Der ukrainische Präsident Wladimir Selenski hat seine Pläne für ein „allukrainisches Referendum“ präzisiert und bei einem Interview die Details dazu offenbart. Der Vorschlag wäre ein der Tat ein Weg aus dem Konflikt – seine Umsetzung ist dennoch wenig wahrscheinlich.
Schon vor einigen Wochen sorgte Selenski mit einem brisanten Vorschlag für ordentlich Furore in der ukrainischen Gesellschaft – Selenski erklärte, man könnte ein „allukrainisches Referendum“ zur Lösung des Donbass-Konfliktes durchführen. Sofort wurde darüber spekuliert, dass es womöglich um einen „Verzicht“ auf den Donbass gehen könnte – in anderen Worten: Kiew könnte die selbst erklärten Donbass-Republiken offiziell abstoßen, um nie wieder mit ihnen etwas zu tun zu haben und den Konflikt endlich zu beenden. Zugleich gab es zunächst kaum konkrete Details. Politische Opponenten warfen ihm deshalb „politische PR“ vor, mit der er sich schon für die Wahlen in zwei Jahren in Stellung bringe.
Nun hat Selenski seinen Plan also präzisiert und bestätigte die Spekulationen weitgehend. In einem Interview gegenüber dem ukrainischen TV-Sender 1+1 erklärte er Ende Juni, man erwäge den „kompletten Abbruch der Beziehungen“ zum Donbass, falls eine politische Lösung des Konfliktes im aktuellen juristischen Rahmen (die Minsker Abkommen) nicht gelinge. Diesem Abstoß der Donbass-Region würde die Errichtung „der Mauer“ folgen – ein etwas bizarr klingendes ukrainisches Projekt, das die Errichtung einer massiven Befestigungsanlage entlang der gesamten Ukraine-Russland- und Ukraine-Donbass-Grenze nach sich ziehen würde.
Eine so brisante Frage, wie der Abbruch der Beziehungen zu eigenen Territorien, könne aber nur vom ukrainischen Volk getroffen werden. Daher könnte es notwendig werden, ein „allukrainisches Referendum“ dazu abzuhalten, so Selenski weiter.
Die Ausgangslage für das Referendum
Derzeit steckt der Donbass in einer absoluten Pattsituation. Die Donbass-Republiken LDNR haben wiederholt sehr klar zu verstehen gegeben, dass eine Rückkehr unter die Hoheit Kiews für sie undenkbar ist. Zu tief ist die Verbitterung über die Art und Weise, wie Kiew seine Militäroperation im Jahr 2014 gestartet hatte. Damals, nach dem Maidan-Umbruch in Kiew, war die Stimmung im Donbass zunächst durchaus gespalten. Nachdem Kiew die Millionenstadt Donezk aber mit schwerer Artillerie und Kampfjets bombardierte und zahlreiche Zivilisten tötete, um pro-russische Tendenzen zu unterdrücken, war für Viele ein „point of no return“ überschritten. Die Ankunft rechtsradikaler ukrainischer Bataillone (wie etwa das Azov-Bataillon) trug ihr übriges dazu bei. Die Regierung in Kiew, die das zuließ, war für die Donezker nicht mehr die ihre. Kiew war ab nun der Feind. Tausende Donezker gingen in die „Volkswehr“. Mit russischer materieller und personeller Unterstützung spaltete sich die Region de facto ab.
Seitdem hat sich die Trennlinie nur wenig hin-und-her bewegt. Die Donbass-Republiken bauen unter dem Protektorat Russlands sowas wie eine Staatlichkeit auf und fordern mindestens ihre Unabhängigkeit, bestenfalls sogar ihren Anschluss an Russland. Russland wiegelt allerdings ab und erklärt, man werde LDNR nicht aufnehmen, dies seien ukrainische Regionen.
Kiew seinerseits musste anerkennen, dass eine militärische Option nicht möglich ist, weil Russland den Fall der LDNR dann aber auch nicht zulassen würde.
Stichpunktartig dargestellt, sieht die Pattsituation im Donbass in etwa so aus:
- Kiew will den Donbass zurückholen, ist aber dafür nicht stark genug.
- LDNR will sich die Unabhängigkeit erkämpfen, ist aber dafür nicht stark genug.
- Russland lässt die Republiken nicht fallen, erkennt sie aber auch nicht an und ist auch nicht bereit, sie aufzunehmen.
- Der Westen schaut zu und führt ab und zu wirkungslose Sanktion ein.
Unter diesen Zuständen wird die Lage zu einem endlosen Konflikt ohne jegliche Aussicht auf ein Ende.
Das Donbass-Referendum könnte die Pattsituation auflösen.
Was das Donbass-Referendum konkret bringen würde
Das „allukrainische Referendum“ über den Donbass könnte den Konflikt tatsächlich lösen, und zwar praktisch von einem Tag auf den nächsten.
Sollte die Ukraine die abtrünnigen Donbass-Republiken aufgeben, wäre der Konflikt vorbei. LDNR hätte seine seit sieben Jahren ersehnte Unabhängigkeit. Die Ukraine würde nicht mehr in einem zermürbenderem Konflikt stecken sowie könnte nahezu sofort offiziell ihre NATO-Perspektive erhalten. Ein Beitritt zur NATO ist nämlich nur möglich, wenn der Beitrittskandidat keine ungelösten Territorialstreitigkeiten hat. Mit dem Verzicht auf den Donbass hätte Kiew dieses Problem sofort gelöst.
In anderen Worten: Durch das Referendum würde die Ukraine den abtrünnigen Donbass verlieren, um im Gegenzug aber viel mehr zu gewinnen – den Frieden sowie seine NATO- und EU-Perspektive.
Dieses Szenario, vor einigen Jahren noch unvorstellbar, wird in der ukrainischen Gesellschaft zunehmend beliebter. Zu viel Kraft steckt Kiew in den Konflikt im Osten, während das Land wirtschaftlich in der tiefsten Krise steckt. Reale Perspektiven, diese Situation endlich aufzulösen, gibt es nicht, was den Frust weiter wachsen lässt. Die seit sieben Jahren andauernden Meldungen aus Kiew, „in den nächsten Wochen“ könnte eine großangelegte russische Invasion beginnen, haben ihre mobilisierende Wirkung auch nicht mehr.
Der Referendum-Vorstoß von Selenski ist aus dieser Sicht also nicht nur verständlich, sondern sogar absolut logisch und spricht eine wachsende Schicht der Bevölkerung an. Gerade angesichts der Tatsache, dass in der Ukraine schon in einem Jahr der Wahlkampf startet, könnte ihm der Vorstoß durchaus Pluspunkte einbringen.
Wie wahrscheinlich das Referendum ist
Ein Referendum über den Donbass und der offizielle ukrainische Verzicht auf die abtrünnigen Regionen wäre vermutlich das Beste, was in der jetzigen Situation dem Land passieren könnte. Die langfristigen Vorteile für die Ukraine liegen auf der Hand.
Und doch ist seine Durchführung eher unwahrscheinlich. Die Reaktion rechtsradikaler (und teils schwerbewaffneter) Schichten in der ukrainischen Gesellschaft könnte brutal sein. Anführer rechtsradikaler Gruppierungen haben dem Selenski jetzt schon „Verrat“ vorgeworfen und mit dem „nächsten Maidan“ gedroht, falls er seinen Referendum-Vorstoß durchzieht. Rechtsradikale Bataillone würden von der Trennlinie im Donbass abziehen und nach Kiew aufbrechen, um dort mit Waffen Fakten zu schaffen.
Um es zusammenfassend auf den Punkt zu bringen:
Das von Selenski vorgeschlagene „allukrainische Referendum“ zum Verzicht auf den Donbass könnte den Konflikt von einem Tag auf den nächsten lösen, dem Land den Frieden bringen sowie sofort eine reale EU- und NATO-Beitrittsperspektive ermöglichen. Die Umsetzung solch eines Referendums wäre allerdings mit dem signifikanten Risiko verbunden, dass rechtsradikale Gruppierungen den nächsten Maidan zu starten versuchen und Kiew wieder ins Chaos stürzen.
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