von Christoph Quarch

Im alten Griechenland verehrte man den Gott Dionysos und huldigte in ihm dem Wandel als heiligem Geschehen: der Transformation, die alte, morsche Ordnungen beseitigt, um neues Leben zu ermöglichen. Wer sich dem Wandel widersetzte, musste – wie König Penteus in Theben – damit rechnen, zerrissen zu werden. Solches droht in unseren Tagen nicht einem König, sondern einem politischen Gebilde: Europa.

Nun ist der Brexit vollzogen. Doch wird er nicht die letzte Zerreißprobe Europas bleiben, wenn wir nicht den Mut aufbringen, neue Wege zu gehen, neue Fragen aufzuwerfen – oder alte Fragen neu zu stellen: Was stiftet den Zusammenhang eines Gemeinwesens? Nur der Markt? Nur die Macht? „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, sagte einst Ernst-Wolfgang Böckenförde. Dieses Wort gilt ungebrochen. Auch für Europa. Die Frage ist nur: Um welche Voraussetzungen handelt es sich?

Schon die antiken Begründer der Demokratie wussten, dass ein Gemeinwesen vom Gemeinsinn seiner Bürgerschaft lebt – und dass sich dieser Gemeinsinn in geteilten Werten manifestiert. Wer um den Erhalt eines Gemeinwesens besorgt ist, tut deshalb gut daran, dessen Wertefundament zu pflegen. Aber wie? Indem es seine Werte lebt – denn Werte gelten nur solange, wie Menschen bereit sind, ihnen zu dienen. Dienst an den Werten eines Gemeinwesens ist deshalb der wichtigste Beitrag zu seiner Verteidigung. Wichtiger als Mauern, Grenzzäune oder Armeen.

Wie lässt sich Europa schützen? Indem die Bürgerinnen und Bürger Europas ihren Werten dienen. Indem sich die Mitgliedsstaaten der EU darauf verständigen, einen Europäischen Wertdienst zu etablieren, den zu absolvieren für junge Männer und Frauen die Eintrittskarte ins politische Europa bedeutet: eine Zeit des Lebens darauf zu verwenden, in sozialen, ökologischen und zivilgesellschaftlichen Projekten Dienst an den Werten Europas zu verrichten; gemeinsam mit Menschen aus anderen EU-Staaten in einem Land, das nicht das eigene Heimatland ist. Nach nur einer Generation hätten wir länderübergreifende Netzwerke junger Menschen quer durch die EU. Ein in gelebten Werten gründender europäischer Bürgersinn würde einlösen, was Jacques Delors schon in den 1980er Jahren forderte: Europa eine Seele geben.

Um zu wissen, was dagegensprechen könnte, reicht ein Blick auf die Reaktionen, die Annegret Kramp-Karrenbauer erntete, als sie im Herbst 2018 mit der Idee eines Dienstjahres in Deutschland aufwartete: „Verstaatlichung der Lebenszeit“ wetterte Christian Lindner. Der Staat dürfe niemanden verpflichten. „Ein Angriff auf die Jugend“ kommentierte der „Cicero“. So verwehrt man sich gedankenlos dem notwendigen Wandel. Man bleibt in alten Denkmustern gefangen. Erstens, weil junge Menschen in ganz, vor allem in Südeuropa ihre Lebenschancen erheblich steigern können, wenn sich ihnen nicht nur de jure, sondern de facto der ganze Kontinent als Zukunftsraum öffnet. Zweitens, weil das Gemeinwesen ihre Lebenszeit ohnehin „verstaatlicht“, indem er ihnen eine allgemeine Schulpflicht auferlegt; und zwar in der – berechtigten – Annahme, dadurch sowohl ihre persönlichen Lebenschancen zu erhöhen als auch das Fundament des Gemeinwesens zu festigen: den mündigen Bürger. Der Europäische Wertdienst würde dem mündigen den handelnden Bürger an die Seite stellen. Das Gemeinwesen lebt nicht allein von Stimmabgabe und Diskurs; sondern von gelebten Werten. Den Dienst an ihnen zum Bestandteil des europäischen Bildungswesens zu machen, ist die richtige Antwort auf den Brexit: das Mittel gegen weitere Zerrissenheit.

christophquarch.de

Dir gefällt, was Dr. phil. Christoph Quarch schreibt?

Dann unterstütze Dr. phil. Christoph Quarch jetzt direkt: