von Ruprecht Polenz
Wir sehen die schrecklichen Bilder vom Flughafen in Kabul. Verzweifelte Menschen versuchen, sich vor den Taliban in Sicherheit zu bringen.
Viele von ihnen haben als sog. Ortskräfte für die 53 Nationen gearbeitet, die am Afghanistan-Einsatz der NATO in den letzten 20 Jahren beteiligt waren. Als Dolmetscher, ziviles Personal in den Feldlagern der ausländischen Streitkräfte oder zur Unterstützung der vielen Organisationen, die im ganzen Land Entwicklungshilfe geleistet haben: Krankenhäuser, Schulen, Infrastruktur.
Diese Ortskräfte und ihre Familienangehörigen sind jetzt in großer Gefahr. Sie müssen die Rache der Taliban fürchten, weil sie für die „ausländischen Besatzer“ gearbeitet haben. Sie haben für ihr Land gearbeitet und für uns. Deshalb trägt Deutschland - ebenso wie die anderen, am Einsatz beteiligten Nationen - eine besondere Verantwortung für ihre Sicherheit.
Kein Plan C für den Notfall-Exit
Ich bin enttäuscht und zornig darüber, dass es offensichtlich keinen Plan C für den Notfall gab, der jetzt eingetreten ist. Auch wenn man einen solchen Exit vor Jahren für ausgeschlossen gehalten hat, hätte man trotzdem als worst case vorbereiten müssen, wie die Ortskräfte für den Fall der Fälle ausreisen und in Sicherheit gebracht werden können. Die notwendigen Papiere, Sicherheitsüberprüfungen und Listen der möglicherweise zu Evakuierenden hätte man viel früher anlegen und ständig fortschreiben müssen.
Im Februar 2020 hatte Trump seinen „Deal“ mit den Taliban abgeschlossen:
https://www.dw.com/de/usa-und-taliban-unterzeichnen-abkommen-in-doha/a-47720466
Vollständiger Abzug der amerikanischen Truppen binnen 14 Monaten, gegen die Zusage eines Waffenstillstands der Taliban gegenüber den USA. Die afghanische Regierung war an diesen Gesprächen nicht beteiligt. Trump stimmte sich auch mit den Verbündeten der USA nicht ab bei diesem "Deal", den er als Friedensabkommen verkaufte.
2020: Der "Deal" mit Trump stärkt die Taliban
Damit waren die Würfel gefallen. Die Taliban, die in vielen Teilen des Landes über eine „Schattenverwaltung“ verfügen, die „Steuern“ und andere Abgaben erpresst, gingen in die Offensive. Schon bald kontrollierten sie immer größere Teile des Landes.
Auch wenn niemand gedacht hätte, dass es so schnell gehen würde, war doch mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass es nach dem Abzug der USA eine Frage von wenigen Monaten sein könnte, bis die Taliban die Herrschaft an sich gerissen hätten.
Die Bundesregierung hätte deshalb auch das Verfahren der Familienzusammenführung verändern müssen.
https://taz.de/Familiennachzug-aus-Afghanistan/!5791409/
Es war doch ersichtlich, dass die afghanischen Ehepartner deutscher Staatsangehöriger die deutsche Sprache nicht mehr in Afghanistan würden lernen können, um die Voraussetzungen für ein Einreisevisum zu erfüllen. De facto hat die Bundesregierung durch das Festhalten an dieser Regel gegen die grundgesetzliche Pflicht verstoßen, Ehe und Familie besonders zu schützen (Art. 6 Abs. 1 GG).
Fehlende Fürsorge für Ortskräfte und Familienzusammenführung
Im Mai habe ich einen Appell an die Bundesregierung unterschrieben, sich jetzt endlich um die Ortskräfte und ihre Sicherheit zu kümmern.
Das Patenschaftsnetzwerk für Ortskräfte der Bundeswehr geht von ca 8000 Ortskräften und ihren Familien aus, um deren Sicherheit es geht.
Wieviele von ihnen bisher nach Deutschland gebracht werden konnten, läßt sich nicht genau sagen. Es waren jedenfalls zu wenig, die noch zu einem Zeitpunkt nach Deutschland gebracht wurden, als das gefahrlos möglich war.
Dank für außergewöhnliche Leistung der Bundeswehr bei der Evakuierung
Die Soldat:innen der Bundeswehr leisten jetzt Außergewöhnliches, um trotz sehr gefährlicher Bedingungen so viele von ihnen zu retten, wie nur irgend möglich. 5.373 Personen haben sie bisher ausgeflogen. Dafür gebührt ihnen Dank und große Anerkennung.
Neben den Ortskräften und ihren Familien sind die Afghanen besonders gefährdet, die sich für die Demokratisierung ihres Landes eingesetzt haben: als Menschenrechtsaktivist:innen, Lehrer:innen, Richter:innen, Künstler:innen. Frauen, die sich am öffentlichen Leben beteiligt haben, müssen Schlimmes von den Taliban fürchten.
In wenigen Tagen wird zunichte gemacht, was über 20 Jahre aufgebaut wurde. Das Ziel der 53 Nationen, die an dem Einsatz in Afghanistan beteiligt waren, wurde nicht erreicht: ein stabiles Land, in dem alle Afghan:innen sicher und in Frieden leben können.
https://www.bmvg.de/de/aktuelles/rede-anlaesslich-der-veranstaltung-neue-weltunordnung-5212270
Aber aus dem Versuch, dieses Ziel zu erreichen, erwächst auch eine Verantwortung gegenüber den Afghan:innen, die sich mit uns dafür engagiert haben. Sie haben etwas riskiert, nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001. Denn die Taliban waren ja nie völlig von der Bildfläche verschwunden, sondern wollten durch ungezählte Terror- und Selbstmordanschläge, die tausende unschuldiger Opfer forderten, einen demokratischen Staatsaufbau verhindern.
Verantwortung für Gefährdete, die sich bisher nicht retten konnten
Viele, die nicht unter einer Schreckensherrschaft der Taliban leben wollen, werden in den nächsten Monaten und Jahren irgendwie versuchen, aus Afghanistan zu fliehen. Deutschland sollte sich mit anderen aufnahmebereiten Staaten wie Kanada, Großbritannien und den USA zusammentun, um ein groß angelegtes, internationales Resettlementprogramm auf die Beine zu stellen, koordiniert vom Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. So wie einst im Fall der Vietnam-Flüchtlinge,
1979 startete Rupert Neudeck mit der Cap Anamur ins südchinesische Meer. Denn hunderttausende Vietnames:innen hatten sich nach dem Ende des Vietnam-Krieges auf die Flucht vor den Kommunisten des Nordens gemacht. 840.000 von ihnen erreichten in Booten die Flüchtlingslager in der Region. Viele, die es auch versucht hatten, ertranken im Meer oder wurden von Piraten überfallen. Rupert Neudeck gelang es, mit seiner Cap Anamur mehr als 11.000 vietnamesische Bootsflüchtlinge zu retten.
Wie 1979 bei der Rettung vietnamesischer Boat People
Nach anfänglichem Zögern der damaligen Bundesregierung unter Helmut Schmidt hatte sich auch Deutschland bereit erklärt, zehntausende Flüchtlinge aus Asien aufzunehmen. Den Durchbruch brachte damals Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), der angesichts der Bilder von verzweifelten Menschen erklärt hatte, Niedersachsen sei bereit, notfalls im Alleingang 1000 Flüchtlinge aus Vietnam aufzunehmen. So kamen 1978 die ersten Bootsflüchtlinge direkt aus Malaysia, wohin sie sich gerettet hatten, nach Hannover. Die Junge Union schlug vor, 50.000 vietnamesische Flüchtlinge aufzunehmen.
Der Rat der Stadt Münster beschloss auf Antrag der CDU einstimmig, über das zugewiesene Kontingent hinaus weitere 100 Vietnamesen aufzunehmen. Zwei Sozialarbeiter wurden eingestellt, um die Integration zu erleichtern.
Die Aufnahme der vietnamesischen Flüchtlinge ist eine humanitäre Erfolgsgeschichte. Das sollte uns jetzt ermutigen, wenn es um afghanische Flüchtlinge geht.
Die Bereitschaft, auch jetzt wieder zu helfen, ist groß. Als erstes Bundesland hat Nordrhein-Westfalen zusätzlich zu den 800 Plätzen für Ortskräfte aus dem Krisengebiet weitere 1000 Plätze für Frauen aus Afghanistan zur Verfügung gestellt.
Damit wolle man, so Ministerpräsident Armin Laschet, schnellstmöglich besonders bedrohten Bürgerrechtlerinnen, Menschenrechtsaktivistinnen, Künstlerinnen, Journalistinnen und anderen mit ihren Familien in Deutschland eine sichere Unterkunft bieten.
Weitere Flüchtlinge aus Afghanistan werden folgen. Wir sollten sie auch in Münster und vielen anderen Städten und Gemeinden in Deutschland gut aufnehmen. So, wie vor vierzig Jahren die Bootsflüchtlinge aus Vietnam.
(Die hier leicht überarbeitete Kolumne erschien zuerst in RUMS - neuer Journalismus für Münster. Bitte unterstützen Sie nicht mich, sondern das Tent of nations http://www.tentofnations.org )
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