Das duale System in Deutschland hat eine lange Geschichte und ist im internationalen Vergleich ein eigentümliches Unikum. Trotz der ab den 1970er Jahren beginnenden Bildungsexpansion und der zunehmenden Akademisierung vieler Berufe stellt es einen Sonderweg der beruflichen Qualifikation und Kompetenzentwicklung dar. Einerseits geht es durch die Vermittlung einer beruflichen Identität deutlich über die in vielen Ländern verbreitete Anlernkultur hinaus, andererseits liegt der Fokus nach wie vor auf Instruktion und weniger auf wissenschaftlicher Fundierung oder der Bildung sozial-intellektueller Handlungskompetenz. Die Frage, wie betriebliche Weiterbildung in einer postmigrantischen Gesellschaft zu gestalten ist, wird dabei in erster Linie aus einer Defizitperspektive diskutiert. Bei Planung und Durchführung der Ausbildung steht die Beseitigung tatsächlicher oder vermeintlicher Wissenslücken sowie von Mängeln der schulischen Qualifikation im Fokus. Zwar ist man sich einig, dass Menschen mit Migrationshintergrund dazu beitragen könnten den Fachkräftemangel zu reduzieren, andererseits wird diese Gruppe häufig mit negativen Zuschreibungen belegt. Hierbei erfolgt leider eine wenig differenzierte Betrachtung und daraus folgend Fehlschlüsse für die Aus- und Weiterbildung.

Die Zuschreibung "Mensch mit Migrationshintergrund" verleitet zu Fehlschlüssen

Begrifflichkeiten wie Menschen mit Migrationshintergrund beschreiben scheinbar homogene Gruppen, sind jedoch unterkomplex. Hierunter fallen sowohl ankommende Flüchtlinge, wie Zugewanderte der ersten, zweiten oder ggf. weiterer Generationen. Hierzu zählen Austauschstudierende ebenso wie Spätausssiedler*innen, die in einer teilweise jahrhundertelangen deutschen Exilkultur aufgewachsen sind. Hinzu kommt eine zunehmende kulturelle Hybridität, also eine nicht geringe Zahl an Menschen, die durch mehrere Kulturen geprägt wurden. Im Zuge des postmodern turn stehen Ambiguität (Mehrdeutigkeit) und Hybridität für eine Abkehr vom binären Code der Moderne. Wurde bisher Identität aus einer eindeutigen Zuordnung zu einer Gruppe abgeleitet, werden Identitäten in der Postmoderne mehrfach und multipel gedacht (Fourotan, 2015).  Jegliche interkulturelle Ausbildung oder Pädagogik steht dann vor der Herausforderung, wie sie statische Ansichten auf identitäre Kernnarrationen von Kultur oder Nation mit den damit einhergehenden Exklusionsmechanismen überwindet statt bestärkt. Verantwortliche in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung stehen also vor der Aufgabe sich eine ausreichende interkulturelle Kompetenz aufzubauen, um mit diesen komplexen Zielgruppen umzugehen, ohne sich von Stereotypen und Vorurteilen leiten zu lassen.

Zum einen führen diese zu einer "self-fullfiling prophecy", weil sich durch Wahrnehmungsfilter vermeintlich schwierige Konstellationen tatsächlich zu bewahrheiten scheinen. Dieser Effekt lässt sich bei anderen Differenzlinien, wie dem Geschlecht, ebenfalls feststellen, wenn z.B. in der schulischen Ausbildung Stören oder aggressives Verhalten bei Jungen und Mädchen unterschiedlich sanktioniert werden. Grundsätzlich ist zu bedenken ist, dass die soziale Herkunft eine viel stärkere Bedeutung hat als die ethnische Zugehörigkeit. Raymond Bourdon (1974) hat die primären und sekundären Effekte sozialer Herkunft beschrieben, die zu Bildungsungleichheit führen. Primär heißt, dass ein starker Zusammenhang, den z.B. auch die PISA-Studien bestätigen, zwischen sozialer Herkunft des Elternhauses und der schulischen Leistung bestehen. Bedeutsamer für den Bereich der betrieblichen Ausbildung sind die sekundären Effekte, denn selbst bei gleicher Leistung werden Schüler*innen und Auszubildende aus unterer Klassenlage schlechter bewertet. Zusätzlich entscheiden sich, ebenfalls bei gleicher Leistung, Angehörige höherer sozialer Herkunft signifikant häufiger für einen höheren Bildungsweg. Übersetzt man Bourdons Erkenntnisse auf die heutige betriebliche Welt heißt das, dass Betriebe eventuell entscheidende Talente nicht entdecken und fördern, weil diese zum einen aufgrund von Stereotypen zu schlecht bewertet werden, aber auch bei der Karriereentwicklung nicht angemessen berücksichtigt werden. Erstaunlicherweise hat diese soziale Schließung wenig bis gar nichts mit ethnischen oder kulturellen Eigenheiten zu tun, sondern beruht auf Stereoptypen und Vorurteilen, die zu einer Schlechterbehandlung einzelner Personengruppen aufgrund zugeschriebener Merkmale führt.  

Menschen arbeiten an einem Tisch zusammen
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In Stereotypen sichtbar werdende generalisierende Überzeugungen münden in Vorurteilen. Diese führen als spezifische Bewertungen bzw. affektive Haltungen gegenüber einer Gruppe schließlich zu einer tatsächlichen Benachteiligung. Letztlich ist also eine Ausbildung, die interkulturelle Fragestellungen berücksichtigt, nicht ohne einen reflektierenden Bezug zu Diskriminierung, zu Fremdenfeindlichkeit oder zu Rassismus denkbar.

interkulturelle Kompetenz ist ein überfrachtetes Konzept

Hilfreich kann es dabei sein, sich von der Vorstellung einer interkulturellen Kompetenz als Wundermittel zu verabschieden. Der Kultur- und Kommunikationswissenschaftler Jürgen Bolten (2007) stellt sogar das Konzept interkultureller Kompetenz grundsätzlich in Frage, wenn er zur Diskussion stellt, ob es  überhaupt eine eigenständige interkulturelle Kompetenz geben kann. Denn nahezu alle Teilkompetenzen interkulturellen Handels, wie z.B. Ambiguitätstoleranz, Empathie oder Kommunikationsfähigkeit, haben auch in der eigenkulturellen Lebenswelt Einfluss auf den Handlungserfolg und können demnach zumindest nicht als spezifisch interkulturelle Fähigkeit bezeichnet werden. Statt zu hoffen eine neue, andersartige Fähigkeit zu entdecken, sollte es den Ausbildenden des Betriebes verstärkt darum gehen, allgemeine Handlungskompetenzen, die auch in einem speziellen, interkulturellen Kontext auftreten, zu erwerben und auszubauen.

Zentrale Kompetenzen im Widerspruch zu Konzepten der betrieblichen Aus- und Weiterbildung

Letztlich bleiben als zentrale Bestandteile interkulturellen Lernens neben dem Spracherwerb - der üblicherweise im schulischen bzw. außerbetrieblichen Bereich angesiedelt ist - vor allem Fähigkeiten übrig, die mit dem klassischen Verständnis innerbetrieblicher Ausbildung kollidieren. Es geht um Themen wie Scheitern oder Unsicherheit aushalten, Begriffe, die in den Betrieben aus anderen Kontexten durchaus vertraut klingen. Mit der konkreten Umsetzung einer geforderten Fehlerkultur oder der Anpassung an eine unsicher gewordene Welt tun sich viele Unternehmen und Führungskräfte weiterhin schwer. Die Beschäftigung mit interkulturellen Fragestellungen kann somit eine Brücke darstellen, um Fragen der Zukunftsfähigkeit in den Blick zu nehmen. Unternehmenskultur wird somit eine echte Frage von Kultur und wird aus der Social Branding und Marketingecke befreit. Verabschieden muss man sich an dieser Stelle aber von einigen romantischen Vorstellungen von Arbeit. In der Arbeitswelt von heute geht es eben nicht um ein freundschaftliches Miteinander unter Kolleg*innen, sondern um Kooperation.

Ein junger Mann beschreibt ein Whiteboard
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Der Soziologe Richard Sennett beschreibt eine wünschenswerte anspruchsvolle und schwierige Art von Kooperation. "Sie versucht, Menschen zusammenzubringen, die unterschiedliche oder gegensätzliche Interessen verfolgen, die kein gutes Bild voneinander haben, verschieden sind oder einander einfach nicht verstehen. Die Herausforderung besteht darin, auf andere Menschen nach deren eigenen Bedingungen einzugehen" (Sennett, 2012). Diese "harte Kooperation" verlangt nach einem breiten Spektrum an sozialen Fertigkeiten, die "von gutem Zuhören und taktvollem Verhalten über das­ Ausfindigmachen von Übereinstimmungen bis hin zum geschickten Umgang mit Meinungsverschiedenheiten oder der Vermeidung von Frustration in schwierigen Diskussionen" (Sennett, 2012) reichen. Die Beschäftigung mit interkulturellen Fragestellungen im Unternehmen stellt an dieser Stelle also zwangsläufig einige Paradigmen von Ausbildung in Frage. Folgt man Sennetts Argumentation weiter, hat die moderne Gesellschaft einen Charaktertyp hervorgebracht, der darauf bedacht ist, Risiken und Ängste zu verringern, die durch Unterschiede (z.B. politischer, rassischer, religiöser, ethnischer oder erotischer Natur) ausgelöst werden können. "Diese Menschen verfolgen das Ziel, Erregung zu vermeiden und sich möglichst wenig von tiefgreifenden Unterschieden stimulieren zu lassen" (Sennett, 2012). Interkulturell kompetentes Handeln bedeutet aber eben gerade nicht Vermeidung, sondern konstruktiver Umgang mit Unterschieden.  

Abschied vom Paradigma messbarer Kompetenzentwicklung

In der betrieblichen Weiterbildung orientiert sich der Kompetenzbegriff stark an dem Kriterium der Messbarkeit. Einer weit verbreiteten Definition zufolge sind  Kompetenzen, die „bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können" (Weinert, 2002,  S. 27). Kompetenzen sind demnach beschreibbare Problemlösungsfähigkeiten. Die erfolgreiche Vermittlung der Kompetenz ist mess- und beurteilbar, indem man prüft ob die zuvor definierten Problemstellungen gelöst werden können. Gerade die betriebliche Aus- und Weiterbildung ist diesem Paradigma der Messbarkeit besonders verhaftet. Geprägt von einem kognitivistischen Lernverständnis wird orientiert an Modellen des Instruktionsdesigns Ausbildung entworfen und durchgeführt, um die für die Berufsausübung notwendige Kompetenz zu erwerben. Was beim Training von Fertigkeiten wie der Bedienung von Maschinen oder dem Erlernen komplexer Tätigkeiten wie dem Ablauf einer Kundenberatung gut funktioniert, erscheint bei der Begegnung unterschiedlicher Kulturen schwer denkbar. Instruktionsdesign, das nach der binären wenn-dann Logik funktioniert, stößt an Grenzen und muss um konstruktivistische Ansätze erweitert werden.

Neue Formen betrieblichen Lernens als Wegweiser

In der Praxis kann dann interkulturelles Lernen der Wegweiser in neue Methodiken der betrieblichen Aus- und Weiterbildung sein. In vielen Betrieben werden aktuell neue Formen der Aus-, Fort und Weiterbildung ausprobiert und in die betrieblichen Prozesse implementiert. Diese enthalten Elemente aus dem Coaching, dem Mentoring oder aus der kollegialen Fallberatung, sie organisieren neue "communities of practice", die Wissenstransfer, Kollaboration und gemeinsames Lernen fördern. Ausgegebenes Ziel dabei ist häufig "Silo-Denken" aufzulösen. Was in vielen Managementtheorien jedoch übersehen wird, ist, dass die zunehmende Verkürzung von projektorientierten Zusammenarbeitsintervallen das "Silo-Problem" verschiebt. Durch die Ausrichtung auf kurzzeitige Tätigkeiten ziehen sich Beschäftigte in sich selbst zurück und lassen sich nicht auf Probleme ein, die nicht unmittelbar in ihren Arbeitsbereich fallen, "erst recht nicht auf Menschen, die innerhalb der Institution etwas anderes tun" (Sennett, 2012). Der Versuch von Partizipation und Kollaboration scheitert häufig an der Vorstellung das "eine", das verbindende Element zu finden. Hier stellt sich die Frage nach der Unternehmenskultur, an der sich letztlich auch die Aus- und Weiterbildung ausrichtet.  Bleibt diese dem Paradigma einer anzustrebenden Homogenität verhaftet und verfolgt weiter Verklärungen wie die einer "Belegschaftsfamilie" oder wird eine Unternehmenskultur angestrebt, die Heterogenität, Pluralität und Diversität als Faktum und Bereicherung ansieht. Hieraus entstünde dann einerseits die Aufgabe Aushandlungsprozesse zu fördern und zu organisieren, andererseits die Chance auf neue Entwicklungsoptionen. So werden viele Methoden aus dem agilen Projektmanagement, die mit großen Schwierigkeiten bei der Einführung zu kämpfen haben, schlüssiger, wenn Sie aus der Fessel des alles beherrschenden Themas Digitalisierung befreit werden. Die viel beschworene Mindset-Änderung erfolgt dann im Kontext von Kultur und nicht als Zwang der Digitalisierung. Es geht im Kern  darum eine Kultur der Pluralität zu fördern, worunter dann zwangsläufig auch die digitale Kultur fällt. Der Aus- und Weiterbildung kommt eine entscheidende Rolle zu, um einen transkulturellen Umgang mit Pluralität zu integrieren. Wenn Multikulturalität ein Konzept ist, dass das Bild einer additiven Pluralität befördert, Interkulturalität hingegen das Bild interagierender Pluralität, dann verweist Transkulturalität etwa im Ansatz der transkulturellen Pädagogik auf sich überlagernde Pluralität (Mecheril, 2020). Diese Aufgabe der Zukunft, muss dabei nicht von außen angestoßen werden, sondern wird sinnvollerweise als Prozess von innen heraus gestaltet. Wie alle Projekte zur "Zukunft der Arbeit" lassen sich Veränderungen, die das Miteinander von Beschäftigten betreffen, am Besten mit den bzw. durch die Mitarbeitenden entwickeln. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen stehen hier etliche Förderprogramme des Bundes, wie unternehmensWert:Mensch, oder der Länder, wie z.B. die Potenzialberatung in NRW zur Verfügung. Zusammenfassend kann man feststellen, dass sich für Betriebe und speziell die Ausbildungsabteilungen spannende Aufgaben ergeben, wenn man die multiethnische und multikulturelle Zusammensetzung der Belegschaft zum Thema macht. Von einem "Defizitansatz" befreit sowie konsequent zu Ende gedacht und durchgeführt, ergeben sich neue Chancen auf eine Unternehmenskultur, die den Herausforderungen der Zukunft besser gewachsen ist. Interkulturelles Lernen zeigt Strategien auf, mit Unsicherheit, mit Unterschieden und mit Konflikten umzugehen, gerade weil es nicht für alles eine Lösung anbieten kann, sondern die Möglichkeit des Unlösbaren thematisiert. Es zeigt den Weg zu neuer Kollaboration, weil es auch die Möglichkeit des Nebeneinander betrachtet und nicht zwanghaft ein Verschmelzen oder "Unit-Building" verlangt. Interkulturelles Lernen stellt jedoch immer die Frage nach der eigenen Kultur und erfordert auch im betrieblichen Kontext den Blick in den Spiegel. Wer bin ich und wer will ich sein?  

Literaturverzeichnis:  

Bolten, J. (2007). Interkulturelle Kompetenz [Online-Ausg.]. Erfurt: Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen

Boudon, R. (1974). Education, Opportunity, and Social Inequality. Changing Prospects in Western Society. New York: Wiley & Sons.

Foroutan, N. (2015) Die Einheit der Verschiedenen: Integration in der postmigrantischen Gesellschaft [Online]. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung

Mecheril, P. (2020). Kulturelle Differenz. In G. Weiß & J. Zirfas (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie. Wiesbaden: Springer VS.

Sennett, R. (2012). Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Berlin: Hanser

Weinert, F. E. (2002). Vergleichende Leistungsmessung in Schulen - eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In F. E. Weinert (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen (Beltz Pädagogik, 2., unveränd. Aufl.). Weinheim: Beltz.

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