Ich bin der Meinung: Wenn wir neue Mobilität verdammen, werden wir nicht die Verkehrswende schaffen. Das größte Problem unserer vor allem urbanen Mobilität ist das zu 95 Prozent stehende Auto. Da wir mit diesem jedoch aufgewachsen sind und den Raum schon immer an es abgegeben haben, kommen wir bei neuen Mobilitätsformen auf dem Markt gar nicht erst auf die Idee, mehr Platz vom PKW zu fordern.  Sondern wir verdammen lieber das ungewohnte Neue - wie zum Beispiel die E-Scooter.  Ausgangspunkt von meinen Gedanken war ein Tweet von Karl Lauterbach, SPD, der einer Umfrage der Frankfurter Allgemeine Zeitung zustimmte, der zufolge jede:r zweite Deutsche die E-Scooter wieder abschaffen möchte. Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist.

Beispiele:

1. In manchen Teilen der USA nutzen sehr viele Frauen abends die Scooter, um sich sicherer zu fühlen.

2. E-Scooter-Nutzung hilft dem Nahverkehr vor allem auch während Corona, um diesen zu entlasten, und spart im Vergleich zum PKW Platz.  

3. habe ich im Text auch mal ein Beispiel aus dem ländlichen Raum beleuchtet, wo jemand drei Tage lang mit diesen Scootern unterwegs war - und nur von den mangelhaften/fehlenden Radwegen genervt, von den Scootern jedoch begeistert war.

„Roller verschandeln Städte.“ „Irrsinn auf zwei Rädern.“ „Erste Unfallopfer zeigen die Gefahr.“ „Verbot nach Trunkenheitsfahrten gefordert.“ „Krieg auf der Straße.“ Um nur einige der Schlagzeilen zu nennen. Als sich im letzten Sommer eine neue Mobilitätsform, nämlich die der E-Scooter, auf der Straße gab, fand das fast schon geübte Gegeneinander der Interessensgruppen statt. Radfahrende und Fußgänger pflegten bis hin zu Demos ihre Lobby gegen die neuen Gefährte – anstatt als Interessensgemeinschaft mehr Platz vom Auto zu fordern. Denn – geben wir es zu – die neuen Roller machen Jenen, die sie nutzen, enorm viel Spaß. Das sieht Jede:r, der:die Nutzenden auf ihren Scooter beobachtet. Nun ist ein Jahr herum und die Etablierung der Scooter hat sich sowohl in Sachen Leihsysteme etwas konsolidiert, in Sachen Eigenkauf gibt es vermehrt Interessenten, da man sich im Straßenbild an sie gewöhnt und vielleicht sogar Vorteile entdeckt hat.

Dennoch erhalte ich aktuell bei Twitter viel „Gegenwind“ für meine These, das gerade auch die Pandemie den Scootern eine neue Rolle zuweisen sollte, die hilft, den Nahverkehr von zu großen Menschenmengen zu entlasten. Dabei sind 30 Millionen Autofahrten täglich unter zwei Kilometer lang, weitere 30 Millionen unter fünf. Und das, obwohl es Fahrräder gibt. Sie scheinen nicht für alle PKW-Fahrer:innen eine Alternative zu sein, obwohl Jede:r sie kennt und erwerben/ausleihen könnte. Auch richtig: Nur wenige Städte haben die E-Scooter in bestehende Mobilität oder Aufstellflächen eingebettet - so wie in Hamburg zwischen VOI und der Hochbahn, hier der Artikel in meinem Blog. Zustimmung: Es sind die Nutzer:innen, die den E-Scooter zur "Plage" machen können, der Scooter an sich ist neutral - und kann Gutes bewirken.

All das war Grund genug für mich, jetzt, wo wir mit dem „wieder Hochfahren in Pandemiezeiten“ beschäftigt sind, genauer auf dieses Thema zu schauen – und das zu machen, was eigentlich alle tun sollten: Fakten generieren, nicht Meinung und Emotion. Denn: Auch Systemen wie dem Hamburger Stadtrad gingen zunächst Unkenrufe vorweg, dass diese vor allem Kund:innen aus dem ÖPNV rausziehen würden (was schon qua Masse nicht möglich ist, da es nur 2.500 Räder sind). Mittlerweile ist die Flotte der Räder runderneuert, enthält sogar Lastenräder und erfreut sich in der Hansestadt großer Beliebtheit als TEIL des Mobilitätswandels, der den individuell besessene PKW im urbanen Raum überflüssig machen soll. Alles Neue wird fast reflexartig abgelehnt, aber vielleicht entsteht gerade durch Corona eine völlig neue Sicht auch auf die Rolle der E-Scooter, gerade WEIL der Nahverkehr nicht mehr so überlastet fahren darf, wie er es vor der Pandemie gerade zu Stoßzeiten tat. Denn eines regt mich tatsächlich immer daran auf, wenn neue Mobilitätsarten am besten ab dem ersten Tag perfekt sein sollten: Wir reiben uns an diesen sehr viel mehr ab als an den im wertvollen Stadtraum geparkten Autos. Diese sind für mich das weitaus größere Problem! Auch im Vergleich zu den Scootern sehe ich das so.

Richtig ist: Es wurde deutlich verschlafen, das System der öffentlichen Verkehre resilient zu machen, nicht nur gegen einen Virus, sondern gegen eine deutlich steigende Nachfrage. Dem gewollten Wachstum zugunsten des ÖPNV, zur Entlastung des Klimas, für weniger Emissionen wie Lärm und CO2 oder Feinstaub wurde keine Angebotsoffensive mit klaren Investitionen an die Seite gestellt – es blieb politisch bei guten Vorsätzen. Das rächt sich nun, da Abstandsregeln gelten und geteilte Verkehre hier automatisch in Zugzwang geraten, sich diesen neuen Regeln zu unterwerfen, die nicht ihrer eigentlichen DNA (auf möglichst kleinem Raum viele Menschen transportieren) entsprechen.

Welche Rolle spielen hier die E-Scooter?

Ich zitiere aus einer Studie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt: „Fast alle Befragten gaben an, sich im Auto wohler oder genauso wohl zu fühlen wie vor der Krise. Das ist bei keinem anderen Verkehrsmittel der Fall. Zu den großen Verlierern gehören alle öffentlichen Verkehrsmittel. Ob Nahverkehr, Fernverkehr, Carsharing oder Flugzeug: Die Nutzung bricht ein, gleichzeitig fühlen sich die Menschen deutlich unwohler bei der Nutzung oder bei der Vorstellung, sie zu nutzen. Je häufiger sie den öffentlichen Nahverkehr im normalen Alltag nutzen, desto größter das Unwohlsein in der aktuellen Situation.“ Dieses Ergebnis ist katastrophal. Denn zum einen steht damit die Verkehrswende auf der Vollbremse, zum anderen ist weder für das Klima noch für die städtische Verkehrssituation denkbar, dass mehr Autos auf die Straße kommen: Diese standen schon vor Corona im Stau:

-> Es ist also auf vielen Ebenen unmöglich, noch mehr Autoverkehr zu verkraften.

Und hier kommen die E-Scooter zu einer neuen Rolle: Sie könnten die Lücke schließen, die aktuell noch für Jene besteht, die eher überschaubare Strecken mit dem Nahverkehr abgebildet haben. Und wenn wir ehrlich wären, gäbe es auch nicht so ein großes Problem, denn VIELE Wege in der Stadt sind in Rad- und manchmal sogar Fußdistanz. Aber noch scheinen wir nicht so weit zu sein, zuviel zu ändern. Dann lasst uns bitte nicht sofort ins Auto „rücksteigen“, sondern etwas kreativer mit unserer Mobilität umgehen. Das aktuelle Ziel ist die so genannte „pandemieresiliente Infrastruktur“. Diese entzieht dem dominierenden Autoverkehr endlich Raum, um bessere Radwege (auf denen sich ja auch die Scooter bewegen) mit weit mehr Platz zu schaffen.

Auf einem jüngst abgehaltenen Webinar des Leihscooter-Anbieters LIME war das Vorbild von Berlin Thema: „Mit der Einführung von “Pop-up-Bikelanes” wurde ein weitläufiges System von Fahrradstreifen geschaffen und damit die dringend benötigte Infrastruktur, um sicher mit dem Fahrrad oder E-Scooter durch die Stadt zu kommen. Ein Ansatz, der gerade in vielen Städten weltweit Schule macht: So wurden in New York, Vancouver, Mexico City und Budapest beispielsweise autofreie Nebenstraßen zugunsten des Fuß- und Radverkehrs eingerichtet.“

Bisher größter Hemmschuh der öffentlichen Akzeptanz von E-Scootern war auch die Tatsache, dass sich diese die viel zu engen Wege mit Radfahrenden teilen mussten – was automatisch zu Konflikten führen musste. Dieser Konflikt wird nun an manchen Stellen beseitigt, was letztlich allen hilft, die nicht im Auto sitzen. Auch Straßen an sich werden zu Flaniermeilen. Bereits vor Corona geplant: Die Verkehrsberuhigung der Friedrichstraße. „In der Straßenmitte sollen E-Scooter- und Fahrradfahrer eine insgesamt fünf Meter breite Fahrspur bekommen. Zudem hat Lime anonymisierte Nutzerdaten zur Verfügung gestellt auf deren Grundlage zielgenau Abstellflächen für E-Scooter und Leihräder geschaffen werden. Und grüner wird es: Eine temporäre Begrünung mit Baumtöpfen soll nicht nur die Mobilitätswende beschleunigen, sondern auch die Friedrichstraße klimaresilienz und mehr Passanten und Anwohner zum Verweilen einladen.“ Die Vorfreude auf diese sechsmonatige Ruhe und Beruhigung im Herzen eines hochfrequentierten Stadtbereiches ist groß.

Eine Datenanalyse zeigt, dass die Fahrten mit den Lime-Scootern nach der Pause im Schnitt 25 % länger sind als im Vergleichszeitraum vor der Pandemie. “Das Nutzerverhalten von Mikromobilität wird sich in den Städten in den kommenden Wochen und Monaten verändern und auch wir bei Lime empfinden die Krise als Chance uns zu etablieren – als verlässlicher Partnern für die Städte, als zuverlässige Mobilitätslösung für die Bewohner und als Baustein der Mobilität der Zukunft.”

Sharing-Systeme sind momentan fast das Einzige, was mediale Aufmerksamkeit – nicht immer nur im Guten – erhält. Völlig anders in Nutzungsverhalten und Nachhaltigkeit, aber auch nicht so „erschwinglich“ wie Leihscooter, sind gekaufte Modelle. Während das Sharingmodell ein klares Geschäftsmodell als Dienstleistung ist, ist der Kauf eines solchen Rollers ein Teil der persönlichen „Besitzmobilität“. Mit dem Kauf haben Kund:innen automatisch andere Anforderungen an den Roller, da sie ihn eben nicht nur ein paar Minuten und gelegentlich benutzen, sondern als Teil ihrer Mobilitätskette betrachten. Nachdem die ersten Scooter aus Asien eher aus dem Consumer-Electronics-Bereich kamen und damit völlig fatal in Sachen Verarbeitung und Haltbarkeit waren, hat sich durch die Genehmigung dieser Mobilität in Deutschland ein neuer Markt entwickelt, der in unterschiedlichen Preisklassen E-Scooter anbietet. Mit Schnellwechsel-Akkus und modularen Teilen.

Wer plant, seine Multimodalität dauerhaft mit dem E-Scooter zu gestalten, zum Beispiel um zu einer Haltestelle im Nahverkehr zu gelangen oder zum Bahnhof, der sollte sich genauer mit den Kosten beschäftigen, die Leihsysteme verursachen. Bei täglicher Nutzung kann es schnell ratsam sein, in einen guten, eigenen Roller zu investieren. Neben der echten garantierten Verfügbarkeit ist auch die steigende Lebensdauer der Fahrzeuge ein Argument für den Kauf.

ABER DER LÄNDLICHE RAUM!

Auch hier habe ich ein schönes Beispiel gefunden, das zeigt, dass wir endlich unsere Köpfe öffnen und zumindest mal länger ausprobieren sollten, ob alles so unmöglich ohne Auto wird, wie wir es manchmal denken. Matthias Gastel, Mitglied des Bundestages, war drei Tage lang mit dem E-Scooter in seinem Wahlkreis unterwegs. Gestört hat ihn letztlich nur das, was auch jede:n Radfahrer:in stört: Mangelhafte oder fehlende Wege, zu wenig Platz und Konkurrenz zum Auto.

Mein Fazit: Der E‑Tretroller kann – neben dem Fahrrad/Pedelec – durchaus auch auf mittleren Distanzen im ländlichen Raum für manche Strecken die ökologisch vorteilhaftere Alternative zum Auto darstellen. Ein besseres Angebot an gut ausgebauten Radwegen, das dringend erforderlich ist, kommt dem Fahrrad ebenso zugute wie dem E‑Tretroller.

Ich hoffe, ich konnte mit diesem Artikel etwas die Betrachtung von E-Scootern relativieren. Ihre Nutzung hat sinnvolle Details, gerade auch, wenn sie im Leihsystem in den Nahverkehr integriert werden. Gern mal dazu in meinen Artikel zur Kooperation von Voi und der Hochbahn schauen. Hier wurden in Hamburg Stadtrandgebiete angebunden, Menschen können mithilfe der Scooter Haltestellen erreichen, die fußläufig eher „sportlich weit“ entfernt sind. Versucht einfach, immer alles, was neu ist, in Relation zum privat besessenen Auto zu sehen. Das nur 45 Minuten am Tag fährt, eine Person an Bord hat – und trotz dieser Ineffizienz überall umsonst parken kann: Stadtraum vor der Haustür ist so belegt, der Supermarktparkplatz ist abends leere Fläche und der Parkplatz am Arbeitsplatz ebenfalls kostenlos. Auf einen solchen Parkplatz passen 20 Scooter und seltene Erden sind auch in unseren Smartphones und Laptops… oder?

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