Warum wir eine neue Religion brauchen.

Der Trend ist deutlich: Groß ist die Zahl derer, die von sich sagen, sie seien spirituell, aber keineswegs religiös. Religion, das klingt nach Kirche, Dogma, Fundamentalisten oder Moralisten – Spiritualität hingegen nach Yoga, Meditation, Achtsamkeit oder gesundem Leben. Klar, wofür man sich im Zweifelsfall entscheidet. Doch bleibt dabei zumeist verkannt, was Religion ursprünglich bedeutet – und warum sie in ihrer ursprünglichen Bedeutung für uns Menschen wichtig ist: Religion vermag die Welt zu verändern. Und da die Welt sich dringend ändern muss, sollten wir die Religion zu neuen Ehren bringen. Diese Einsicht ist nicht neu …

„Es werde von Grund aus anders! Aus der Wurzel der Menschheit sprosse die neue Welt! Eine neue Gottheit walte über den Menschen, eine neue Zukunft kläre vor ihnen sich auf!“ – Nein, diese Worte stammen nicht aus einer Zeit der Pandemien, weltpolitischen Verwerfungen und ökologischen Katastrophen. Sie lagern schon eine Weile im Schatzhaus des europäischen Geistes, stammen sie doch aus der Feder eines Dichters, der vor 250 Jahren geboren wurde: Friedrich Hölderlin, der mit seinem gleichaltrigen Studienfreund Georg Friedrich Wilhelm Hegel um das Jahr 1797 noch ein anderes Wort zu Papier brachte, das zu entstauben und der Welt von heute zuzurufen sich lohnt: „Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muss eine neue Religion unter uns stiften. Sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.“

Eine neue Religion, eine neue Gottheit – was, in Gottes Namen, soll das sein? Woran dachten jene Denker in den Jahren nach der großen Revolution? Und was haben sie mit uns zu tun? Mehr als man auf Anhieb annimmt. Denn Hegel und Hölderlin lebten zu einer Zeit, in der sich die Menschen genau wie heute nach einer anderen und besseren Welt sehnten: nach einer Welt der Freiheit, Menschlichkeit und blühenden Lebendigkeit. Zunächst hatte man sie sich von den revolutionären Umbrüchen und dem Untergang der alten Welt von Königtum und Adel versprochen, doch war sie ausgeblieben. Und so fragten sich die jungen Denker am Ende einer Aufklärung, die in der Sackgasse einer „Tyrannei der Vernunft“ (Georg Forster) zu enden drohte, ob es nicht doch noch einen Ausweg geben könne. Und die Antwort, die sie fanden, ließ sich auf die Formel bringen: eine neue Religion. Denn nur eine neue Religion und eine neue Gottheit würden eine echte, dauerhafte und wahrhaft befreiende Transformation von Welt und Gesellschaft mit sich bringen.

Eine solche Transformation tut heute mehr Not denn je. Die Covid-19-Pandemie gibt zu erkennen, in welchem Maße die westlichen Gesellschaften eines geistigen Bodens ermangeln, aus dem sie die Kraft zu einer klaren und begeisternden Vision für ein Leben nach der Pandemie ziehen könnten. Uns fehlt ein geistiger Horizont, vor dem verbindliche Werte und Ziele sichtbar würden, die mehr und Besseres in Aussicht stellen als die rasche Bereitstellung eines Impfstoffes und diverser Wirtschaftshilfen, um möglichst rasch zum Alten zurückzukehren – in dessen Lichte man wenigstens die Frage stellen würde, ob es eigentlich wünschenswert ist, so weiter zu machen wie bisher.

Nicht anders verhält es sich mit Blick auf die rasanten technologischen Veränderungen, die im Schatten des Corona-Virus und durch es begünstigt um sich greifen: die rasante Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, Robotik, Gen- und Biotechnik. Elon Musk schießt wöchentlich neue Satelliten in den Orbit, um die alte Erde in den Würgegriff des Internets zu zwingen. All das findet hier und heute statt, aber rar sind die Stimmen derer, die in Frage stellen, was die Tech-Eliten uns verheißen und mit Verve verwirklichen: immer mehr Technik, immer mehr Daten, immer mehr Wissen; bei immer weniger Weisheit, immer weniger Sinn und immer weniger Lebendigkeit.

So sieht es aus in unserer Welt, und angesichts dessen darf man wohl die eine oder andere Frage stellen: „Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? …“ Auch diese Fragen sind nicht neu. Friedrich Nietzsche stellte sie im Aphorismus 125 seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ von 1882 – dem Aphorismus, in dem er einen „tollen Menschen“ rufen ließ: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!“

Da haben wir den eigentlichen Grund der mannigfaltigen Krisen der Gegenwart: Der Tod Gottes hat ein geistiges Vakuum hinterlassen, dessen verheerende Auswirkungen im 21. Jahrhundert vollends sicht- und spürbar werden. Schon 1966 sagte der viel und zu recht gescholtene Philosoph Martin Heidegger angesichts der aufziehenden Weltherrschaft von Technik und Ökonomie: „Nur noch ein Gott kann uns retten“. Er hatte Hölderlin gelesen: eine neue Gottheit, eine neue Religion. Darunter wird es nicht gehen, wenn wir nach Transformation oder gar Disruption dürsten.

Die Genannten sind sich dabei einig: Die Betonung liegt auf „neu“. Die alte Religion hat ausgedient. Der Gott der alten Religion ist wirklich tot, da er die Menschen nicht mehr anzusprechen und nicht mehr zu begeistern vermag. Seine Sachwalter haben ihn zum Schweigen gebracht. „Das Knie beugt sich nicht mehr“, sagte Hegel. Mit dem toten Gott schwinden die Religionen, die ihm huldigen: die abrahamitischen Religionen, die zwar hier und da ein fundamentalistisches Aufbäumen zeigen, von denen aber niemand mehr die Kraft zu einer durchgreifenden menschheitsverändernden Transformation erwarten kann. Zu sehr haben sie sich dafür in ihren theologischen und moralischen Dogmen eingerichtet. Für einen echten Wandel braucht es aber keine Dogmen und Moral, sondern eine andere und neue Art von Religion, die einem anderen und neuen Gott gewidmet ist. Doch wie soll das gehen?

Will man einen großen Sprung in die Zukunft tun, ist man gut beraten, weit in die Vergangenheit zurückzugehen, um Schwung zu holen. Eine neue Religion ist ein großer Sprung – und also müssen wir weit zurückgehen: in eine Zeit, in der die Sprachen entstanden. Das Lateinische zum Beispiel, dem das Wort religio entstammt. Es leitet sich her (so jedenfalls eine schon in der Antike erprobte Etymologie) vom Verbum religare, rückbinden. Religion ist demnach wesentlich nicht Glauben, Bekenntnis, Moral oder Kirche, sondern lebendige, im Kult gefeierte Rückbindung. Rückbindung woran? An Gott. Aber wer oder was ist das?

Das altgriechische Wort für Gott lautet theós. Die Sprachgeschichte lehrt, dass dieses Wort ursprünglich nicht ein Nomen war, mit dem man eine Wesenheit bezeichnet hätte, sondern ein Adjektiv, das für eine bestimmte Erfahrung des Menschen verwendet wurde: die Erfahrung, sich von der Welt angesprochen, ja in Anspruch genommen zu wissen – und zwar so, dass dieser Anspruch einem Menschen die Gewissheit stiftet, dass sein Leben und die Welt sinnvoll und bejahenswert sind: Theós rief der Grieche, wenn ihm ein guter Einfall kam, der ihn errettete oder den Sieg erringen ließ. Theósrief die Griechin, wenn ihr des Nachts im silbrigen Mondlicht ein milder Wind das Haar aus der Stirn strich. Theós rief man selbst da, wo sich der Tod ins Leben drängte und einem das Liebste nahm. Immer dann, wenn einen Menschen das Sein dieser Welt im Innersten berührte, wusste er sich angesprochen von der Gottheit: dem lebendigen Sein dieser Welt, das sich ihm als heiliges Sein der Welt enthüllte – und an das er nunmehr rückgebunden war.

Gott ist das, was uns unbedingt angeht, sagte sinngemäß der große Theologe Paul Tillich. Und Religion ist das Sich-Einlassen auf dieses Angegangen-Sein: das Sich-Einlassen auf eine Konversation mit dem Sein dieser Welt, in deren Folge es sich als heilig, als théos erweist. Wie die Gottheit heißt, ist dabei nebensächlich. Wichtig ist die Qualität des Angesprochen-Seins, die auf Seiten des Menschen Offenheit, Empfänglichkeit und Dankbarkeit voraussetzt. Sie zeigt sich in der Bereitschaft, Schluss damit zu machen, fortwährend selbst Ansprüche an Welt und Natur zu erheben, anstatt sich darauf einzulassen, was sie einem selbst zu sagen haben: unendlich viel.

Eine neue Religion im ursprünglichen Sinne der religio: Das ist, was die Welt am meisten braucht. Sie braucht eine Religion, die nicht länger die Macht und den Willen eines himmlischen Potentaten anbetet und von dort die Legitimation herleitet, selbst zum allmächtigen „Homo Deus“ zu werden, der Natur und Welt beherrscht. Eine Religion, die das Heilige in jedem Windhauch, jedem Sonnenstrahl, in jedem Lächeln eines Menschen und in jedem Flügelschlag der Vögel zu erkennen weiß. Eine Religion, die nichts anderes ist als ein offenes Gespräch mit dem, was ist: eine Konversation mit dem lebendigen Sein.

Diese Konversation findet heute kaum mehr statt. Durch den Spiritualitäts-Boom der letzten 30 Jahre ist das nicht besser geworden – manchmal sogar schlimmer. Denn gar zu oft verheddern sich die sogenannten (und oft selbsternannten) spirituellen Lehrerinnen und Lehrer der Gegenwart in Selbstbezüglichkeit und Monologik. Anstatt Menschen zur Konversation mit dem Sein zu ermutigen, unterrichten sie Spiritualität als eine Art Selbstoptimierungsmethode zur mentalen und auch physischen Gesundheit. Dann wird eifrig meditiert und Achtsamkeit trainiert – doch nicht für das, was um einen ist, sondern lediglich für sich selbst. Man geht den Weg nach innen – was nicht falsch ist, aber keinen Wandel in der Welt bewegen wird. Weil man in sich am Ende doch immer nur sich selbst trifft, aber nicht die lebendige Welt, deren Anspruch wir so dringend hören müssten, um mit unserem Sein verantwortungsvolle Antworten auf ihn zu sein.

„Viel hat erfahren der Mensch, der Himmlischen viele genannt. Seit ein Gespräch wir sind“, dichtete Hölderlin in seinen späten Jahren: Ein Gespräch zu sein – das ist die neue Religion, die er erhoffte, und die wir erhoffen sollten: eine Rückbindung, die uns in allem überall ein Du erkennen lässt, das für uns maßgeblich ist: ein Gesicht der Gottheit. Jedes einzelne Du „ist ein Durchblick“ zum „ewigen Du“, sagte Martin Buber und umriss damit die Essenz dessen, was als neue Gottheit und als neue Religion entdeckt zu werden Not tut. Denn, um es mit den Worten des englischen Romanciers D.H. Laurence zu sagen: „Vitally the human race is dying. […] We must plant ourselves again in the universe.“

(Hörbuchtipp zum Artikel "Gott ist tot, und was machen wir jetzt?" 6 Vorträge von Christoph Quarch EAN 4061707556395)

Dir gefällt, was Dr. phil. Christoph Quarch schreibt?

Dann unterstütze Dr. phil. Christoph Quarch jetzt direkt: