2 Prozent der Weltbevölkerung erfüllen die diagnostischen Kriterien einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. 2 Prozent der Weltbevölkerung werden aufgrund ihrer Symptome dämonisiert.

Ich habe Borderline. Ich bin manipulativ, böse und gefährlich. Ich behandle Menschen wie Spielzeuge und sobald sie mich langweilen, lasse ich sie fallen. Genau darum hält es niemand lange mit mir aus. Wie denn auch? Ich bin ein schlechter und aggressiver Mensch. Jobs, Hobbies und Beziehungen wechsle ich wie Unterwäsche, denn ich verliere an allem schnell das Interesse und bin schlichtweg unzuverlässig und egoistisch. Ich mache mir die Welt wie sie mir gefällt und alle anderen sollen gefälligst nach meiner Pfeife tanzen, sonst bekommen sie meine Launenhaftigkeit zu spüren. Jeder der mir zu nahe kommt, wird bereuen meine Bekanntschaft gemacht zu haben.

Und all das lässt sich leider nicht ändern. Ich wurde böse geboren und bin untherapierbar. Die beste Lösung für alle Beteiligten ist es, mir fern zu bleiben.

Stigma: Unter einem Stigma wird ein negativ bewertetes Attribut verstanden, durch welches der Träger von normativen Erwartungen abweicht und welches ihn in den Augen anderer derartig diskreditiert, dass er seinen Anspruch auf gesellschaftliche Gleichberechtigung verliert.

Naja, so oder so ähnlich, sehen mich viele Menschen, denen ich sage, dass ich an Borderline leide.

In Wahrheit bin ich seit über 6 Jahren in einer fürsorglichen und gesunden Beziehung mit einem Mann, der mir immer wieder sagt, es wäre unmöglich mich nicht zu lieben. Ich habe einige gute Freunde, viele davon schon seit mehreren Jahren, die hinter mir stehen und mir gerne ihre Hilfe anbieten, wenn ich sie brauche. Seit 5 Jahren studiere ich mit Eifer und Freude Psychologie und gehe seit genau so vielen Jahren einem Nebenjob nach, der mir unheimlich Spaß macht. Ich habe eine erfolgreiche Therapie hinter mir, die mir geholfen hat, meine Symptomatik einzudämmen, Stimmungsschwankungen in den Griff zu bekommen und Beziehungen aufrechtzuerhalten. Ich bin ein stinknormaler Mensch, der weiterhin jeden Tag an sich selbst und seiner psychischen Störung arbeitet.

Doch diese Störung wird stark stigmatisiert.

Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (BPS) ist durch eine Instabilität von Emotionen, Stimmungen, der Identität und zwischenmenschlichen Beziehungen gekennzeichnet.

Früher existierten für mich nur Extreme, alles war schwarz oder weiß, großartig oder desaströs. Mein Leben war eine einzige endlose Achterbahnfahrt. Ich saß angeschnallt da, fuhr auf und ab und auf und ab und konnte nichts dagegen tun. Ich konnte die Fahrt nicht steuern. Ich war in der Lage innerhalb einer Stunde das komplette Emotionsspektrum zu durchleben. Oftmals waren es Wut und Aggression, die überwogen.

Ich fühlte mich oft dazu gezwungen mich meinen immensen Gefühls- und Stimmungsschwankungen hinzugeben und litt aufgrund dessen unter heftigen Anspannungszuständen, die für mich oft extrem qualvoll und kaum auszuhalten waren. Sie verleiteten mich dazu Dinge zu tun, die meinem Körper, meinen Beziehungen und meinem Lebensweg schadeten, um die innere Spannung abzubauen.

In Zeiten hoher Symptomatik machte ich deshalb ständig Erfahrungen mit irrationalen Wutausbrüchen und paranoiden Wahnvorstellungen, unter denen besonders Lebenspartner und Freund:innen stark litten.

In diesen zwischenmenschlichen Beziehungen beherrschten die absolute Panik vor dem Verlassenwerden (mit Selbstmorddrohung bei Verlustängsten) und widersprüchlich dazu, die große Angst vor emotionaler Nähe mein Handeln. Im Umgang mit anderen Personen war und bin ich oft sehr unsicher. Es fällt mir nicht leicht einzuschätzen, wie ich auf andere Menschen und meine Umgebung wirke. Ob ich etwas Richtiges oder Falsches sage und vielleicht sogar jemanden verletze, merke ich kaum.

Diese ganzen Symptome und Verhaltensweisen sind typisch für Personen mit Borderline. Doch BPS ist, wie bereits erwähnt, ebenfalls durch etwas anderes besonders gekennzeichnet: Stigmatisierung, die sich fast nach Dämonisierung anfühlt.

In vielen Fällen können Freunde und Familie nicht einschätzen, was die Erkrankung für die Betroffenen wirklich bedeutet. Sie leiden unter dem schwierigen und chaotischen Verhalten der Borderliner:innen, fühlen sich durch ihre ungerechtfertigten Hasstiraden und Wutanfälle verletzt, können dem Hin und Her ihrer Gefühle nicht folgen und werden abwechselnd geliebt und abgelehnt. Die fortwährenden „Dramen“ und das selbstzerstörerische Verhalten sind für das Umfeld so unverständlich, dass die Erkrankten mit dem Stigma „Vorsicht: gefährlich!“ versehen werden. Die innere Wirklichkeit der Betroffenen wird nicht gesehen, die spürbaren Konsequenzen ihrer internen Zerrissenheit werden umso mehr wahrgenommen. Die Gründe für toxische Verhaltensweisen können nicht ausgemacht werden und werden deshalb der Persönlichkeit und dem Menschen an sich, und nicht der dahinterliegenden neurologischen/psychischen Störung zugeschrieben.

Obwohl Mental Health Unterstützer:innen aktiv gegen die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen kämpfen, bleibt die Borderline-Persönlichkeitsstörung eine missverstandene, oft falsch diagnostizierte und vorurteilbehaftete Störung.

Selbst mein Psychiater riet mir damals bei der Suche nach einer neuen Therapiestelle, nachdem ich zu alt für die Jugendlichenpsychotherapie wurde, am Telefon erstmal nicht zu erwähnen, dass ich Borderline habe. Ich würde es sonst schwer haben überhaupt ein Erstgespräch zu bekommen.

Denn bei vielen niedergelassenen Psychotherapeut:innen gelten Borderliner:innen als schwierig. Oft schlagen ihnen daher nicht nur von ihrer Familie oder ihren Freunden heftige negative Reaktionen entgegen, sondern sie müssen auch bei der Suche nach Therapeut:innen viele Absagen einstecken. Mit dieser Ablehnung umzugehen, ist alles andere als einfach. Einige Psychotherapeut:innen reagieren bereits auf den Anruf von Borderliner:innen mit einer unmissverständlichen Absage, andere verpassen ihnen Label wie „untherapierbar“ und „unsympathisch“.

Ich selbst machte mir vorrangig in meinem Praktikum an einer psychosomatischen Klinik ein Bild von der starken Stigmatisierung der Borderliner:innen im medizinischen Bereich. Im Pausenraum wurde regelmäßig abfällig über eben diese Patient:innen gesprochen. Anstatt den betroffenen Person helfen zu wollen, wurden oftmals Pläne geschmiedet, um Borderline:Patientinnen auf andere Abteilungen „abzuschieben“. Ich selbst traute mich nie etwas zu sagen, ich senkte stets meinen Kopf und betete, dass die Pause bald vorbei ging. Die Diskriminierung, die dort stattfand, richtete sich nie gegen mich, da meine Kolleg:innen nichts von meiner Störung wussten, doch sie tat trotzdem weh.

In Notaufnahmen und Arztpraxen erlebte ich jedoch Diskriminierung, die sich sehr wohl gegen mich richtete. Es gab eine Hausärztin, die mir riet meine Narben übertätowieren zu lassen, da sie ja ganz schrecklich aussehen würden. Und bei der Plasmaspende fragte die Ärztin, die untersuchte ob ich Plasma spenden dürfe, ob ich denn eine Gefahr für die anderen Spender:innen darstellen würde.

Als ich wegen einer Verletzung in die Notaufnahme musste, blickte man mir kaum in die Augen und sprach über meinen Kopf hinweg. Eine Schwester kam zu mir und fragte kalt „Borderlinerin?“ und griff bevor ich antworten konnte nach meinem Armen, schaute auf meine Narben, ließ meine Arme fallen und drehte sich ohne ein weiteres Wort von mir weg.

Man gab mir das Gefühl, den Notärzt:innen durch meine Selbstverletzung ihre Zeit zu stehlen. Ich fühlte mich wie eine Belastung, wie eine Patientin, die man einfach abarbeitet und so schnell es geht wieder wegschickt. Also ging ich danach mit SVV-Verletzungen nie wieder in die Notaufnahme.

Auch Studienergebnisse zu dem Thema bestätigen die starke Stigmatisierung, die ich selbst oft wahrnehmen musste, und verweisen vor allem auf die Rolle sichtbarer Krankheitsanzeichen auf das Risiko, stigmatisierenden Umweltreaktionen ausgesetzt zu sein. Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung scheinen leider zu den «Diskreditierten» zu gehören, denen wichtige Coping-Strategien wie Geheimhaltung oder selektive Vermeidung nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Betroffene können durch ihre Impulsivität und durch die fehlende Kontrolle ihrer Emotionen nicht verstecken wer sie sind. Sie können ihre Störung nicht verheimlichen und Vorurteilen somit nicht ausweichen.

Werden besonders Patient:innen mit einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ durch das psychiatrische Pflegepersonal stigmatisiert? (Breneise et al.)

Im Jahr 2020 führten Breneise et al. eine Studie durch, in welcher die Einstellungen des psychiatrischen Pfegepersonals zu Patient:innen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) (im Vergleich zu Patient:innen mit Depression) untersucht wurden. Pflegekräfte wurden angewiesen ihre persönlichen Einstellungen, ihr Gefühl von Distanz sowie ihre Emotionen zu Borderline-Patient:innen (oder depressive Patient:innen) anzugeben. Die Ergebnisse dieser Studie legten dar, dass Patient:innen mit BPS im Vergleich zu depressiven Patienten stärker abgewertet und negativer beurteilt werden.

Strategien zur Stigmabewältigung von Menschen mit Schizophrenie und Borderline-Persönlichkeitsstörung (Schulze et al., 2010)

Eine weitere Studie verglich die Eigenberichte über Stigmatisierung von Menschen mit Borderline und Menschen mit Schizophrenie. Durch diese Untersuchung wurde deutlich, dass Borderline-Patient:innen sich häufiger (67 %) mit Stigma konfrontiert sehen als schizophren erkrankte Menschen (54 %). Die Patient:innen mit Borderline berichteten, dass sie Stigmatisierung häufig im Zusammenhang mit sichtbaren Zeichen ihrer Erkrankungen (z.B Narben) erlebten und stark darunter litten nur über ihre Krankheit definiert zu werden. Die beiden Patientengruppen mit Schizophrenie und Borderline gaben außerdem an, dass versucht wird, mithilfe von Geheimhaltung und selektiver Vermeidung Stigmatisierungen zu umgehen.

Schlechte und diskriminierende Erfahrungen mit psychologischem Fachpersonal zu machen, ist für Borderliner:innen extrem problematisch, da Betroffene meiner Auffassung nach, unbedingt therapeutische und gegebenenfalls medikamentöse Hilfe brauchen, um ihre Gedanken und Konzepte zu sortieren und eine feste Identität aufzubauen.

Wir kämpfen rund um die Uhr mit der Konstruktion einer stabilen Persönlichkeit, die uns die Impulsivität und Emotionalität der Störung immer wieder einreißt. Wir wissen nicht wer oder wie wir wirklich sind, ändern unser Verhalten und Denkweise täglich und verlieren uns im eigenen Gefühlschaos.

Wie viele andere Borderliner:innen, leide auch ich dadurch stets an einem geringem Selbstwertgefühl. Das Selbstbild bröckelt und der Wechsel zwischen Selbstliebe und Selbsthass erfolgt spontan.

Hört man im Alltag nun Dinge wie „Mit Borderliner:innen möchte ich nichts mehr zu tun haben.“ oder „Ich war mal mit einer Borderlinerin zusammen, die hat mich kaputt gemacht. Nie wieder.“ oder „Mit euch kann man einfach nicht klarkommen.“ hilft es nicht wirklich beim Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls. Im Gegenteil, man fängt an zu denken „Vielleicht bin ich wirklich zerstörerisch, böse und nicht liebenswert.“

Meine Therapeutin half mir das Chaos in meinem Kopf zu ordnen, die fiesen Vorurteile über meine Krankheit auszublenden und toxische Verhaltensweisen sowie Gedanken mit gesunden Alternativen auszutauschen. Sie wusste wie sie mit mir umzugehen hat und das war nicht selbstverständlich.

Psychiatrische und psychologische Fachkräfte, die sich dafür entscheiden Menschen mit BPS zu behandeln, tun es nämlich oft ohne auf Borderline spezialisierte Ausbildung, welches Sitzungen meist frustrierend und ergebnislos für alle Beteiligten macht. Patient:innen fühlen sich dadurch oft missverstanden und verurteilt, während Therapeut:innen sich ohnmächtig fühlen und ratlos zurückgelassen werden.

BPS-Patient:innen werden dadurch schnell als ‚hoffnungsloser Fall‘ gelabelt und von Therapeut:innen fallen gelassen. Gerade wenn das passiert, können Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstörung, wegen der sich Betroffene überhaupt erst Hilfe gesucht haben, intensiviert werden. Denn wenn Menschen, die extrem unter Verlustängsten leiden, von einer Person fallen gelassen werden, die eigentlich da sein sollte, um ihnen zu helfen, kann es dazu führen, dass diese Menschen noch stärker in die BPS-Symptomatik fallen als vor der Therapie.

Nun habe ich meine Störung mittlerweile sehr gut im Griff. Ich kann sie geheim halten und verstecken, um weniger stigmatisiert zu werden.

Viele meiner Symptome habe ich in den letzten Jahren deutlich abschwächen oder sogar ganz ablegen können.

Doch versteht mich bitte nicht falsch: Auch wenn ich das alles nicht geschafft hätte und immer noch in Zeiten höchster Symptomatik leben würde, wäre ich nach wie vor ein Mensch mit Gefühlen, der Respekt, Liebe und Hilfe verdient hat, wie jeder andere Mensch auch.

Ich bin an einem stabilen Punkt in meinem Leben und genau deshalb, entscheide ich mich dafür, mein Borderline nicht geheim zu halten. Ich möchte öffentlich darüber sprechen und der massiven Stigmatisierung meiner Erkrankung mittels Aufklärung den Kampf ansagen.

Es ist äußerst einfach eine psychische Störung zu dämonisieren und zu entmenschlichen um Mitleid und Empathie für Patient:innen dadurch entbehrlich zu machen. Für unsere Mitmenschen ist es einfach uns zu verlassen oder sich erst gar nicht mit uns einzulassen, wenn man weiß, dass wir ohnehin ‚böse‘ sind und es vielleicht sogar verdienen.

Es ist einfach, uns als ‚manipulativ‘ anzusehen, wenn man die krasse Angst vor dem Alleinsein dahinter nicht sehen kann. Es ist einfach, uns als ‚aggressiv‘ anzusehen, wenn ihr nicht erkennen könnt, dass wir unseren Emotionen hilflos ausgesetzt sind. Und es ist einfach, uns als ‚böse‘ darzustellen, wenn ihr nicht sehen könnt, dass wir lediglich dem Impuls folgen, andere zu verletzen, bevor wir selbst verletzt werden.

Wir führen einen Krieg gegen unseren eigenen Kopf. Leider oft mit Kollateralschaden. Hätten wir selbst die Möglichkeit vor uns wegzulaufen, würden wir es vielleicht sogar genauso tun.

Denn eins könnt ihr uns glauben, wir wären gerne die Dämonen für die man uns hält. Wir wären gerne einfach nur böse, manipulativ, egoistisch und unfähig Gefühle zu empfinden, denn das wäre so viel einfacher für uns. Es würde uns so viel Leid abnehmen.

Doch die Wahrheit ist, wir sind Menschen. Menschen, die lieben und vermissen und fühlen. Oftmals sogar stärker als viele andere Personen. Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Menschen, beeinträchtigt in ihren Beziehungen, ihrem Denken und ihrem Handeln. Aber ansonsten, einfach nur Menschen. Und genau so wollen wir auch behandelt werden.

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