Die Pille hat uns Frauen nicht befreit. Sie hat uns mehr Schutz und Planbarkeit gegeben, doch sie steht für alte patriarchale Geschlechterrollen. Wir müssen sie loswerden – und eine gleichberechtigte Sexualität schaffen. Eine Wutrede.

Ich konnte auf den Tag genau abzählen, wann meine depressive Phase beginnen würde. Vier Tage vor der letzten Pille aus der Packung, sieben Tage vor dem ersten Blut in meinem Slip. Diese sieben Tage konnten die Hölle sein. Denn wenn ich erst einmal in meiner Heul- und Nebelschleier-Phase angelangt war, dann brachte mich da auch nichts wieder raus. Ich bekam auch Panik, dass ich schwanger sein könnte – die Stimmungsschwankungen passten und kurz vor Zyklusende stand ich schließlich auch. Und das nur, weil mein Hormonhaushalt verrücktspielte – weil ich ihn freiwillig durcheinander brachte.

Ich selbst habe die Anti-Baby-Pille genommen, seit ich fünfzehn war – mit Sex hatte das wenig zu tun. Ich hatte gehört, sie solle gut gegen Pickel sein, außerdem war mein Zyklus aus dem Gleichgewicht – da schien das der einfachste Weg. Und ich war bei Weitem nicht die Einzige, die die Pille zunächst für ganz andere Ziele als Verhütung verschrieben bekam. So ging es vielen meiner Freundinnen, und so geht es vielen heute immer noch. Und nicht wenige davon kämpfen mit Nebenwirkungen, die sie kaputt machen.

Die Pille hat uns nicht befreit

Eigentlich war die Pille mal ein feministisches Projekt, das Frauen das Leben erleichtern sollte. Erfunden wurde sie in den USA. Die erste „Anti-Baby-Pille“ kam dort am 18. August 1960 auf den Markt – um zu befreien. Make love, not war: Die 1960er sind noch heute bekannt als die Jahre der „sexuellen Revolution“. Denn die Emanzipations-Bewegung hat es geschafft, sich ein Stück Freiheit zu erkämpfen und überkommene Moralvorstellungen der konservativen Elterngeneration zu brechen.

Es waren auch die Jahre der zweiten Welle der Frauenbewegung, die für körperliche Selbstbestimmung kämpfte – und viel erreicht hat. Wir Feministinnen heute sind dankbar dafür. Wie wir leben, das hat die Frauenbewegung maßgeblich errungen. Und ein wichtiger Baustein der sexuellen Freiheit der Frauen war die Anti-Baby-Pille. Die Idee stammte von der Krankenschwester Margaret Sanger, die mit der Biologin und vermögenden Feministin Katherine McCormick die Entwicklung einer Verhütungsmethode für die Frau vorantrieb.

Doch wie alle emanzipatorischen Projekte – vor allem die für Frauen – wurde die Pille schon bei ihrer Einführung bekämpft, Kirche und Staat fürchteten einen „Sittenverfall“ und einen Rückgang der Geburtenrate. Der „Pillenknick“, also die Idee, dass es wegen der neuen Nutzung der Verhütungsmethode weniger Kinder gab, ist zwar eine Legende – Ursache für zurückgehende Geburtenzahlen war viel mehr der zunehmende Wohlstand. Doch tatsächlich ermöglichte sie Frauen und Paaren eine selbstbestimmtere Familienplanung – die Menschen bekamen später Kinder.

Die Pille war ein wichtiger Schritt im Kampf um Selbstbestimmung. Doch die Tatsache, dass es eine hormonelle Verhütungsmethode gebraucht hat, mit der die Frau allein ihren Schutz in der Hand hatte – das ist an sich total grotesk. Um sexuelle Freiheit genießen zu können, müssen Frauen akzeptieren, ihrem Körper dauerhaft Hormone zuzuführen.

Verhütung ist Frauensache, das ist der Grundtenor. Die Frau muss sich selbst schützen, wenn sie oder ihr Partner keine Kinder bekommen wollen. Und das nur, weil Männer erzählen, dass sie keine Kondome leiden können, oder sich nicht mit mechanischen Verhütungsmethoden auseinandersetzen wollen. Deswegen sollen Frauen sich mit Hormonen vollpumpen. Oder, schlimmer noch: weil Frauen nie sicher sein können, nicht vergewaltigt zu werden.

Frauen* in die Medizin!

Die Pille für die Frau offenbart, was wir in der patriarchalen Gesellschaft für selbstverständlich halten: Dass wir Frauen uns und unseren Körper selbst schützen müssen, weil wir uns nicht auf Männer verlassen können. Und weil sie, so bitter es klingt, immer noch mit männlicher Gewalt rechnen und sie „einplanen“ muss – jeden Tag.

Die Pille, sie war wichtig für uns und unseren Weg in eine selbstbestimmtere Gesellschaft. Sie hat Frauen in einer patriarchalen und mit sexualisierter Gewalt durchzogenen Welt ein bisschen mehr Schutz gegeben. Aber „befreit“, das hat sie sie nicht. Echte körperliche Selbstbestimmung für Frauen gibt es auch mit der Pille nicht.

Auch wenn die Zahl der Nutzerinnen zurückgeht – die Pille ist als Verhütungsmittel immer noch weit verbreitet: 47% der erwachsenen Deutschen verhüteten 2018 mit der Pille, wie eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigt. 46% nutzten Kondome. Gerade junge erwachsene Frauen nehmen immer seltener die Pille – doch es bleibt jede zweite Frau.

Verglichen mit ihrer Verbreitung ist das Wissen über ihre Wirkung häufig Mangelware. Dass die Pille dauerhaft Hormone in den weiblichen Körper pumpt, dass sie dem Körper vorgaukelt, schwanger zu sein, und dass die „Abbruchblutung“ keine Monatsblutung ist – all das muss frau oft selbst herausfinden, denn Aufklärung fehlt häufig. Und das kann eigentlich kein Zustand sein.

Klärt die Menschen auf!

Meine depressiven Phasen haben mein Leben zeitweise massiv belastet, aber sie wurden weniger, als ich die Pille abgesetzt habe. Doch eine Freundin ist an den Folgen einer Thrombose beinahe gestorben. In den Beipackzetteln der heutigen Pillen wird auf die erhöhte Gefahr einer Thrombose durch die Pille hingewiesen – kleine Blutgerinnsel, die an der falschen Stelle tödlich sein können. Es ist die wohl bekannteste Nebenwirkung der Pille. Für viele dürfte sie der Hauptgrund sein, pillenfrei zu leben.

Im Fall meiner Freundin kann natürlich niemand mit Sicherheit sagen, dass das Blutgerinnsel, das sich in ihrem Körper bildete und in ihrer Lunge stecken blieb, eine direkte Folge der Pille war. Es ist statistisch wahrscheinlich, aber, wie es mit Statistik so ist, nicht beweisbar. Meine Freundin ging erst spät zum Arzt. Sie musste notversorgt werden und hat am Ende relativ knapp überlebt. Auch das sind die Geschichten, die die Pille schreiben kann.

Heute ginge die Pille wohl nicht mehr durch die Arzneimittelzulassung – in jedem Fall müssten sich ihre Verkäufer*innen vielen Fragen stellen. Die nebulös angekündigte „Pille für den Mann“ ist bis heute nicht zugelassen, Forschungen daran wurden abgebrochen. Die Liste an Nebenwirkungen, die bei Probanden auftraten, erinnert verdächtig an die Anti-Baby-Pille. Es drängt sich die Vermutung auf, mit Frauen könne man in dieser Gesellschaft eben machen, was Männern nicht zumutbar ist – denn die Pille wird immer noch verschrieben.

Nicht erst während der Forschung an Long Covid haben Forscher*innen und Frauenrechtler*innen festgestellt, wie groß die Kluft zwischen Daten zu männlichen und weiblichen Körpern und deren Reaktionen auf Krankheiten und Medikamente ist. Frauen wurden in der Forschung lange einfach ignoriert, aus Studien ausgeschlossen – und jetzt fehlen Daten. Die Norm war – und ist – der 75 Kilo schwere Mann, der natürlich anders reagiert als eine Frau. Von intersexuellen Personen ganz zu schweigen.

Zerstört das Patriarchat!

Als ich meine Pille absetzen wollte, holte meine Frauenärztin eine kleine Tafel hervor. Viele Alternativen zur hormonellen Verhütung hätten wir als Frauen leider nicht, sagte sie. Auch der Ring führe Hormone zu, die Kupferspirale bringe das Gleichgewicht immerhin nur lokal durcheinander. Ohne eine Einwirkung in den Hormonhaushalt des Körpers bleibe uns nur noch Mechanisches – und da sei das Kondom die praktischste Lösung.

Eigentlich eine logische Wahl, es schützt gleichzeitig vor Schwangerschaft und Krankheiten. Und wenn es richtig genutzt wird, ist es so sicher wie die Pille. Warum führen wir die Diskussion also? Das „Hauptproblem“ beim Kondom ist, dass eine Frau sich auf ihren Sexpartner verlassen können muss. Und das scheint vielen nicht genug Sicherheit zu sein. Dass die Gesellschaft Frauen mit ungewollten Schwangerschaften allein lässt, tut sein Übriges. Und damit sind wir beim eigentlichen Problem: In einer patriarchalen Gesellschaft tragen Frauen am Ende die Verantwortung für ihren körperlichen und seelischen Zustand allein.

Frauen sind noch immer selbst für ihren – und seinen – Schutz beim Geschlechtsverkehr verantwortlich. Genauso tragen sie im Zweifel aber auch für die physischen Folgen ungewollter Schwangerschaften, ob das Kinder sind oder Schwangerschaftsabbrüche. Dazu kommen die gesellschaftlichen Folgefolgen, die sich daraus ergeben. Und Frauen müssen immer noch mit sexualisierter Gewalt rechnen, das ist die bittere Realität. Wir Frauen müssen uns die reale Frage stellen, ob wir neben den unabsehbaren psychischen Folgen einer Vergewaltigung wenigstens die physischen im Vorhinein einkalkulieren – und uns schützen.

Die Überlegungen mögen von Frau zu Frau unterschiedlich ausfallen. Fakt ist jedoch, dass frau heute offensichtlich immer noch glaubt, den eigenen Schutz in der Hand haben zu müssen – sonst müssten wir die Pillen-Diskussion nicht führen.

Da sind wir wieder beim tieferen Problem: Unsere Gesellschaft ist patriarchal organisiert und von sexualisierter Gewalt durchzogen. Bis wir das nicht ändern, gibt es keine wirkliche körperliche Selbstbestimmung für Frauen – und alle nicht-männlichen und nicht-heterosexuellen Personen – in dieser Gesellschaft.

Und damit gibt es eigentlich keine richtige sexuelle Freiheit – für niemanden. Denn wenn das den männlichen Teil dieser Gesellschaft noch nicht überzeugt hat, dann vielleicht das: Durch die Lösung des Pillen-Problems gewinne wir alle, muss sich doch hoffentlich bald niemand mehr mit gesundheitlichen und psychischen Schäden am eigenen Körper oder an dem von lieben Partnerinnen, Verwandten, Freundinnen und Bekannten herumschlagen. Und sich in einer post-patriarchalen Gesellschaft auf Augenhöhe zu begegnen – das ist für alle bereichernd. Also lasst uns Verbündete sein.

[Der Text ist entstanden im Rahmen des Magazin-Kurses an der DJS]

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