Wie deppert der durchschnittliche Antisemit  und wie hirnrissig das ganze Konzept ist, lässt sich an einem aktuellen  Beispiel studieren: Der Sänger Gil Ofarim, der offenbar einen Davidstern  um den Hals trägt wurde letzte Woche angeblich von einer  Sicherheitskraft in einem Leipziger Hotel abgewiesen mit den Worten:  "Pack' deinen Stern weg!". Okay, da hat also jemand - gesetzt den Fall,  die Sache ist tatsächlich so passiert - ein Problem, wenn jemand in der  Öffentlichkeit einen Davidstern trägt. Ist das etwa schon ein Zeichen für Antisemitismus?

Zumal  das Tragen eines Davidsterns einen so wenig zwingend zum Juden macht  wie einen ein Kettchen mit Kreuzanhänger zum gläubigen Christen macht.  Man kann das als kompletter Atheist tragen. Weil's ein Geschenk war.  Oder ein Erbstück. Oder einfach nur, weil man doofe bzw. hirnrissige  Leute provozieren will. Alles im Rahmen, alles legitim. Im Gegensatz zum  Tragen von, sagen wir Hakenkreuzen, SS-Runen und anderem Kram.

Keine  Ahnung, was genau im Einzelnen Antisemitismus ist und was nicht. Habe  ich mehr eine grobe Vorstellung von. Bin auch nur ein Mensch. Zudem sind  Menschen bekanntlich verschieden. Gibt immer irgendwelche Grauzonen.  Eines weiß ich aber einigermaßen genau: Auf einer Demo zu skandieren,  Juden bitte wieder "ins Gas" zu schicken, hat zum Beispiel nichts mehr  mit legitimer Kritik an der Politik Israels zu tun. Und wer jemandem das  Recht auf Tragen eines Davidsterns in der Öffentlichkeit absprechen  will, was im Übrigen, wie gesagt, vollumfänglich von Meinungs- und  Religionsfreiheit gedeckt ist, sollte in der Lage sein zu erklären,  warum.

Irgendwas sagt mir aber, dass es besser für alle ist, wenn das nicht passiert. Könnte peinlich werden.

Ursprünglich  hat das, was einst als Antijudaismus begann, im wesentlichen zwei  Wurzeln: Erstens, dass neutestamentarischer Überlieferung zufolge 'die  Juden' sich gleich zu Beginn des Christentums maĺ unbeliebt gemacht  haben, indem sie aktiv die Kreuzigung des Religionsstifters betrieben (Mt 27, 25; Joh 8,44; 1 Thess 2,14-16).  Zweitens, weil sie als Folge der Zerstörung des Jerusalemer Tempels  durch die Römer 'heimatlos' geworden sind. Und weil sie als Migranten  dann noch darauf bestanden, an ihren Sitten und Gebräuchen fest zu  halten, waren sie meist ein wenig suspekt.

(Sehr verkürzte Darstellung, es ist in Wahrheit komplexer, ich weiß. Bin aber noch nicht fertig.)

In  weiten Teilen des christlichen Abendlandes war das im Mittelalter dann  so: Weil sie suspekt waren, sperrte man sie in eigene Stadtviertel,  später 'Ghettos' genannt. Damit sie auch weiterhin suspekt blieben.  Immer gut, einen Watschenmann zu haben. Da man ihre Konkurrenz  fürchtete, wurden ihnen vielerorts die meisten Gewerke und Berufe  verwehrt. Oft blieben ihnen nur als unehrenhaft angesehene wie Händler  und Geldverleiher. Und so geschah es, dass Juden in diesen Berufen es im  Laufe der Zeit oft zu einer gewissen Meisterschaft brachten. Nicht,  weil ihnen das irgendwie im Blut liegt, sondern weil ihnen nicht anderes  blieb.

Irgendwann fiel den depperten Nichtjuden ihr eigenes  Verbot auf die Füße. Weil die verpönten Juden irgendwann besser rechnen  konnten als sie, hieß es dann nicht etwa: Tja, dumm gelaufen, hätten wir  ihnen damals bloß erlaubt, was ordentliches zu arbeiten ("sie in den  Arbeitsmarkt integriert"), wäre das nicht passiert. Nein, weil niemand  gern eigene Fehler zugibt, hieß es: Der hinterlistige Jud' ist schuld!  Außerdem haben seine Vorfahren unseren lieben Herrn Jesus gekreuzigt  (Jesus Christus war übrigens Jude und beschnitten, aber was zählen schon  Fakten?). Also zwingen wir sie, lustige Hüte zu tragen. Oder gleich auf den Scheiterhaufen mit ihnen. Es geht doch nichts über das wohlige Gefühl, das sich einstellt, wenn man weiß, wer schuld ist.

(Sehr verkürzte Darstellung, es ist in Wahrheit komplexer, ich weiß.)

Im 19. Jahrhundert war Antisemitismus dank Aufklärung und Wissenschaft zunächst kaum mehr ein Thema. Dann kam der Gründerkrach.  Und da es ja unmöglich an der eigenen Blödheit und Leichtgläubigkeit  liegen konnte, dass man sich verspekuliert hatte als frisch erwachter  Nationalistendepp, hieß es bald wieder: Moment mal, da war doch was mit  den Juden! Denen liegt das mit den Finanzen doch im Blut, denen ist das  doch qua Rasse arteigen... Der Rest ist bekannt.

"Juden sind  Deutsche, keine Ausländer, übrigens auch keine deutschen Mitbürger. Es  sind keine Touristen und keine Migranten. Einfach nur deutsche  Staatsbürger. Sie zählen genauso zu Staat und Gesellschaft wie deutsche  Katholiken, Protestanten oder Atheisten. [...] Es ist diese simple  Tatsache, die Antisemiten seit dem 19. Jahrhundert nicht anerkennen  wollen und aus der sie ihre Zurückweisung des Jüdischen als angebliche  Volksfremde konstruieren, die die postulierte nationale Identität  bedrohen." (Klaus Hillenbrand)

Zurück  zum wackeren Sicherheitsmann vom Leipziger Westin Hotel: Sicher, man  kann sich mit der offenkundigen Dummheit der Aktion trösten. Die ergibt  nämlich rational gesehen absolut keinen Sinn. Angenommen, ich hätte ein  Problem mit Juden. Wollte die weghaben. Wegen Soros und  Finanzverschwörung und so. Und fordere sie daher auf, sich nicht mehr  als solche zu erkennen zu geben - was hätte ich damit erreicht? Dass sie  dann weg sind? Nein, dass sie nicht mehr als solche erkennbar sind.  Möööp!

Apropos erkennbar: Die Tatsache, dass Juden in der Regel  nicht so aussehen wie im 'Stürmer', macht Antisemitismus ein wenig  herausfordernder als gewöhnlichen Dödelrassismus, der sich an für alle  sichtbaren äußerlichen Merkmalen hochzieht. Einen Schwarzen erkennt noch  der letzte Dorfnazi nach er ersten halben Kiste Bier des Tages. Ein  Jude, der heimtückischerweise auch noch ohne Kippa geht? Schon  schwieriger. Das bedeutet aber keineswegs, dass Antisemitismus irgendwie  ein Ausweis von Intelligenz wäre, im Gegenteil. Wie auch Nationalismus,  was nichts anderes bedeutet als: Sich was drauf einbilden, irgendwo  geboren zu sein und sich deswegen für was Besseres zu halten, ist  Antisemitismus schon bei oberflächlicher Betrachtung, s.o., höhere  Blödheit und eine Beleidigung der Intelligenz.

Allein,  dergleichen Überlegungen helfen nicht und retten niemanden. Das  antisemitische Pack fühlt sich inzwischen, scheint’s wieder ziemlich  sicher bei dem was es tut, das ist das Problem. Weil die indifferente  Mitte der Gesellschaft bloß die Schultern zuckt. Ohne die hätte nämlich  kein Extremist eine Chance. Die Weimarer Republik scheiterte nicht wegen  Webfehlern in der Verfassung oder wegen Links- und/oder Rechtsextremen.  Sie scheiterte, weil Rechtsbürgerliche und -liberale irgendwann  beschlossen, die Demokratie abzuschaffen und gegen ein autoritäres  System zu ersetzen. Mit einem an der Spitze, der die Vernichtung der  Juden ganz offen propagiert hatte. Weil sie in ihrer Hybris glaubten,  den Schreihals schon kontrollieren zu können.

Vor dem Hotel in Leipzig versammelten sich mehrere hundert Menschen zu einer Solidaritätskundgebung für Ofarim. Der beschuldigte Wachmann hat Ofarim wegen Verleumdung angezeigt,  der Hotelmanager ließ andere Gäste befragen. Der sächsische  Innenminister Wöller (CDU) vekündete haarscharf am Thema vorbei:  "Sachsen ist ein weltoffenes Land" (und niemand brach in schallendes  Gelächter aus). Gestern ist in Berlin ein Mann zusammengeschlagen worden, der einen Pullover der israelischen Armee trug.

Jaaberaberaber, es gibt doch auch muslimischen Antisemitismus! Der ist doch noch viel böser und gefährlicher!

Ja,  den gibt es in der Tat. Leider. Und denn es ihn nicht gäbe, man müsste  ihn für die Rechten eigens erfinden, so praktisch ist der.

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