Diesen Mittwoch hat der Bundestag auf Vorschlag der Regierungskoalition die Einberufung des ersten offiziellen Bürgerrates beschlossen; thematisch soll es zunächst um Ernährungspolitik gehen. Am Ende des Beratungsprozesses des Rates sollen Handlungsempfehlungen an die Politik stehen. Solche Bürgerräte erfreuen sich in weiten Teilen des politischen Spektrums großer Beliebtheit und werden längst als vermeintliches Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit und geringe Wahlbeteiligung angepriesen. So fordern auch die selbsternannten Aktivisten der sog. „Letzten Generation“ die Einsetzung eines noch machtvolleren „Gesellschaftsrates“. Derartige Wohlfühlprojekte lösen allerdings weder die Probleme der repräsentativen Demokratie, sondern stellen vielmehr Parlamentarismus und Repräsentation an sich in Frage.
Die Idee in Kurzversion
Bürgerräte sollen sich aus „Otto-Normalbürgern“ zusammensetzen, die nicht gewählt, sondern per Losverfahren ausgewählt werden und insgesamt als verkleinertes Abbild der Gesellschaft fungieren. Die im Falle des aktuellen Projekts 160 Teilnehmer diskutieren dann hinter verschlossenen Türen eine gewisse Zeit lang und fassen die Ergebnisse dieser Deliberation zum Schluss in einer Stellungnahme an die Politik zusammen. Bürgerräte beschließen demnach keine eigenen Maßnahmen oder üben gar Staatsgewalt aus – ein solches Konzept wäre wohl angesichts der Entscheidung des Grundgesetzes für eine parlamentarische Demokratie auch ziemlich eindeutig verfassungswidrig. Sie formulieren bloße Empfehlungen, die die Politik berücksichtigen kann, oder eben nicht. Bekannt ist das Konzept unter anderem bereits aus Frankreich, wo ein vom damaligen Premierminister Édouard Philippe eingerichteter Bürgerrat („Convention citoyenne pour le climat“) im Jahr 2020 umfangreiche Vorschläge zur Klimapolitik formuliert und der Regierung übergeben hat. Vor diesem Hintergrund hat sich sogar CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble für die Einsetzung eines Bürgerrates ausgesprochen. Eine solche Beteiligungsform könne „das Vertrauen in die Politik stärken und der repräsentativen Demokratie neue Impulse geben“.
Falsch verstandene Repräsentation
Befürworter monieren zwar, der Bundestag habe sich in seiner Zusammensetzung zu weit von den Wählern entfernt, ja er „repräsentiere“ sie nicht einmal mehr, weil etwa die meisten Abgeordneten männlichen Geschlechts sind oder eine juristische Ausbildung absolviert haben. Um diese vermeintlichen Defizite auszugleichen, müsse ein „Querschnitt“ der Bevölkerung mittelbar an der Entscheidungsfindung beteiligt werden. Dabei übersieht jedoch sogar der ehemalige Bundestagspräsident offenbar, dass ein Bürgerrat mit Repräsentation eigentlich überhaupt nichts zu tun hat. Das Konzept Repräsentation meint die Vertretung des politischen Willens des Demos im Parlament, nicht jedoch die personelle Replikation der Sozialstruktur der auf dem Staatsgebiet lebenden Bevölkerung. Die Bestimmung der Mitglieder des Rates auf Basis einer Abbildung der Bevölkerungsstruktur rekurriert jedoch erneut auf diesen Gedankengang, der ebenso falsch wie gefährlich ist. Informierten Beobachtern des Zeitgeschehens wird er bereits bekannt vorkommen: Die Befürworter sog. Paritätsgesetze bedienen sich zur rechtspolitischen und verfassungsrechtlichen Legitimation dieser Vorhaben ebenjener pseudorepräsentationstheoretischen Logik. Solche Gesetzesvorhaben steht gleichwohl die Verfassungswidrigkeit nicht nur auf die Stirn geschrieben, sondern sie schlagen mit voller Inbrunst die Axt der Ideologie in die Tragpfeiler des Grundgesetzes und damit unserer Demokratie. Genau so sehr wie der Spiegelbildlichkeitsgedanke setzt sich geplante Besetzung des Bürgerrates mit Ausländern in Widerspruch zum Repräsentationsprinzip: Souverän und Legitimationssubjekt der Staatsgewalt ist einzig und allein das deutsche Volk. Aus genau diesem Grund ließe sich ein sog. Ausländerwahlrecht nicht einmal in Gestalt einer Verfassungsänderung einführen. Die eingangs aufgegriffene Kritik verkennt bereits die Funktionsweise einer repräsentativen Demokratie an sich und bildet damit den völlig falschen Ausgangspunkt für eine Problemdiagnose.
Systemkonforme Beteiligungsmöglichkeiten und Alternativen
Der politische Prozess bewegt sich in Deutschland primär in den Bahnen den Parlamentarismus. Die Wahlen zum Deutschen Bundestag und mittelbar auch jene zu den Landesparlamenten bieten den Bürgern die Möglichkeit, eigene Ansichten zum Ausdruck zu bringen und an der Ausübung von Staatsgewalt teilzuhaben. Gewiss ließe sich viel an der gegenwärtigen politischen Situation oder fehlender Repräsentation diverser politischer Ansichten im Parlament kritisieren. Diesen augenscheinlichen Defiziten lässt sich neben der Teilnahme an Wahlen als gewissermaßen neuralgischem Punkt unserer Demokratie auf ganz unterschiedliche Art und Weise begegnen: Der Gründung von oder dem Engagement in Parteien, die Art. 21 GG nicht ohne Grund mit einem verfassungsrechtlichen Status ausstattet, die Formulierung von Petitionen, ein uraltes, ebenfalls in Art. 17 GG mit Verfassungsrang ausgestattetes Bürgerrecht, oder etwa der Teilnahme an Demonstrationen als „Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie“ (BVerfGE 69, 315 [347]), wie das Bundesverfassungsgericht im Brokdorf-Beschluss vor nunmehr fast vier Jahrzehnten unter Verweis auf den Staatsrechtler Konrad Hesse treffend feststellte. Diese Aufzählung ist obendrein bei Weitem nicht abschließend.
Daneben stellt sich die Frage nach systemimmanenten Lösungskonzepten: Ist es nicht vielleicht auch Aufgabe der Abgeordneten und Parteien, fehlender Bürgernähe und Vertrauensverlusten entgegenzuwirken? Die bundesweit 299 Wahlkreise ermöglichen zumindest den direkt gewählten Abgeordneten zum Beispiel eine unmittelbare Kontaktaufnahme zu den Bürgern. Die Erweiterung des politischen Prozesses um einen Bürgerrat birgt zusätzlich die Gefahr, dass Mitglieder des Bundestages bei der Umsetzung ihrer Politik schlicht auf dessen Empfehlungen verweisen. Abgeordnete könnten sich praktisch der Zurechnung ihrer Politik entziehen und würden so ihre grundgesetzlich vorausgesetzte Verantwortlichkeit vor dem Wahlvolk verzerren. Selbst, wenn man eine Erweiterung um weitere Beteiligungsformen befürwortet, stellt sich allen deutschen Vorbehalten zum Trotz die Einführung direktdemokratischer Elemente nach Schweizer Vorbild doch als wesentlich eleganterer Behandlungsversuch dar, denn sie gibt zumindest nicht das repräsentative Prinzip auf. Ohne sich sogleich auf die schwierige Ebene der direktdemokratischen Entscheidung von Sachfragen zu begeben, lässt sich dies jedenfalls in Personalfragen versuchen. Hierfür genügt ein Blick nach Österreich: Eine Direktwahl des Bundespräsidenten ist keine undenkbare oder mit unserem politischen System inkompatible Form der Volksbeteiligung.
Des Pudels Kern
Bei näherem Hinsehen werden mit solchen Räten ohnehin gänzlich andere Ziele verfolgt. Für die radikalen Forderungen etwa der „Letzten Generation“ gibt es keine politischen oder gesellschaftlichen Mehrheiten. Solche Aktivistengruppen sind sich dessen auch bewusst, sodass sie neben der zu „zivilem Ungehorsam“ erklärten Begehung von Straftaten nach weiteren außerparlamentarischen Alternativen zur Umsetzung ihrer Ziele suchen. Bei der Zusammensetzung des geforderten „Gesellschaftsrates“ böten sich viele Möglichkeiten, unter dem Deckmantel eines „Deutschlands im Kleinen“ (so das Projekt „Bürgerrat Klima“) durch eine gezielte Auswahl bestimmter Personengruppen oder Individuen ein gewünschtes Beratungsergebnis zu präjudizieren. Daneben mag eine tendenziöse und manipulative Beratung durch sorgfältig ausgewählte „Experten aus Wissenschaft und Praxis“ das Ergebnis der Tagungen ebenso im Sinne fundamentalistischer Aktivisten oder womöglich diverser Lobbygruppen beeinflussen. Wie erfolgreich eine entsprechende Suggestionstaktik wäre, bleibt abzuwarten. Fest steht jedenfalls, dass die Interessenlage aufseiten der Befürworter radikaler „Klimaschutz“-Maßnahmen offenkundig ist: Es geht im Kern überhaupt nicht um eine Stärkung der Demokratie, sondern um deren Schwächung im Zuge einer Umgehung des Mehrheitsprinzips.
Ein Bürgerrat wäre damit lediglich ein scheinlegitimatorisches und etwa den Proponenten radikaler Klimaschutzmaßnahmen willkommenes Mittel, die Umsetzung der eigenen Forderungen praktisch durch die „Hintertür“ pseudorepräsentativer Beratung und am Parlament vorbei zu erzwingen. Es geht nicht darum, Probleme wie Politikverdrossenheit wirklich zu bekämpfen. Hierfür könnte man – wie bereits vorgeschlagen – ebenso gut die zweifelsohne eher beschränkten plebiszitären Möglichkeiten des Grundgesetzes ausschöpfen und konsultative Volksbefragungen oder in beschränkter Form Volksabstimmungen durchführen, aber solche Visionen stoßen den Aktivisten offenbar auf. Im Ergebnis ist die Forderung nach solchen Beteiligungsformen vor allem ein Ausdruck der fehlenden Akzeptanz parlamentarischer Entscheidungen, mangelnder Kompromissfähigkeit und der (In-)Existenz politischer Mehrheiten für die eigene Sache. Hinter der bunt bemalten Maske einer Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten der Wähler im Stile eines „Mehr Demokratie wagen“ (Willy Brandt) verbirgt sich die hässliche Fratze einer demokratiefeindlichen Verabsolutierung eigener weltanschaulicher Vorstellungen und eine rein machtpolitisch motivierte Strategie der Implementation dieser Vorstellungen.
Fazit und Ausblick
Bürgerräte sind kein „Demokratieverstärker“, sondern entpuppen sich vielmehr als „Demokratiestörer“, indem sie sich konzeptionell in Widerspruch zur repräsentativ-parlamentarischen Demokratie setzen. Ein Hintergrund scheint wohl wieder einmal ein weit verbreitetes falsches Verständnis von Repräsentation zu sein. Die Zusammensetzung des Bundestages muss gerade keinen Querschnitt der Gesellschaft bilden, sondern nur die politischen Interessen der Wähler vertreten. Proportional zu seiner weiten Verbreitung verhält sich das Gefahrenpotenzial dieses Gedankens. Bei konsequenter Umsetzung könnte man sich Wahlen auch gleich sparen und die Zusammensetzung des Bundestages per Algorithmus berechnen und schlicht durch das Statistische Bundesamt festlegen lassen. Vielen Befürwortern dieses Konzepts sind aber wohl ohnehin keine achtenswerten Motive zu attestieren, sondern eher eine grundlegende Missachtung von repräsentativer Demokratie und Parlamentarismus: Der demokratiefreundliche Pudel entpuppt sich schnell als demokratiefeindlicher Mephistopheles.
Bild: © Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Extinction_Rebellion_Solidarity_with_the_French_Citizens_Assembly_on_Climate_(51168410590).jpg
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