Eine Handreichung für Eltern und Menschen, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben.

Unsere Kinder bekommen mit, dass die Welt an einem Morgen plötzlich anders ist. Unser Blick aufs Handy, in die Zeitung oder die kleine Veränderung in unserer Mimik, die plötzliche Anspannung unseres Körpers bei den Morgennachrichten im Radio.

In Europa ist Krieg ausgebrochen. Nicht bei uns, aber doch in unserer Nähe.

Wenn der Morgen doch noch unbelastet war, so ist spätestens die Schule (vielleicht auch die Kita bei den Vorschulkindern) der Ort, wo sie etwas erfahren – was, wissen wir Eltern erst mal nicht so genau. Ältere Kinder bewegen sich in den sozialen Medien – auch da: wir wissen erst mal nicht, welche Bilder sie sehen, welche Nachrichten sie lesen.

Wir Eltern sind plötzlich – wieder (!) – gefordert, unsere Kinder in einer ungewissen, ungreifbaren und beunruhigenden Situation zu begleiten. Dabei sind ein paar Punkte zu beachten, die helfen können, Ängste aufzufangen und Sorgen einzuordnen. Kinder und Jugendliche brauchen Antworten, die ihren Gefühlen gerecht werden, jüngere Kinder anders als ältere.

Dabei ist es unabhängig, ob Kinder selbst mit Fragen oder Bemerkungen auf uns zu kommen oder ob wir von uns aus das Gespräch anbieten: wir sollten mit unseren Kindern sprechen.

Fünf Dinge sollten Sie beachten:

1. Wie geht es dir? Machst du dir Sorgen? Worüber genau? Was hast du gesehen, gehört? Hören Sie gut zu. Hören Sie „zwischen den Zeilen“. Spiegeln Sie die wahrgenommenen Gefühle und versichern Sie, dass Sie auch so empfinden. Beantworten Sie alle Fragen offen nach bestem Wissen und Gewissen. Bleiben Sie bei den Informationen, die seriöse Medien bereit stellen. Denken Sie daran: je jünger Kinder sind, umso mehr ergänzen und ersetzen sie Wissenslücken durch magisches Denken, durch Fantasiebrücken.

Mit älteren Kindern/Teenagern können wir besprechen, wo wir Informationen her bekommen, wie sie zu bewerten sind. Suchen Sie seriöse Nachrichtenapps und -sendungen in den Medien. Für Kinder ist der KIKA mit seinen altersangepassten Nachrichten und Informationssendungen hilfreich, ältere Kinder/Jugendliche können seriöse Nachrichtensendungen und Zeitungen nutzen. Sprechen Sie mit älteren Kindern/Jugendlichen darüber, was sonst noch so durch die Medien geistert, Plattformen wie TikTok etc. bergen die Gefahr unseriöser oder verstörender Bilder und Informationen. Lassen Sie Ihr Kind nicht allein damit. Schauen/hören Sie gemeinsam, sprechen Sie über das Gesehene/Gehörte. Zeigen Sie auf der Landkarte, wo die Ukraine liegt.

2. Seien Sie ehrlich – auch Sie machen sich Sorgen. Benennen Sie das. Ihr Kind spürt das, auch wenn Sie es nicht aussprechen. Kinder haben sehr sensible Antennen für Stimmungen und für unsere Gefühle, sie sind ja existentiell davon abhängig. Sie geraten in Konflikte, wenn wir Gefühle und Situationen leugnen (Ängste, Sorgen – in dem guten Glauben, unsere Kinder vor Bösem schützen zu wollen), weil sie diese dennoch spüren. Sagen Sie, dass sie sich auch Sorgen machen, Kinder fühlen sich so emotional verstanden.

3. Denken Sie an Ihr „Erbe“. Heutige Eltern gehören zu Teilen noch zur Generation der Kriegsenkel. Manche Eltern/Großeltern leben noch, die als Kriegskinder den 2. Weltkrieg erlebten, der Flucht, Tod und Bombenhagel tief in ihre Seelen geschrieben hat. Oft liegen diese Erlebnisse wie Schatten über unseren Familien, wir verstehen nicht, warum unsere Eltern oder Großeltern nicht oder nur wenig sprechen wollten über das, was wir doch spürten, in uns aufnahmen und nie verstanden. Wir verstehen u.U. nicht, warum wir (die wir doch nie Krieg erlebten) bestimmte Empfindungen haben. Diese „geerbten“ Gefühle können anspringen und das spüren auch unsere Kinder. Die ältere Generation kann jetzt sehr unruhig werden und Angst bekommen – auch das spüren die Kinder. Erzählen Sie Ihren Kindern, dass Oma und Opa sich an den Krieg erinnert fühlen, den sie erlebt haben und deswegen so komisch reagieren. Verdeutlichen Sie das an einem Beispiel aus der Lebenswelt des Kindes: wenn das Kind mal ein schlechtes Erlebnis hatte und sich später durch andere Auslöser daran erinnert fühlte. Denken Sie daran, dass wir erst lernen müssen, über den Krieg zu sprechen, unsere Eltern-/Großelterngeneration konnte zu großen Teilen nicht darüber sprechen und wir lernten mehr zu schweigen als zu sprechen.

Sprechen Sie auch und gerade über positive Wendungen, erzählen Sie vom Opa, der im Krieg war und ihn überstanden hat und nun mit seinem Enkel kuscheln kann. Erinnern Sie sich gemeinsam mit  Ihrem Kind an eine schwierigen, beängstigende Situation, die sie gut gemeistert haben. Besprechen Sie, dass Menschen im Krieg sterben können, aber dass Sie selbst und Ihre Kinder durch den Ukraine-Konflikt aktuell nicht davon bedroht sind. Verdeutlichen Sie das an Beispielen anderer kriegerischer Auseinandersetzungen, bspw. in Syrien oder Afrika, die uns auch nicht unmittelbar bedrohen.

4. Wir schaffen das – benennen Sie Lösungen und schaffen Sie Selbstwirksamkeit. Machen Sie Mut. Mit Ängsten kann man einen guten Umgang finden.

Kann Putin auch uns angreifen? Das hat er nicht vor. Deutschland gehört zur NATO und NATO-Staaten beschützen sich gegenseitig. Die Ukraine ist nicht in der NATO, aber auch dort will man den Menschen helfen.

Papa muss beruflich wegfliegen, ist das gefährlich? Nein, die Fluggesellschaften haben Umleitungen eingerichtet – so wie auf der Autobahn, wenn es eine große Baustelle gibt. Kein Flugzeug fliegt in die Richtung, in der der Krieg stattfindet.

Das Benzin wird teuer? Es wird Frühling, wir fahren Fahrrad. Damit haben wir auch gleich Bewegung.

Vermitteln Sie damit: egal was passiert – wir finden eine Lösung. Das gibt Sicherheit, die jetzt sehr wichtig ist.

Ein wichtiger Punkt der Bewältigung ist Selbstwirksamkeit. Unsere Kinder (und wir) können den Krieg nicht beeinflussen. Wir haben keine Kontrolle und bekommen Angst. Die Angst können wir aber beeinflussen und uns Entlastung verschaffen, indem wir Kontrolle über unsere eigene Situation haben. Dazu gehört:

Wir können helfen, es wird nötig sein, geflüchtete Menschen aus der Ukraine zu unterstützen. Wir können spenden. Wir können unsere hier lebenden ukrainischen Bekannten unterstützen und trösten, vielleicht hat Ihr Kind ukrainische Klassenkameraden.

Wichtig ist, mit Kindern darüber zu sprechen dass auch viele russische Familien in Deutschland leben, sicher kennt jeder auch Familien aus der Nachbarschaft, der Schule oder dem Kindergarten oder ist mit russischen Kindern befreundet. Sie sorgen sich auch über den Krieg, haben vielleicht Freunde und Familie in Russland oder der Ukraine. Es kann sein, dass auch Menschen aus Russland fliehen, weil sie Angst haben und bei uns Schutz suchen.

Wir können auf eine Friedensdemonstration gehen und zusammen mit anderen Menschen selbstgemalte Plakate für den Frieden in allen Ländern hochhalten.

Das alles können Kinder und Jugendliche mitmachen und das Gefühl erlangen, nicht vor der eigenen Ohnmacht wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen.

5. Seien Sie der Fels in der Brandung. Kinder und Jugendliche brauchen umso mehr Sicherheit in der persönlichen Beziehung, umso unsicherer und ohnmächtiger sie die Umgebung wahrnehmen. Der wichtigste Bezugspunkt sind Sie als Eltern. Bieten Sie Ihrem Kind einen festen Anker. Sie können Fragen beantworten und Gefühle auffangen. Sie können sprechen und trösten. Sie können Sicherheit geben und auf eine entlastende Alltagsroutine mit Ablenkung und positiven Meilensteinen achten. Sie können die Verantwortung für die emotionale Situation der Familie übernehmen, damit Ihr Kind nicht zu seiner eigenen Angst noch davon erdrückt wird. Denken Sie auch daran, dass Kinder nicht ständig Angst haben – sie können von ihr übermannt werden, einige Zeit später aber ganz von ihr entlastet sein und konzentriert mit etwas ganz Anderem beschäftigt sein oder fröhlich spielen.


Drei Dinge, die zu vermeiden sind:

1. „Du brauchst keine Angst zu haben“. Dieser und andere Sätze dieser Art sind Unsinn. Wir sagen sie in dem guten Glauben, Schlimmes (und „schlimme“ Gefühle) von unseren Kindern abhalten zu wollen. Dem Kind/Jugendlichen wird aber so signalisiert, dass seine Angst etwas Schlimmes, zu Bekämpfendes sei (was falsch ist), dass seine Angst unbegründet sei (was nicht stimmt) und dass es sie aufgrund eines falschen Verständnisses einer Situation habe, also dumm sei (was auch nicht stimmt).

Angst ist ein Urgefühl des Menschen, es warnt uns vor auftretenden Gefahren und setzt unseren gesamten Körper in eine Art Alarmbereitschaft, um uns schützen zu können. Angst ist ein Überlebenssignal. Krieg ist ein Auslöser von Angst, wie er unmittelbarer kaum sein kann.

Die Sorge und Angst unserer Kinder ist berechtigt und verdient, ernst genommen zu werden.

2. Gaukeln Sie Kindern keine Normalität vor. Weder die Pandemie, noch der Kriegsausbruch sind eine „normale“ Situation. Kinder wissen das, sie spüren das. Und sie reagieren darauf. Wir erkennen diese Betroffenheit an veränderten Verhaltensweisen. Sie wollen Ihr Kind schützen, auch vor schlimmen Nachrichten. Es ist aber falsch, die Realität vor unseren Kindern zu vertuschen, so zu tun, als sei alles in Ordnung und normal. Kinder nehmen diese geleugnete Realität trotzdem wahr und geraten in Verunsicherung, wenn wir so tun, als wäre nichts los. Wir beschädigen damit auch unsere Position als verlässliche und wissende kompetente Eltern. Wenn die ganze Welt komisch reagiert und Sie als Eltern so tun, als wäre alles in Ordnung… was fühlt Ihr Kind dann?

Vermitteln Sie Ihrem Kind, dass es mit seinen Gefühlen berechtigt ist, anstatt ihm zu signalisieren, dass seine Gefühle falsch seien.

3. Nicht vor dem Schlafengehen. Nicht zu jeder Zeit ist es sinnvoll, beunruhigende, belastende Themen zu besprechen. Die unmittelbare Zeit vor dem Schlafengehen ist der falsche Zeitpunkt, auch wenn Sie gerade die neuesten Nachrichten gesehen haben. Beschließen Sie den Tag immer mit etwas Positivem, Lustigem, Ablenkendem. Gewähren Sie Ihrem Kind, bei Ihnen zu schlafen, wenn es sich unsicher fühlt und beim Einschlafen Angst bekommt. Das ist normal und resultiert aus der bedrohlichen Situation. Nehmen Sie Ihr Kind gerade abends, wenn die Seele zur Ruhe kommt, in seinen Bedürfnissen wahr. In unsicheren Zeiten ist das wichtigste Bedürfnis das nach Sicherheit und Schutz.

Schlussgedanken

Bedenken Sie letztlich, dass wir alle, auch unsere Kinder, aktuell sehr dünnhäutig sind. Wir leben seit zwei Jahren in einer Pandemie mit großen Unsicherheiten und Belastungen. Nun kommt ein Krieg hinzu, den wir in seinen Auswirkungen und Gefahren für uns kaum einschätzen können.

Geben Sie Raum für diese Dünnhäutigkeit, zeigen Sie Verständnis und Nachsicht. Passen Sie gut auf Ihr Kind auf. Denken Sie daran, dass Ängste ausdrückende Verhaltensweisen eine normale Reaktion auf eine unnormale Situation sind.

Und wenn Sie glauben, dass Sie das allein nicht schaffen, suchen Sie frühzeitig Hilfe bei Jugendamt, Kirche oder Kinderarzt, Beratungsstellen oder Hilfsorganisationen.

Niemand sollte alleine durch diese Situation gehen – schon gar nicht unsere Kinder.

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