Am 28 Juni wird der Tag der Verfassung in der Ukraine gefeiert. In der Schulzeit in Saporischschja war uns die Message der LehrerInnen klar: „Unsere Verfassung ist eine der stärksten in Europa. Menschenrechte stehen im Vordergrund und sollten nie verletzt werden“, propagierte die ganze Zeit meine Lehrerin. Bereits nach der Schule nahm ich die rosarote Brille ab. Mit dem Blick in die Vergangenheit frage ich mich heute: Warum sucht die junge Generation nach einem besseren Leben außerhalb ihrer Heimat? Vor Schwierigkeiten haben auch die keine Angst die Älteren. Ihr gewohntes Vorleben ändern sie mit einem Fingerschnipsen. Ich versuche kurz zu erklären, warum trotz eines guten rechtlichen Systems eines der reichsten Länder Europas sein menschliches Kapital verliert.
Der Grund der Auswanderung der UkrainerInnen in die EU liegt an der Gleichgültigkeit der GesetzgeberInnen gegenüber der ukrainischen Bevölkerung. Die Verfassung wird instrumentalisiert. Jeder Präsident nutzt sie für eigene Interessen aus. Zum letzten Fallbeispiel wurde autoritärer Ex-Präsident Viktor Yanukovich. Er änderte das Parlamentarische-Präsidentiellen Regierungssystem zum präsidentiell-parlamentarischen. Dadurch hatte er mehr Macht. Mit dem nächsten Präsidenten Petro Poroschenko wurde die Verfassung wieder geändert. Damals begannen sich die Ukraine in die europäische sowie NATO-Richtung zu bewegen. Heutzutage scheint es schwer abzuschätzen, wann genau die Ukraine zum Teil der EU wird.
“Korruption ist die größte Hürde zur Ordnung im Land. Gesetz ist auf der Seite des Geldes. Wer Geld hat, entscheidet über Wahrheit und Rechtschaffenheit”, sagte eine Ukrainerin beim spontanen Gespräch in einer Warteschlange. Ihr Ehemann unterstützt die Meinung: „Theoretisch haben wir den Rechtsstaat. In der Realität haben die Regierung und Machthaber alle Rechte“. Diese Meinung spiegelt Denkweise der Mehrheit wider. Daher haben wir einen Spruch: „Das Werk des Ertrinkenden ist in den Händen des Ertrinkenden“. Das bedeutet: jeder entscheidet selber über sein Leben und Folgen, die durch getroffene Entscheidung verursacht werden. Diejenigen also, die die gewöhnliche Lebensordnung nicht mehr dulden, suchen nach besseren Lebensbedingungen in anderen, meist europäischen Ländern. Junge Generation strebt wiederum nach besserer Ausbildung. Meistens wird Polen und Tschechien ausgewählt. Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Sprachherausforderung hier minimal. Die Mutigsten erwägen andere EU-Länder, unter denen Deutschland und Österreich sind.
„Am Anfang studierte ich in Polen. Die Universität gefiel mir aber nicht. Nach einem Jahr meines Studiums wollte ich woanders studieren. 2016 dank dem visumfreien Regime hatten viele Studenten die Möglichkeit, in Österreich ausgebildet zu werden“, erzählt der Student von Embedded System (TU) Vladislav Kostiuschko seine Migrationsgeschichte. In Österreich zu studieren ist ein Traum für Viele. Vom Himmel auf die Erde kommen die MigrantInnen viel schneller als man sein Ziel erreicht hat. „Studiumsklima“ und Voraussetzungen würden immer wieder schärfer: „2016 brauchte man das Sprachniveau B2, jetzt wird C1 erforderlich. Die Sprachkurse sind jetzt viel teurer. Damals bezahlte ich 360 Euro für ein Semester. Jetzt muss man dafür 1000 Euro ausgeben können. Früher konnte ein Studierender ohne Sprachkenntnisse in die Universität aufgenommen werden. Man konnte die Sprache parallel zum Studium erlernen. Heute sind die Neuaufgenommenen StudentInnen verpflichtet, zumindest A2-Sprachniveau zu haben. Und dafür hat man nur 2 Jahre“, teilt Vladislav mit.
Trotz aller immer wieder auftauchenden Schwierigkeiten haben MigrantInnen keine Lust, in die Ukraine zurückzukehren. Der Programmierer Sergii, der mit seiner Ehefrau und dem Sohn seit sieben Jahren in Wien wohnt, stand vor der Wahl: mehr verdienen und leben aber im korrumpierten System in der Ukraine, oder weniger verdienen in Österreich, wo sich die Behörden um seine Menschen mehr oder weniger kümmern: „Selbstverständlich haben wir uns für Österreich entschieden. Hier hat man keine Angst, dass gegen Verfassungsrechte verstoßen wird“, sagt der 32-jährige.
Laut Experten gibt es heute in Österreich zwischen 6 und 12 Tausend Ukrainer. Die allermeisten von ihnen leben in Städten, insbesondere in Wien und in der Umgebung der Hauptstadt.
Die Ukraine war eines der letzten Länder, in dem die Verfassung in Kraft trat. Es dauerte lange 23 Stunden, bis die Behörden zu einer gemeinsamen Meinung kamen. Die Jahrhunderte der Volksgesetzgebung gingen der Verfassung der Ukraine in ihrer jetzigen Form voraus. Es gab die Russkaya Prawda, das Rechtsgesetzbuch der Kyjiwer Rus, die Kosaken- und Hetman-Verfassung, einschließlich der Verfassung von Pylyp Orlyk (eines der ersten Verfassungsdokumente in Europa), die Verfassung des ukrainischen Staates von 1918. Das geltende Grundgesetz der Ukraine wurde mehrmals geändert. Damals im Jahr 1996 hat die internationale Gemeinschaft die ukrainische Verfassung als eine der demokratischsten anerkannt.
Mit der Verfassung wurde territoriale Unversehrtheit und Souveränität gesichert, Menschenrechte und Freiheiten werden geschützt, das Recht auf freie Meinungsäußerung wird auch garantiert. De jure ist alles perfekt, de facto sind die Behörden in einer moralischen Krise (da sie Gesetze schreiben, um selber zurechtzukommen und zu profitieren). Das Volk ist dadurch in die finanziell problematische Lage geschlittert. Die „Verantwortlichen“ bleiben ungestraft. Der Verfassungstag in der Ukraine ist der Tag, an dem man nochmals zu den Fragen zurückkommt, die niemand beantworten kann: Wann werden die UkrainerInnen von Politikern respektiert und wann wird ein an Ressourcen reiches Land noch dazu an Prinzipien und Menschlichkeit der Behörden zum Volk reich?
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