Ich komme aus und wohne in einem Dorf, in dem die Fußgängerzone "Weiße Rose" heißt. Vor dem Klamottenladen für die korbtragende Mittvierzigerin steht ein Mahnmal zum Gedenken an die Münchener und Hamburger Widerstandskreise, das, wie ich gerade eben nachgelesen habe, in meinem Geburtsjahr errichtet wurde. Im Halbkreis um das Mahnmal herum ist eine Steinmauer, auf der im Sommer gerne Eis gegessen wird. Das Mahnmal steht da so präsent, dass es auf dem Weg zu Budni schon gar nicht mehr auffällt. Ab und zu fällt einem abhauenden Windelkind eine Eiskugel auf die Gedenktafel, mitunter kommt dann Papa mit dem Taschentuch hinterher, mitunter auch nicht.  

Im Dorf gibt es nicht viele offensichtliche Probleme. Manchen geht es demonstrativ immer sehr gut, viele sind sich bewusst, dass es an diesem oberen Ende der Stadt anders ist als an unteren und echten Enden, die Kinder hier kennen das Leben nicht anders, und man setzt sich auch gerne für gute Sachen ein. Man kennt sich hier vielleicht ein bißchen mehr, aber man läuft genauso aneinander vorbei wie überall auf der Welt.

Regelmäßig gibt es Musik in der Weißen Rose. Vor dem Fernseh-Laden stehen in den Sommerferien Gymnasialteenager mit Geigen, an Regentagen auch begabte Jazz-Saxophonisten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nur einen Tagesausflug hierher gemacht haben. Im Winter kommen Grundschüler mit Blockflöten und Zipfelmützen. Meistens geht man dran vorbei, wirft den Kindern aber was in die Box, denn es sind ja unsere Kinder. Mensch ist das schön, toll macht ihr das, 5-Euro-Schein im Vorbeigehen.

Corona hat das Dorf etwas leerer gemacht, aber es ist durchaus noch was los. Das Leben muß ja auch weitergehen. Es ist auch ein Rettungsanker, wenn man Samstag Vormittag Klaus-Dieter auf dem Markt trifft. Ernstgemeint.

Heute bin ich mit den eigenen Kindern losgezogen, um Tannenzweige und Erkältungsbad zu kaufen. Kaum am Mahnmal vorbei, hört plötzlich die Gesprächskulisse auf. Zwei Frauen stehen gegenüber vom Fernseh-Laden und singen "Shalom chaverim", eine spielt Akkordeon. Ich bleibe stehen, die Kinder bleiben stehen, und da fällt es auf: Alle sind schon stehengeblieben. Die gesamte Weiße Rose ist mit ordentlich maskentragenden, abstandhaltenden Menschen übersät. Das Dorf sieht aus wie ein Flashmob. Ich singe automatisch mit und gucke dabei die Kinder an, damit es so aussieht, als wolle ich nur den Kindern ein Lied zeigen und nicht irgendwie gerührt mitmachen. Aber es singen fast alle mit. Sonst singt nie jemand mit, wirklich nie. Zu peinlich, zu keine Zeit, zu irrelevant. Nie bleibt jemand länger als ein paar Sekunden stehen. Das Wetter heute ist nicht schön, die Zeit ist nicht schön. Das Zum-Einkaufen-Gehen ist ein Kraftakt, aber jetzt darf man mit den anderen stehenbleiben und singen. Die Rentner, die Windelkinder, die Teenies und die genervten Ex-Schanzen-Eltern. Die Frauen singen immer weiter, eine sonst nicht zusammengehörige Gruppe vor der Post fängt den Kanon an, dann kommt die nächste Gruppe neben dem Bäcker. Wir gucken uns alle gegenseitig an und singen immer weiter und immer lauter.

Shalom chaverim, shalom chaverim, shaloooom, shalooooom. Le hitraot, le hitraot, shalom, shalom!

Im Kopf, und vielleicht nicht nur in meinem, ist es warm. Ein kitschiges, aber wunderschönes Verbundenheitsgefühl macht sich breit. In der besserverdienenden , gut sortierten, deutschen, problemlosen Weißen Rose singen wir alle zusammen ein Lied, das uns vor dem Mahnmal stehenbleiben lässt. Und das, was einigen hier vielleicht die nassen Augen macht: Es ist ernstgemeint. Das hier ist nicht wegen Annalenas Geigenunterricht. Es ist loslassen, fallenlassen, festhalten. Vielleicht die schönste Umarmung, die man sich in dieser Zeit geben kann.

Als das Lied nach zehn Minuten aufhört, fangen alle an zu klatschen. Im Weggehen sehe ich genau, dass die anderen sich auch Regentropfen von den Wangen wischen müssen.

Shalom chaverim.