Ich habe 20 Jahre in den USA gelebt. Als ich dort hingezogen bin, dachte ich, ich wüsste, wie es sich anfühlen müsste, dort zu leben. Tatsächlich dachte ich, es gibt sicherlich keine nennenswerten Unterschiede. Amerika prägte das Nachkriegsdeutschland so außerordentlich, als Babyboomer in Deutschland fühlte man sich ja quasi amerikanisch. Deutschland und USA kulturell im Grunde identisch, oder? Natürlich lag ich da völlig falsch. Es hat allerdings Jahre gedauert, bis ich die wirklich feinen Unterschiede herausgearbeitet hatte. Manche kann ich bis heute nicht so ganz in Worte fassen, sondern eher nur fühlen. Ein paar Dinge waren relativ offensichtlich und das eine oder andere Klischee, das man aus Film und Fernsehen kennt, hat sich bewahrheitet. So ist es durchaus wahr, dass der durchschnittliche Amerikaner prüder ist als der durchschnittliche Deutsche – immer noch. Und es ist auch wahr, dass Psychotherapie nicht so schambehaftet oder stigmatisiert ist wie hierzulande. Womit wir beim Thema wären.
Warum tendiert man in Deutschland oft dazu, Psychotherapie mit Verrücktsein gleichzusetzen? Das behaupte ich nicht nur so. Gerade erst vor ein paar Wochen habe ich mich mit einer Freundin (ca. 30 Jahre alt) unterhalten, sie wollte meine Meinung zu Beziehungsproblemen hören, auf die sie immer wieder stößt. Im Laufe des Gespräches fragte ich sie, ob sie es denn schon mal erwogen habe, ihre Probleme mit einem Therapeuten aufzuarbeiten, und prompt kam die Antwort: „Was soll ich in Therapie, ich bin ja nicht verrückt.“
Ich will es kurz machen: Man muss nicht verrückt sein, um in Therapie zu gehen, genauso wenig wie man zwingend eine tödliche Krankheit haben muss, um einen Arzt aufzusuchen. Man darf sich gerne Hilfe holen, bevor es eskaliert.
Tatsächlich ist es so, dass ein sehr hoher Prozentsatz der Deutschen nach Hilfe suchen, wenn es ihnen nicht gut geht. Die Wartezimmer der Mediziner sitzen voll. Allerdings gehören viele der Menschen, die dort sitzen, nicht dort hin. Sie sind schlichtweg an der falschen Stelle. Statistiken zeigen, dass etwas 12 % der Patienten, die einen Arzt aufsuchen, somatoforme Störungen aufweisen, also den körperlichen Symptomen keine körperliche Krankheit zugrunde liegt. Ein weit höherer Prozentsatz der Patienten zeigt körperliche Symptome aufgrund von Schlafstörungen (~25 %), depressiven Verstimmungen (~18 %) oder Angststörungen (~15 %). Andere wiederum entwickeln mehr oder weniger bewusst Symptome, nur um mal wieder ein Schwätzchen mit dem Arzt zu halten, möglicherweise weil sie einsam sind. Andererseits haben Ärzte dieser Tage nur noch ca. 10 Minuten pro Patient, also nicht genug Zeit, sich eingehend mit einer eventuell zugrunde liegenden Problematik zu beschäftigen. Und man darf annehmen, dass relativ viele Patienten wieder nach Hause gehen, ohne dass ihre wahren Probleme erkannt bzw. angesprochen wurden. Mit anderen Worten, viele Menschen haben psychische Probleme, die es anzusprechen gilt, aber fragen an der falschen Stelle nach Hilfe. Woran liegt das?
Das kann einerseits daran liegen, dass diese Menschen gar nicht wissen oder wissen wollen, dass ihrem Unwohlsein möglicherweise ein psychisches Problem zugrunde liegt. Oder es kann daran liegen, dass sie schlichtweg nicht wissen, an wen sie sich mit ihren nicht-körperlichen Problemen wenden sollen – außer ihrem Hausarzt. Dieser Tage ist der Pfarrer ja eher aus der Mode gekommen und der Psychotherapeut ist eben nicht auf dem Radar, weil man ja wie bereits erwähnt „nicht verrückt ist“. Aber obwohl sich die Ansprechpartner verändert haben, sind die ureigenen menschlichen Probleme gleich geblieben, und hier und da sind dank der modernen Industriegesellschaft noch ein paar neue hinzugekommen. Nicht der Allgemeinmediziner sollte bei solchen Problemen um Rat gefragt werden, sondern Psychotherapeuten oder Psychiater. Natürlich gibt es, genauso wie bei Ärzten, unterschiedliche Arten von Therapeuten und Therapien. Das Angebot ist so vielfältig wie die Probleme und eine sorgfältige Wahl kann nur von Vorteil für den Betroffenen sein. Der erste und wichtigste Schritt ist, dass man seine Probleme erkennt (oder sie sich eingesteht) und der zweite, dass man sich Hilfe beim richtigen Ansprechpartner sucht. Voraussetzung für beides ist, dass man psychische Probleme enttabuisiert und entstigmatisiert. Das kann nur hilfreich sein für uns alle. Denn – Vorsicht, hier kommt die große Überraschung – wir alle haben sie die psychischen Probleme. Niemand ist immun und es gibt auch keine Impfung dagegen. Es ist etwas ureigen menschliches, Gefühle zu haben, und auch, dass diese vielleicht manchmal so stark und überwältigend sind, dass man sich krank fühlt oder krank wird.
Krankheit ist keine Schande! Und genauso, wie man zum Arzt geht, wenn Hausmittel nicht mehr helfen, sollte man zum Therapeuten gehen, wenn das Gespräch mit Freund oder Freundin nicht mehr ausreicht. Scheuen Sie sich nicht. Holen Sie sich Hilfe am richtigen Ort zur rechten Zeit. Das Leben ist kurz. Wir sind nicht hier, um es mit Leiden zu verbringen. Nur wer sich ausgeglichen und wohl fühlt, ist leistungsfähig, kann das Leben genießen und auch andere an seinem Wohl teilhaben lassen. Sie tun nicht nur sich selbst, sondern auch Ihren Lieben Gutes, wenn Sie sich um sich kümmern, rechtzeitig und mit dem richtigen Ansprechpartner. Und gemeinsam können wir zur Enttabuisierung von psychischen Problemen beitragen, wenn wir offen darüber reden und den anderen ansprechen, wenn wir Leid sehen. Es ist gut zu sehen, dass wir als Gesellschaft in dieser Beziehung Fortschritte machen. So bietet z.B. die Beisheim Stiftung seit Neuestem einen Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit an: https://www.beisheim-stiftung.com/de/de/projekte/mhfa-ersthelfer. Ein Vorbild, dem hoffentlich noch viele andere folgen werden und es ist zu hoffen, dass viele Arbeitgeber es als Kursangebot in ihr internes Fortbildungsprogramm aufnehmen werden.
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