Am 01-Jan-2022 meldete ich mich auf Telegram an. Ich wusste nicht, was mich erwartet - aber ich ahnte, dass es schlimm wird. Was ich nicht ahnte, war meine zeitweise richtig schlechte Laune und ich ahnte auch nicht, dass ich zutiefst misanthrope Tendenzen entwickeln werde. Und irgendwie musste ich den ganzen Mist auch verarbeiten. Daraus entstand ein längeres Word-Dokument, welches ich nun in mehreren Teilen hier veröffentliche. Dieses #TelegramExperiment wurde zu einer abartigen Reise zu den Abgründen der menschlichen Gesellschaft.
Telegram ist eine dunkle und dystopische Welt: Die eingebildeten Feinde sind überall und in allen Berufsgruppen zu finden und jedes noch so banales Ereignis lässt einen Rückschluss auf finstere Machenschaften zu: Ärzte, Saharastaub, „Sie“, „die Eliten“, Chemtrails, Waschbären, Eltern töten ihre Kinder straffrei, Vater Staat und nicht zuletzt die Politiker – welche aber nur „Marionetten“ oder Hologramme seien, die gesteuert werden. Von wem genau bleibt unklar - Reptiloiden sind eine mögliche Erklärung in dieser wirren Welt.
Die obigen Screenshots sind Ergebnis einer Telegram-Suche eines einzigen Tages. Vergleichbare Äußerungen lassen sich jedoch jeden Tag finden.
In einer dystopischen Welt, in der man jederzeit von jedem „ermordet“ – oder im vergleichsweisen harmlosen Fall "beraubt" - werden könnte, bleibt das Bedürfnis nach Selbstverteidigung nicht aus – wie folgende Screenshots belegen:
Aus Sicht der Mitglieder in den Telegramgruppen ist dies sogar auf absurde Weise „gerechtfertigt“ – damit meine ich: gedanklich nachvollziehbar. Der Staat (oder wahlweise „die Eliten“) schaden den Telegram-Mitgliedern aus deren Sicht "wirklich". Als Beispiel bleibt mir ein Sprach-Chat auf Telegram in Erinnerung:
Eine alleinerziehende Mutter, prekär beschäftigt, bekam einen Strafzettel wegen Falschparkens: um die 25 Euro waren zu zahlen. Diese verärgerte Dame recherchierte nun auf Telegram und stieß auf ein sogenanntes „Akzeptanzschreiben“ (Definition unten). Es gibt weitere, ähnlich abstruse Vorgehensweisen (z.B. die "Zurückweisung"), wie man mit einem Strafzettel umgehen kann. Allen gemeinsam ist: Es wird von Behörden nicht akzeptiert. Bei der alleinerziehenden Mutter kam es, wie es kommen musste: Nach einigen Briefwechseln stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür und am Ende stand die Lohnpfändung. Die ehemals 25 Euro beliefen sich nun auf eine Gesamtsumme von über 400 Euro.
Für eine prekär beschäftigte alleinerziehende Mutter eine finanzielle Katastrophe. Wieder suchte sie sich Hilfe auf Telegram – eben im dem erwähnten Sprach-Chat. In diesem Stadium hatte die Dame eine schwerwiegende Entscheidung zu fällen: Miete oder Essen für sie und ihre zwei Kinder.
Ihr wurde erklärt, dass das Akzeptanzschreiben der falsche Weg gewesen sei, und ihr wurde eine andere, ebenso – man kann es nicht anders formulieren – bescheuerte Lösung aufgezeigt (nämlich die "Zurückweisung"), wie sie mit der sich anbahnenden Wohnungskündigung des Vermieters umgehen solle. Auf die Idee, mit dem Vermieter proaktiv eine Ratenzahlung zu vereinbaren kam - niemand.
Die alleinerziehende Mutter bedankte sich für die „Hilfe“ – mit vor Rührung tränenerstickter Stimme.
Übrigens wurden und werden in diesem Sprach-Chat auch Seminare angeboten. Kostenpunkt: 400 Euro pro Person und Tag. Auf diesen drei- bis viertägigen Seminaren wird den Teilnehmern das theoretische Grundgerüst vermittelt, wie man mit Strafzetteln und anderen Behördenschreiben „richtig“ umgehe.
Dies ist ein Beispiel. In diesem geschlossenen Weltbild der Telegram-Mitglieder sind natürlich die Behörden (bzw. der Staat) oder die Eliten Schuld. Begründet wird dies mit „Der Staat ist pleite und muss die Bürger enteignen, um an Geld zu kommen.“.
Gegen die Enteignung muss man sich natürlich wehren – wer lässt sich schon gerne ausrauben oder gar umbringen (zum Beispiel indirekt durch die Impfung - Stichwort "Shedding")?
Aus dieser Sichtweise ist es leider zumindest gedanklich ansatzweise nachvollziehbar, wenn es Bewaffungsphantasien gibt.
Ich habe mir einige Sprach-Chats auf verschiedenen Kanälen angehört. Auffällig ist: Von den Betreibern der Telegram-Gruppen wird mit schöner Regelmäßigkeit ein ausgewählter Abonnent aufgefordert, zu erzählen, wie toll und hilfreich diese Ratschläge seien: Erfolgsstories, wie man sie von jeder viertklassigen Unternehmenswebseite kennt.
Ich vermute sehr stark anhand des Tonfalls, dass diese Texte in Abstimmung der jeweiligen Gruppen-Admins vorformuliert und wenigstens teilweise abgelesen wurden.
Gleichzeitig wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Betreiber bzw. Admins der Kanäle diese "Aufarbeitung" der Originaldokumente in ihrer Freizeit machen.
Ebenso auffällig ist, wie oft die unbearbeitenden Originaldokumente (und das kann der Bußgeldbescheid eines Strafzettels sein) eingefordert werden, um zu "helfen".
Geschickt getarnt: Das Opfer soll natürlich selber recherchieren und die Antwort vorformulieren. Der Abgleich des selbsterstellten Antwortschreibens mit dem Wissen der Kanalbetreiber erfolgt dann in der Freizeit. Dennoch befürchte ich Phishing (also das Abgreifen der persönlichen Daten wie Namen, Adresse, Bankverbindungen usw.).
Ich kann es nicht belegen - aus naheliegenden Gründen ging ich nie so weit, dies auszuprobieren.
Dennoch bleiben die Spendenaufrufe - psychologisch ist dies von diesen Pseudo-Experten recht geschickt gemacht: Wer vierhundert Euro angeblich "einsparen kann", spendet doch gerne die 25 Euro an einen Kanalbetreiber, der den finanziellen Schaden einer drohenden vierstelligen Summe vermeintlich abgewehrt hat? Oder ist bereit, an kostenpflichtigen Seminaren, zu denen man bitte noch interessierte Bekannte/ Freunde oder Verwandte mitbringen möge (die natürlich auch bares Geld abliefern sollen), teilzunehmen?
Überflüssig zu bemerken, dass die Gesamtsumme von mehreren 100 Euro früher oder später trotz dieser "grandiosen" Tipps dennoch eingefordert wird - zum Beispiel durch Lohnpfändung.
Außer Spesen nicht gewesen. Ein Gedanke, der mir mehrfach kam: Diese Telegram-Kanal-Betreiber bauen regelrecht darauf, Spenden abzugreifen, bevor die (bekanntlich) langsam mahlenden Mühlen der Justiz reagieren.
Betrachten wir es realistisch: Eine x-beliebige Behörde bekommt ein Akzepztanzschreieben bzw. Zurückweisung. Das ist so abstrus - jeder Sachbearbeiter einer beliebigen Behörde wird zwangsläufig erst einmal einen Vorgesetzen fragen. Und genau deshalb "funktioniert" dieses System - aber eben nur kurzfristig.
Langfristig erleidet man mit diesen Tipps jedoch nur Schiffbruch - für gewisse Telegram-Kanalbetreiber jedoch ausreichend Zeit, um Spendengelder vor dem "großen, privaten Knall" einzutreiben....
Nachdem mir das einige Male aufgefallen ist, frage ich mich, mit welchen Methoden insbesondere die Reichsbürger arbeiten. Das Konzept des Social Engineering drängt sich zwangsläufig auf: Ich habe es - wie gesagt - bislang nicht ausprobiert: Der logistische Aufwand für eine Fake-Postadresse (aka „Briefkastenwohnung“) ist mir definitiv zu hoch. Ich halte es jedoch für realistisch und nicht unwahrscheinlich, dass diese Gruppen-Admins ähnlich penetrant arbeiten wie die Zeugen Jehovas.
Nun wird wohl niemand ernsthaft abstreiten, dass es im Behördensumpf tatsächlich Abgründe gibt. Hand aufs Herz: Wer hat noch nie mehr oder weniger absurde Forderungen von Finanzamt, Krankenkassen etc. bekommen? Und ja, das kostet ohne Frage Lebenszeit, Nerven und kann wütend machen. Aber wem haben die oben genannten Methoden wirklich geholfen?
Es bleiben die Fragen: Wie holen wir diese Leute ab? Geht das überhaupt? Gibt es Telegram-Aussteiger-Programme? Falls alles nein: Wie gehen wir gesellschaftlich damit um?
Wir haben es m.E. mit einem signifikanten Bevölkerungsanteil zu tun, der den Staat als "(Tod-) Feind" betrachtet: Ausgehend von der Impfquote dürften dies mittlerweile grob geschätzt 10-15% der Bevölkerung sein:
Diese 10-15% Staatsfeinde sind also eine optimistische Schätzung von mir: Natürlich betrachten viele der knapp 25% Ungeimpften den Staat nicht als Feind. Manche können sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen. Wieder andere sind auch einfach nur pandemiemüde (was nach über zwei Jahren auch in gewissen Rahmen nachvollziehbar ist).
Daher ist es aus meiner Sicht schwer einzuschätzen, wie viele Leute nun durch die Pandemie in die Fänge von Reichsbürgern, Selbstverwaltern und ähnliche demokratiefeindliche Kräfte geraten sind.
Andererseits kann jeder anhand der "Montagsspaziergänge" sehen, wie viele Leute das Vertrauen in die FDGO verloren haben. Je nach Ort/ Bundesstaat sind das leider nicht wenige.
Hinzu kommt der Themenwechsel von Corona zu Gaspreisen/ Energiepreisen, Bargeldabschaffung und Enteignung (Lastenausgleich) - kurz: Der "Wutwinter". Mittlerweile ist die Pandemie kaum noch Thema auf den Montagsdemonstrationen: Auf den "Montagsspaziergängen" sieht man nur noch selten Pappschilder mit Hinweisen auf das sogenannte "Impfabo". Die Teilnehmer dieser "Spaziergänge" sind jedoch nach wie vor die gleichen Personen wie zu den Hochzeiten der Corona-Maßnahmenproteste.
Die traurige Tatsache bleibt: Reichsbürger und andere Feinde der FDGO haben die Krisen der vergangenen zwei Jahre bzgl. Pandemie, Klima und den Angriffskrieg auf die Ukraine (als0 Krisen, die mehr oder weniger vorhersehbar waren) sehr geschickt genutzt, um für ihre eigene Sache zu werben - mit Hilfe des Spiels mit der Angst und der These "Der Staat und die Behörden sind unser Todfeind".
Diese These fiel in den letzten zwei bis drei Jahren leider auf fruchtbaren Boden. Es ist schwer abzuschätzen, inwieweit sich das gesamtgesellschaftlich in naher Zukunft auswirken wird.
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⚡⚡Fake-Facts!!!⚡⚡
Der nachfolgende Text dient ausschließlich dazu, um Telegram-Fake-Facts zu definieren und die absurde Welt der Telegram-Verschwörungsmythen zu verstehen. Diese Definition entspricht NICHT den Tatsachen!
Definition "Akzeptanzschreiben" auf Telegram:
Da die BRD eine Firma sei, sei ein Strafzettel ein „Angebot“ – Firmen können keine Strafen verhängen, wohl aber Angebote schreiben.
Der „Trick“ sei nun, das Angebot nur dann zu akzeptieren, wenn bestimmte Anforderungen seitens des Kunden (also Bürgers) erfüllt werden. Hierbei ist beispielsweise der Satz „Das Schreiben wurde maschinell erstellt und ist ohne Unterschrift gültig“ von Bedeutung. Ebenso sollen Unterschriften mit dem Vermerk „Im Auftrag“ ungültig sein.
Das „Angebot“ wird also erst dann angenommen, wenn folgende Frage geklärt ist: Wer „haftet“ für dieses Schreiben?
(Hintergrund für diese Frage ist das sogenannte "Kollateralkonto". Und dazu gehört auch das "Seerecht" bzw. "Kommerzrecht". Klingt abstrus? Ja, ist es - dazu ein gesonderter Artikel aus der Reihe "Gefangen im Wahn".)
Wichtig sei weiterhin, das Original zurückzuschicken, nachdem man eine Kopie oder Scan für die eigenen Unterlagen erstellt habe.
Als „Widerspruch“ wird von Behörden ein derartiges Schreiben natürlich nicht akzeptiert und so nimmt das Unheil seinen Lauf.
Das sogenannte "Akzeptanzschreiben" ist wohl den Reichsbürgern zuzuordnen, während diverse Alternativen wie die "Zurückweisung" eher auf die Verfassungsgebende Versammlung (VV) zurückgehen.
Vom Grundgedanken unterscheiden sich die VV und Reichsbürger eigentlich nur in einem wesentlichen Punkt: Die Reichsbürger hoffen darauf, dass der Urenkel des letzten Kaisers sein Erbe antritt, die VV-Anhänger wollen dies ohne den Urenkel umsetzen. Der Rest ist identisch.
Sowohl Akzeptanzschreiben als auch Zurückweisungen sind hochkompliziert: Die angebliche gesetzliche Grundlage sei die Haager-Landkriegsordnung bzw. die Genfer-Konventionen. Diese greifen aber nur im Kriegsfall - also musste das Konstrukt her, dass Deutschland nach wie vor ein besetztes Land sei - bzw. sich seit 1939 im Krieg befindet. Der vermeintliche "Vorteil" sei übrigens, dass Akzeptanzschreiben bzw. Zurückweisungen nur 5 Cent kosten oder gar nichts (je nach Telegramquelle). Die Post befördert tatsächlich nach wie vor Post von Kriegsgefangenen entgeltfrei - allerdings nur durch autorisierte Verbände. Und spätestens da sollte doch der gesunde Menschenverstand einsetzen: Als Privatperson bin ich weder ein Verband noch autorisiert?!
Dies wird jedoch durch die "Seminare" quasi unterwandert: Ein autorisierter Verband macht dies angeblich erkennbar - zum Beispiel durch solch "subtile" Methoden, wie das Anbringen von Briefmarken in bestimmten Abständen auf den Briefumschlägen.
Es gibt auf Telegram lange Videos (zwischen 30 und 60 Minuten) zu dem Thema, wie man mit Hilfe von Geodreieck und Winkelmesser Briefmarken aufklebt, damit das "Akzeptanzschreiben"/ die "Zurückweisung" als Kriegsgefangenenpost gemäß Haager Landkriegsordnung durchgeht.
Das sind die "Seminarinhalte", für die mehrere 100 Euro verlangt werden!
(Und nein: Das ist kein Witz!)
Gefangen im Wahn - Artikel-Übersicht
https://publikum.net/gefangen-im-wahn-teil-1-die-neun-schleier/