzwischen hat sich diese Situation merklich verändert, und es herrscht eine Atmosphäre, die eher an den Pausenhof einer Grundschule erinnert, als an eine zivilisierte Hochkultur. Doch der Wandel geschah schrittweise, wie bei den Fröschen im Topf, wo das Wasser langsam zu kochen beginnt. Wenig denken, noch weniger nachfragen, und erst recht keine unangenehmen Rückschlüsse ziehen. Wer zu viele Fragen stellt und das anzweifelt, was die meisten akzeptieren, ist suspekt, vielleicht ein Verschwörungstheoretiker, ein Querdenker oder man hat ihm einfach nur das Gehirn gewaschen. Oftmals kann man mit relativ einfacher Logik gewisse Annahmen, die sich eingebürgert haben, auseinander nehmen; also das, was man „aufklären“ nennt, und was die Menschen aus dem Mittelalter, mit seinen Dogmen und Aberglauben, heraustreten liess. Die Reaktion ist aber dann meistens aggressiv, verachtend. Wie kann man sich denn schon, als einfacher Einfaltspinsel anmassen, irgend etwas besser zu wissen als die klugen, erhabenen Experten (denn für alles gibt es heute Experten), die uns die grossen Wahrheiten mitteilen können welche sie, den mittelalterlichen Priestern gleich, direkt von Gott zu hören bekommen, aber welche wir Normalsterblichen nicht zu Ohren bekommen. Die Ignoranz fühlt sich wohl in der Masse, gestärkt von der Vielzahl an Leuten, die ebenso ignorant sind. Millionen von Menschen können ja nicht falsch liegen. Wozu also sich überhaupt informieren, wenn man doch selbst fürs Fressen und Scheissen irgendwo einen Experten auftreiben kann? Man will meinen, die einfachsten Dinge seien komplex wie Nuklearphysik, und kein Otto Normal könnte grundlegende Informationen oder Studien selber lesen und nach logischen Kriterien interpretieren. Da fragt man sich, wozu man eigentlich noch zwölf Jahre lang die Schulbank drücken muss.

Ignoranz ist heute in, Nachplappern ist cool, wer das anders sieht hat wohl auf der Youtube-Universität studiert, oder noch schlimmer, etwas auf Telegram gelesen, wo das Wahrheitsministerium gar nicht erst danach schaut, dass auch nichts unwahres verbreitet wird. Schliesslich brauchen wir unbedingt andere, die uns wie Kindergartenkinder hüten, damit wir nicht die Wachsstifte auffressen, denn man kann offensichtlich nicht mehr den Menschen zumuten, dass sie Wahrheit von Unsinn unterscheiden können. Im Diskurs und in der Kultur sind die Guten jetzt die, die geltende Annahmen nicht in Frage stellen, die auf die Mächtigen hören, und die mit jeder neuen politisch korrekten Mode mitlaufen; und die Bösen sind geistesschwache Verschwörungstheoretiker die glauben, die Welt sei flach, und würde von Reptilianern regiert. Und hier gibt es keine Grauzone: Entweder man gehört zu den Guten, oder zu den Bösen, Punkt. Die Mächtigen meinen es ja immer gut mit uns, sie sind ja bekanntlich allesamt Heilige, die nur die besten Absichten hegen, und die, vor allem, von den klügsten der klugen Experten beraten werden, die ihnen die tiefgründigen Wahrheiten vermitteln, die uns Normalsterblichen fehlen.

Das gefährliche an Bildung und Wissen ist, dass es vielmals zu unbequemen Erkenntnissen führt. Grosse Denker und Autoren der vergangenen Jahrhunderte haben sich nicht an unsere modernen Einschätzungen über Identitätspolitik gehalten, und vielmals Frauen- oder Minderheitenfeindliches geschrieben. Von der fehlenden Darstellung von Trans-Menschen ganz zu schweigen. Tatsächlich ist wohl eine der schlimmsten Erkenntnisse, dass die hellen Geister der Vergangenheit fast allesamt weiss und männlich waren. Das ist an sich schon hochproblematisch. Wo bleiben die Schriftsteller, Dichter und Komponisten of color? Wer will den schon von sich sagen, er widme sich so einseitigen Inhalten, die alle von weissen Männern geschrieben wurde, egal ob diese nun Kant, Hegel, Shakespeare, Goethe, Schiller oder Mozart heissen. Der Mann, pardon, Mensch von Welt liest eine kunterbunte Auswahl kunterbunter Autor*innen, am besten trans und of color. Was genau geschrieben wird ist ja furzegal, Hauptsache die Autoren passen in die Erwartung politisch korrekter Diversität. Überhaupt ist all das, was als politisch korrekt und den Behörden folgsam gilt, mit vielen dialektischen Erkenntnissen kaum zu vereinbaren. Schon deshalb ist Wissen problematisch, und logischerweise muss hier eine Entscheidung getroffen werden: Honett erörterte Erkenntnis oder offiziell diktierte Wahrheit?

In der immer klarere Züge annehmenden Korporatokratie sind die Interessen dazu klar zugunsten einer offiziellen Wahrheit ausgerichtet. Der öffentliche Diskurs wird nicht mehr von regionalen Medien und kleinen Verlagshäusern geführt, sondern zu einem grossen Teil von Medien, die letztendlich gigantischen internationalen Konzernen untergeordnet sind, sei es direkt oder indirekt durch die Werbeeinnahmen. Konzerne deren Einfluss auch nicht vor einer Politik halt macht, welche auf reichliche Wahlkampfspenden sowie positive Medienberichterstattung angewiesen ist. Die Interessen von Wirtschaft und Politik verschmelzen immer weiter zusammen, und verdrängen dabei die Interessen derer, die nicht die Macht haben, die Abgeordneten nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Hatte also einst die Politik zumindest im Ansatz ein Interesse einer gebildeten Bevölkerung, welche einerseits Innovation erbringen konnte, aber auch informiert an die Urne ging; so braucht die korporatokratische Dienstleistungswirtschaft eigentlich wenig Bildung, Innovation entsteht im Orbit der Grosskonzerne, welche jede „Start-Up“ mit einem interessanten Konzept gleich mal aufkaufen, wodurch das Risiko outgesourcet wird, und man es den Paar herausragenden Köpfen überlässt, den Oligarchen die Innovation auf dem Silbertablett zu servieren. An einem wirklichen Vorantreiben des abstrakten Denkens, abseits des kleinkarierten Akademischen, welches bereits von allem freien Denken ausserhalb der Lehrmaterie (also das, was einstmals die Universitäten zu Brutstätten neuer Ideen machte) durch „work hard – party hard“ Stumpfsinn sterilisiert wurde, hat eigentlich kein Machtpol mehr Interesse. Stattdessen ersetzt man Geisteswissenschaften durch gender studies, racial studies (was man, perverserweise, auf Deutsch als „Rassenlehre“ übersetzen könnte), oder gar postmoderne Philosophiestudien, welche darauf ausgelegt sind alles offiziell sanktionierte Narrativ zu stützen und die kritischen Denker zu diskreditieren, indem diese als mächtige, gesellschaftsfeindliche Kraft in Szene gesetzt werden. Eine Philosophie also, die nicht mehr daran ist, die Welt und den Menschen zu verstehen, sondern eher ihn misszuverstehen und die alternative Realität aufzubauen, auf deren Grundlage schliesslich die Ignoranz zur Tugend gemacht wird, welche über die Sünde des selbst erarbeiteten Wissens trumpft.

Und so wird der Mensch schliesslich geistig entkrallt, zu einem braven Schosshündchen dressiert, der keine unangenehmen Fragen stellt, sondern ohne Widerrede seinen Herrchen gehorcht, und all die anknurrt, die sich weigern zu gehorchen wenn es heist „sitz“ und „platz“. Wenn nur die zu Wort kommen, die vom Menschen nichts anderes wollen als den Gehorsam, ist es halt nicht verwunderlich, dass Gehorsam von deren Lakaien zur edlen Tugend stilisiert. Und Ignoranz ist bekanntlich der Weg zur Unterwerfung, wie man uns schon lehrte dass wir Lesen lernen müssen, damit man uns nicht irgend etwas unterschreiben lässt. Heute schon können viele Menschen zwar lesen, aber nicht verstehen, und erst recht nicht denken. Über die Ignoranz muss man sich nicht schämen, so lange man in guter Gesellschaft die niedermachen kann, die von sich behaupten etwas zu wissen, ohne zu den offiziell anerkannten Experten zu gehören. Die Ignoranz wird zum Grundwert der westlichen Gesellschaft, bis diese nicht einmal mehr in der Lage ist, ihren eigenen Zerfall zu erkennen.