In seinem letzten und umfangsreichsten Werk mit dem Titel ‚Gesetze‘ (Nomoi), inszenierte der griechische Philosoph Platon (428 – 348 v.Chr.) ein eigentümliches Gespräch: Drei Männer aus drei unterschiedlichen Städten wandern gemeinsam durch die Bergwälder Kretas und diskutieren dabei über Politik. Einer von ihnen, ein gewisser Kleinias aus Kreta, hat den Auftrag, für ein neuzugründendes Gemeinwesen namens Magnesia eine Verfassung zu entwerfen. Und da trifft es sich nur gut, dass seine Wanderfreunde versierte Staatsmänner sind, die auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückblicken können. Einer von ihnen stammt aus Athen. Anders als im Falle seines Kollegen Megillos aus Sparta erfahren wir seinen Namen nicht – ein Umstand der viele Interpreten zu der Annahme veranlasst hat, in seinen Worten könne man die authentische Stimme Platons hören.
Sei dem wie es sei. Das Gespräch der Männer kreist um eine Schlüsselfrage: Was ist das Ziel, der Sinn eines Gemeinwesens? Worauf sollte man sich fokussieren, wenn man ihm eine Verfassung geben soll. Den ersten Antwortvorschlag wagt der Herr aus Kreta. Unumwunden stellt er fest, „dass der Gesetzgeber der Kreter fast alle gesetzlichen Regelungen für unser öffentliches und privates Leben mit Blick auf den Krieg getroffen hat.“ Und dies sei einfach zu verstehen, wenn man sich nur klarmache, „dass stets ein lebenslanger Krieg aller gegen alle Staaten besteht“. Deshalb sei, „was die meisten Menschen ‚Frieden‘ nennen, ein leeres Wort“ und bei Lichte besehen nichts anderes als ein stets gefährdeter Waffenstillstand.
Schaut man in die Welt von heute, scheinen sich die düsteren Worte des Kreters zu bestätigen. Platons Athener aber widerspricht ihm: „Das Beste in der Politik“, so sagte er, „ist nicht Krieg noch Rebellion, sondern Friede und ein Geist der Freundschaft“. Diese Worte klingen heute, nach einem Jahrhundert zweier verheerender Weltkriege, nicht nur sympathischer als jene dunkle Kriegsversessenheit des Kleinias, nein, sie klingen auch plausibler. Denn es scheint doch auf der Hand zu liegen, dass das Leben nur in Friedenszeit wirklich blühen und gedeihen kann; dass der Staat nicht um des Krieges willen existiert, sondern um Menschen einen Raum zu geben, der sie wachsen und gedeihen lässt – ihnen Möglichkeiten einräumt, sich zu zeigen oder zu verwirklichen.
Das ist richtig, und wir Europäer haben wahrlich allen Grund, den Frieden als den Sinn und als das Ziel der Politik zu würdigen. Nur sollten wir dies nicht vorschnell tun; denn das Wörtchen Frieden – griechisch eirene– ist alles andere als eindeutig und leicht verständlich. Den Grund dafür verraten uns die Worte des besagten Kreters Kleinias, der den Frieden als das Gegenteil von Krieg versteht – als den Zustand vor den Auseinandersetzungen bzw. als den Zustand, der dann eintritt, wenn die Waffen schweigen und die Kombattanten ihre Kampfhandlungen eingestellt haben.
Ganz so würde man auch heute noch das Wesen des Friedens definieren. Was auch nicht falsch ist, aber doch unerklärt lässt, was diesen Zustand für sich genommen auszeichnet, welche eigentümliche Qualität ihm eignet und worin sein eigentlicher Wert für das menschliche Leben besteht. Diese Fragen führen uns zurück zu Platon, der sich in dem erwähnten Buch über die Gesetze der Mühe unterzieht, ein philosophisch anspruchsvolles Verständnis davon zu entwickeln, was es mit dem Frieden wirklich auf sich hat.
Einen Wink, in welche Richtung man sein Denken dabei lenken sollten, gibt er mit dem Hinweis auf den „Geist der Freundschaft“, den der Athener im gleichen Atemzug mit „Frieden“ nennt, um seine Antwort auf die Frage nach Sinn und Ziel der Politik zu geben. Frieden nämlich ist in seiner Auffassung nichts anderes als eine Spielart dessen, was die Griechen Freundschaft oder auch philíanannten: eine Weise inniger Verbundenheit von Menschen, die bewusst und vorsätzlich ihr Miteinander in einer Beziehung leben. Echte Freunde, lehrte Platons Schüler Aristoteles, sind verbunden, weil sie einander ernst nehmen und die Person des anderen in all ihren Eigenheiten achten und respektieren. Diese wechselseitige, persönliche Verbundenheit im Geiste einer Freundschaft ist nach Auffassung der alten Philosophen die notwendige Voraussetzung für den Zustand, den sie Frieden nannten.
Was bedeutet das? Es bedeutet, dass Frieden – der seinen Namen verdient – erst und nur dann besteht, wenn Menschen sich so zueinander verhalten, dass sie sich in ihrer Andersheit, Fremdheit oder auch Gegensätzlichkeit erkennen und anerkennen. Frieden gibt es – um ein weiteres Konzept der alten Griechen zu bemühen – grundsätzlich nur da, wo Harmonie zwischen den Menschen herrscht. Wobei auch dieses Wort zu manchem Missverständnis einlädt. Harmonie bedeutet – griechisch gedacht – nämlich keineswegs so viel wie Friede-Freude-Eierkuchen oder „Piep, Piep, Piep, wir hab’n uns alle lieb“. Harmonie hat nichts Harmonistisches, sie ist nicht ein Zustand neutralen Desinteresses, bei dem ein jeder tun und lassen kann, wonach es ihm gelüstet. Harmonie herrscht weder im Zustand Entspannung noch im Zustand der Nullspannung, sondern sie ist Anspannung und Hochspannung: eine Beziehung, bei dem Antipoden, Gegensätze oder Widersprüche so zu einander ins Verhältnis gesetzt sind, dass sie in ihrer Besonderheit und Eigenheit zur Geltung kommen, damit aber doch so auf den oder die anderen eingestimmt sind, dass es im Ganzen stimmt.
Harmonie ist die Qualität eines mit sich eingestimmten bzw. im Einklang befindlichen komplexen Systems. Man denke nur an die Musik, aus deren Theorie der Begriff ursprünglich stammt. Nicht da waltet Harmonie, wo alle Instrumente auf denselben Ton gestimmt sind, sondern wo sie in all ihrer Unterschiedlichkeit doch so miteinander interagieren, dass eine schöne und stimmige Symphonie erklingt – dass das Ganze mit sich einig ist und sehr viel mehr als nur die Summe seiner Teile.
Überträgt man diesen Umstand aus dem Felde der Musik auf das der Politik, wird sogleich erkennbar, was im griechischen Verständnis Frieden ist: eine spannungsgeladene, die Individualität und Besonderheit der interagierenden Personen anerkennende Beziehung, die den einzelnen Beteiligten den Spielraum zubilligt, den sie für die Entfaltung ihres Lebens brauchen; und die im gleichen Augenblick gewährleistet, dass dies nicht auf Kosten der anderen geschieht. Wo es Menschen gelingt, sich allen Spannungen zum Trotz in einer Partnerschaft, in einer Gruppe, in einem Gemeinwesen stimmig zu organisieren, da waltet Frieden zwischen ihnen – und zwar ein Frieden, der höher ist als alle rechtlich, moralisch oder auch gewaltsam gegründeten Formen menschlichen Miteinanders.
Frieden, um es auf den Punkt zu bringen, ist nicht da, wo Interaktion, Dynamik und Spannung zwischen Menschen erloschen ist, sondern wo sie sich trotz aller Gegensätzlichkeiten, Andersheiten, Fremdheiten und Eigenheiten wechselseitig anerkennen und stimmig miteinander umgehen. So zumindest dachten Platon und die alten Griechen dasjenige, was ihre Sprache als eirene kannte. So aber denkt nicht auch zwangsläufig, wer in heutiger Zeit das Wort Frieden im Munde führt. Denn dieses Wort legt – wie bereits erwähnt – gänzlich andere Assoziationen nahe: Befriedigung, Zufriedenheit, Einfriedung oder Friedhofsruhe.
Das hat damit zu tun, dass es im Mittelhochdeutsch ein Verbum frieden gab, dessen Bedeutung sich am besten mit „zur Ruhe bringen“ wiedergeben lässt: Auf dem Friedhof findet man vom Leben seine letzte Ruhestätte; wer ein Stück Land einfriedet, ringt es der Wildnis ab; wer zufrieden ist, wird nicht mehr von unerfüllten Wünschen und Bedürfnissen beunruhigt; wer befriedigt ist, in dessen Herz erlischt die Unrast. Frieden meint in allen diesen Formulierungen stets so etwas wie ein Beruhigt-Sein: einen Zustand der Entspannung – der so gar nicht dem entspricht, was von den alten Griechen als Harmonie beschrieben wurde.
Hier wird erkennbar, dass man nicht schlecht beraten ist, diese zwei einander widersprechenden Verständnisse des Wortes Frieden klar voneinander zu trennen und sie in einem zweiten Schritt gegeneinander abzuwägen: Frieden im Sinne von Harmonie erscheint dabei als die anspruchsvollere und schwierige Lebensform, setzt sie doch voraus, die Andersheit und Fremdartigkeit derer, mit denen man Frieden hält, wahrzunehmen und anzuerkennen. Frieden im Sinne der Befriedung begnügt sich hingegen damit, Andersheiten zu ignorieren, Befremdlichkeiten auszublenden und den anderen irgendwie einfach machen zu lassen.
Friedrich Nietzsche nannte so etwas den „müden Frieden“, der sich etwa einstellt, wenn die Kämpfer oder Antipoden nach langen und verzehrenden Kämpfen erschöpft – oder tot – sind. Es ist ein Frieden, der nach langen Kriegen wohltut und verständlich ist, dabei aber stets um den Preis von Leben, Lebendigkeit oder Vitalität erkauft ist: ein Friedhofsfrieden, der berechtigt ist, wo alle Lebensgeister längst erloschen sind; der uns Menschen aber schlecht zu Gesichte steht, wo wir nicht gekämpft oder gerungen haben, sondern ihn allein um unseres lieben Frieden willens pflegen; wenn dieser wohl zufriedene Frieden eben nicht ein Kind vom Traurigkeit und Müdigkeit ist, sondern von geistiger Ignoranz, Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit oder der puren Egozentrik eines „Mich gehen doch die anderen nichts an“.
Dieser Frieden ist gefährlich, denn er trägt nichts dazu bei, dass ein Geist der Freundschaft zwischen Menschen wächst und ein Gemeinwesen seinen inneren, spannungsvollen und doch harmonischen Zusammenhalt findet. Dieser Frieden ist faul, weil er sich nicht die Mühe macht, mit anderen Menschen in einer Beziehung zu leben, sondern letztlich nur um der eigenen Bequemlichkeit willen waltet. Dieser Frieden tötet die Lebendigkeit, die immer die spannungsvolle Auseinandersetzung, die Beschäftigung mit dem anderen braucht. Dieser Frieden schläfert ein und macht den Menschen unempfindlich für die Spannungen, die sich unter seiner trügerischen Oberfläche wie eine Tsunamiwelle auftürmen, bis sie offensichtlich werden.
Es ist gut und richtig, sich für Frieden stark zu machen – wenn wir dabei nicht den Friedhofsfrieden unserer Konsumentenwelt anstreben, sondern jenen anspruchsvollen Frieden, der sich nicht in selbstsüchtiger Bequemlichkeit aus der (politischen) Verbindung mit anderen stiehlt, sondern die Mühe macht, mit anderen zu ringen, zu streiten, zu interagieren und immer wieder neu zu verständigen. Dieser Frieden aber will erlernt und eingeübt sein. Dafür braucht es eine Kultur des Gespräches und einen Geist des Miteinanders. Und dafür braucht es eine Weltanschauung oder Spiritualität, die ihren Anhängern gerade nicht den süßen Seelenfrieden in Aussicht stellt und sie dazu animiert, sich durch Meditation oder Nichtanhaftung innerlich zu befrieden. Nicht lächelnde Teilnahmslosigkeit und spannungslose Gelassenheit sind das, was echten Frieden möglich macht, sondern der Mut zu Auseinandersetzung, Verantwortung, Kritik und Versöhnung; nicht wertschätzendes Gesäusel, sondern rückhaltlose Ehrlichkeit.
Spannung zwischen Menschen wird es immer geben. Denn das Leben lebt von Spannung und Polarität. Ohne Andersheit und Fremdheit, ohne Auseinandersetzung und Konflikt, gibt es keine Lebendigkeit. Im Gegenteil: Sie sind die Voraussetzungen dafür, dass das Leben zur Entfaltung kommt. Eine Lebenskunst, die nicht das Leben ausbremst oder schwächt, sondern Lebendigkeit erblühen lässt, wird deshalb nicht den Friedhofsfrieden spannungslosen Lächelns lehren, sondern jene anspruchsvolle Kunst der Konversation mit denen, die so gänzlich anders sind als wir: jene menschliche Kompositionskunst, die das Leben des Einzelnen im Miteinander mit anderen zu einer schönen, kraftvollen und lebendigen Melodie erblühen lässt.
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