Zwei Gemälde, die ich sehr verehre, zeigen die wahre Wirklichkeit eines Künstlers. Zum einen: Albrecht Dürers „Der arme Poet“ und zum anderen: Edvard Munchs „Der Schrei“ Nachdem ich beide Bilder im Internet entdeckt hatte, wollte ich sie bereits anschreiben oder anrufen, ob sie mir die Bilder nicht schenken wollten, denn ich sei ein großer Verehrer ihrer Kunst. Leider erfuhr ich von einer zum Glück sehr entfernten Verwandten, sie seien kürzlich erst verstorben.
Das traf mich sehr. Zwei so große Maler, von zwei epochalen Meisterwerken und dann tot.
Während hunderte von Wochenend-Pinseln, unschuldige Leinwände malträtieren und nicht einmal daran denken zu sterben, haben uns zwei Ausnahmekünstler verlassen. Sicherlich kein freiwilliger Schritt.
So ungerecht geht es auf unserer Welt zu. Inzwischen hängen diese beiden Bilder irgendwo in Museen, zwischen so unbedeutenden Kollegen wie Rubens, Rembrandt und van Gogh. Van Gogh, der zeitlebens nicht ein Bild verkauft hat.
Nichteinmal seine Mutter hat ihm eins abgekauft. Aus Verzweiflung hat er sich ein Ohr abgeschnitten. Offenbar war der Mann kein Brillenträger.
Inzwischen habe ich mich erkundigt, was meine beiden Lieblingsbilder so kosten. Preise, die sich ein Normal sterblicher nicht leisten kann. Selbst bei Ratenzahlung und wenn ich zusätzlich noch das Rauchen einstellen würde, müsste ich etwa zweihundert sechsundsiebzig Jahre alt werden. Und das nur für ein Bild. Und da liegt dann das Problem. Für welches der Bilder soll ich mich entscheiden? Beide sind mir doch gleich lieb. Da wird die Wahl zur Qual. Selbst wenn ich Meinen Dispositionskredit bis zur Schmerzgrenze ausreize, reicht es nicht einmal für den Rahmen. Wenn ich dagegen mit Adolf Hirschbiegel vergleiche, den ich zufällig auf dem Flohmarkt entdeckte.
Sein „Röhrender Hirsch im Teutoburger Wald“, den hätte ich für zehn Euro und fünfzig kaufen können. Handsigniert. Vier auf Sechs Meter. Auf Sperrholz gemalt. Ein Schnäppchen.
Gehen sie mal in einen Baumarkt und kaufen eine Sperrholzplatte mit den Maßen. Da zahlen sie wesentlich mehr für. Und da ist auch kein röhrender Hirsch drauf. Außerdem ist die Wand in meinem Schlafzimmer nicht so groß, dass da ein Hirschbiegel hinpasst. Da sollen ja schließlich der Dürer und der Munch hin. Notfalls eben als Kopie.
Für zehn Cent kann ich mir die ja auch ausdrucken und frech behaupten, es wären Originale. Das merkt doch keiner. Außerdem ist mein Schlafzimmer auch nicht so frequentiert, dass ich täglich mich rechtfertigen müsste. Höchstens ein bis zwei mal im Jahr. Und das auch nur, wenn ein Schaltjahr ist. Ich ordne die Erotik meiner Kunst unter. Leider bin ich in beiden Disziplinen nicht sonderlich erfolgreich. Das mag auch an meiner Kunst liegen. Ich male nicht, ich schreibe. Und wer hängt sich schon eine Manuskriptseite eingerahmt an die Wand? Für einen Munch zahlt man Millionen. Ich schreibe täglich wenigstens fünf Seiten. Sechs Tage die Woche. Zweihundertvierzig Tage im Jahr. Das sind eintausendzweihundert Seiten. Wenn das Bilder wären, da würde ein Konto nicht ausreichen. Bisher habe ich nur die Erfahrung gemacht, dass nach unten die Bank mir meine Grenzen aufzeigt. Ich bin mir sicher, nach oben ist das auch so. Inzwischen hängen nun beide Bilder an der Wand meines Schlafzimmers. Auf DIN A1 hoch kopiert und ausgedruckt. In einem selbst gehandwerkelten Bilderrahmen, den ich aus unzähligen Kronkorken, unter Missachtung meiner eigenen Gesundheit, mir mühsam ertrunken habe. Kistenweise musste ich dafür Bier in meine Wohnung im vierten Stock schleppen, worunter besonders mein Rücken zu leiden hatte.
Jetzt, da ich mich bettlägerig beim Jobcenter gemeldet habe, um mich vor lästigen Terminen oder Anrufen zu schützen, die mir ohnehin nur meine miese Vermittlungsprognose vor Augen führen wollen. Seit Jahren nun können sie mir schon keine gutdotierte Festanstellung als Dichter anbieten, weshalb ich auch ohne Skrupel mich finanziell von ihnen aushalten lasse. Ständig haben sie versucht, mir ein gesellschaftlich schlechtes Gewissen einzureden, was jedoch teflonartig an mir abperlt. Mit dieser herausragenden Eigenschaft, die mir angeboren scheint, könnte ich mich höchstens für die Politik empfehlen, was ich aber wegen meines Charakters, der auf Ehre, Glaubwürdigkeit und Gemeinwohlinteresse ausgelegt ist, nicht kompatibel ist. Und freie Dichterpositionen haben sie nicht anzubieten, wegen angeblich geringer Nachfrage. Dabei sollte jeder gut sortierte Weltkonzern auf die Dienste eines hauseigenen Dichters nicht verzichten, wie ich finde. Aber so ist es eben und ich habe mich inzwischen mit der Tatsache abgefunden und verlasse mich auf die finanziellen Zuwendungen meines Jobcenters. Es reicht zwar nicht zum Leben, aber wenigstens zum Überleben. Ist ja auch schon einmal was in dieser kalten ungerechten Welt.
Und so liege ich, wenn die frostigen Wintermonate ins Land einfallen wie die Vandalen, im Schutze meines mich wärmenden Bettes. Betrachte dabei abwechselnd meine beiden Gemälde, die mir Kraft und Inspiration zugleich spenden. Natürlich könne ich auch aus dem Fenster schauen, doch ist dies weit weniger erfreulich. Dort kann ich nur in das Fenster meiner Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite blicken, die sich in glücklicher Familie zeigen. Doch ist dies mitnichten der Fall. Seit Jahren sind es immer dieselben Menschen, die sich dort im Wohnzimmer tummeln. Sie und Er leben dort und scheinen an einem Ortswechsel nicht interessiert zu sein.
Trotz eines freundlichen Schreibens meinerseits, sie würden mich langweilen, weil nie etwas passieren würde und ich sie deshalb anfrage, ob sie nicht an einem Umzug Interesse zeigen würden, blieb meine Anfrage bis dato unbeantwortet. Stattdessen wurden ihrerseits blickdichte Gardinen angebracht. Dies sah ich selbstverständlich als eine bewusste Provokation und begann nun ebenfalls aufzurüsten. Ich besorgte mir weiße Wandfarbe und pinselte meine Fenster und die Balkontür damit. So war ich von der nachbarschaftlichen Außenwelt geschützt und konnte mich frei und nackt in meiner Wohnung bewegen, ohne von neidischen Blicken beobachtet zu werden.
Da ich jetzt nicht mehr aus dem Fenster schauen musste, um die welken Körper gegenüber tagtäglich ertragen zu müssen, widmete ich mich vollumfänglich meiner kleinen Gemäldegalerie.
In der Dunkelheit meines Zimmers kommen die, von Kerzenlicht feierlich illuminierten Bilder, sehr schön zur Geltung. An dieser Stelle gebührt meinem Energieversorger Dank zu sagen, für seine Weitsicht meiner Bedürfnisse, einseitig mir den Strom abzustellen. Das war nicht nur klimapolitisch, als auch finanziell eine Entscheidung, die ich ohne ihr Zutun sicher nicht so rasch getroffen hätte. Manchmal muss man eben zu seinem Glück gezwungen werden. Lediglich bei der Herstellung meines Mittagessens komme ich an meine Grenzen.
Hähnchenschenkel knusprig braten, über einer lodernden Kerze, erfordert Geduld und Muße. Meist fange ich am Vormittag des Vortags an, um abends dann ein schmackhaftes Gericht zu mir nehmen zu können. Jedoch konnte ich die Garzeit sinnvoll nutzen und mich ganz meinen beiden Bildern widmen. Immer wieder entdeckte ich neue Details, so dass mir nie langweilig wurde beim Betrachten. Bald schon sah ich mich selbst in dem Bett des armen Poeten liegen. Auch übte ich den „Schrei“ von Munch, während ich meine Post öffnete. Besonders bei Briefen meiner Krankenkasse gelang mir der Ausdruck ebenso gut, wie Munch es schuf. Vermutlich war er bei derselben Kasse wie ich. Die Kälte und Einsamkeit, die Spitzweg so vortrefflich einfing, zog auch bei mir ein. Selbst die depressive Grundstimmung, die von dem Bild ausging, übernahm ich für mich. Vollumfänglich konnte ich mich in das Bild hineinversetzen. Ich besorgte mir eine weiße Zipfelmütze, um noch mehr mit dem Poeten eins zu werden. Durch das Nicht reinemachen meiner Behausung stellte ich die Originaldarstellung seiner Kammer originalgetreu nach. Erst dann sah ich mich als legitimer Nachfolger des Poeten. Und der Erfolg gab mir recht. Ich schrieb mit neugewonnener Begeisterung an meinen Texten, die immer düsterer, depressiver und hoffnungsloser daherkamen.
Doch niemand bemerkte die Veränderungen meiner Geschichten, da keiner sie las. Auch blieb ich den ganzen Tag im Bett, so wie mein großes Vorbild. Nur  zum Öffnen der Post stand ich auf, ging zum Spiegel, stützte meine Hände ins Gesicht und schrie meine ganze Wut und Verzweiflung hinaus in die Welt, der ich mich ganz verweigerte. Ich lebte nur noch im Hier und Jetzt meiner selbstbestimmten spitzwegschen Kammer. Stellvertretend für alle Poeten dieser Welt, die hungrig morgens aufwachen und ebenso magenknurrend sich zu Bette begeben, leide ich für die Kunst. Wohl wissend, erst nach meinem Ableben wird mir der Ruhm zuteil, den ich zeitlebens vergeblich herbeigesehnt habe. Denn wie sagte so treffend bereits Heinz Erhardt in seinem abendfüllenden Epos: „An einen von vielen“.
„Den höchsten Ruhm erworben hat man erst dann, ist man gestorben.“

(FN Beide Links dienen zur Visualisierung für all diejenigen, denen die weltberühmten Gemälde nichts sagen oder deren Darstellung ihnen vor dem geistigen Auge bereits verblasst sind, infolge übermäßigen Alkoholgenusses.
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_arme_PoetFN) (FN Bei Fußnote 3 gilt derselbe Hinweis, der auch schon für Fußnote 2 gilt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_SchreiFN).

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