Neuerdings gibt es Menschen, die alles wissen. Man stellt ihnen eine Frage und binnen Sekunden sind sie in der Lage, mit der passenden Antwort aufzuwarten. Dass sie es bei „Wer wird Millionär?“ trotzdem noch nicht zu einem großen Vermögen gebracht haben, liegt daran, dass sie zum Abrufen ihres umfassenden Wissens eines kleinen technischen Hilfsmittels bedürfen, das es ihnen erlaubt, in Echtzeit den planetarischen Wissensspeicher namens Internet abzurufen – was bei landläufigen Quiz-Spielen als Regelverstoß gilt.

Doch warum eigentlich? Welchen Unterschied macht es, ob jemand zur Beantwortung einer Frage den neuronalen Speicher des eigenen Gehirns abruft oder dazu auf die digitalen Speichermedien des World Wide Web zugreift. Solange die gegebene Antwort korrekt ist, kann es dem Frager doch herzlich egal sein, aus welchem Winkel des Universums der Befragte sein Wissen kramt? Ist es aber nicht. Irgendwie weckt es ein Unbehagen, provoziert es einen inneren Widerstand, maschinell reproduziertes Wissen als gleichwertigen Partner desjenigen Wissens anzuerkennen, von dem die Altvorderen glaubten, es verdanke sich der Mnemosyne: unserem Gedächtnis bzw. Erinnerungsvermögen. Aber noch einmal: Warum eigentlich?

Man möchte anführen, das maschinell reproduzierte Wissen habe seine Schwäche darin, unter mangelnder Verlässlichkeit zu leiden. Ein leerer Akku, und vorbei ist’s mit der Herrlichkeit der Alleswisser. Aber „ein leerer Akku“ in Gestalt von Müdigkeit mag auch die grauen Zellen unseres neuronalen Speichers lahmzulegen. Das allein ist es also nicht. Hinter dem Unbehagen steckt vielmehr eine Ahnung – oder besser: eine Erinnerung – die Erinnerung, dass Wissen mehr ist als bloß eine Abfrage von Daten, mehr als das Verfügen über verlässliche, reproduzierbare, verifizierbare Informationen.

Womit wir vor einer Frage stehen, die den menschlichen Geist von Kindesbeinen umgetrieben hat: Was ist Wissen? Wie lässt sich dem wunderlichen und faszinierenden Phänomen beikommen, dass Menschen über die kognitive Fähigkeit verfügen, zuverlässige Informationen und Kenntnisse über sich und die Welt zu erwerben, abzurufen und anzuwenden? Was meinen wir eigentlich, wenn wir für uns oder andere den Anspruch erheben, über Wissen zu verfügen?

Einer, der keinen Anspruch auf Wissen erhob, war Sokrates. Er, die Gallionsfigur der westlichen Philosophie, prägte einst das geflügelte Wort: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ und bekundete damit eine gewisse intellektuelle Bescheidenheit. Aber nicht nur das, denn indem er die paradoxe Formulierung wählte, einerseits nicht zu wissen, andererseits aber über eben dieses Nicht-Wissen Bescheid zu wissen, stellte er unter der Hand die seinerzeit landläufigen Vorstellungen und Konzepte von Wissen überhaupt in Frage. Und da diese den unsrigen im 21. Jahrhundert keineswegs unähnlich sind, lohnt es, einen Augenblick auf Sokrates und seine epistemologische Skepsis zu verwenden.

Dafür müssen wir uns den Hintergrund des sokratischen Bonmots ins Gedächtnis rufen. In Platons „Apologie des Sokrates“ lässt dieser seine Athener Ankläger wissen, einst habe sein Freund Kleinias das delphische Orakel befragt, wer der weiseste aller Menschen sei. „Sokrates“ habe die Pythia geantwortet, was der solcherart Gepriesene aber nicht glauben wollte, weshalb er sich angeschickt habe, dem Gott – d.h. Apollon, dem das Orakel gehörte – das Gegenteil zu beweisen, indem er seine als „Wissende“ in Ruf und Ansehen stehenden Mitbürger aufsuchte, um im Vergleich mit ihnen seine eigene Unwissenheit zu erweisen.

Der Versuch misslang, denn die vermeintlich Wissenden konnten der Dialogkunst des Sokrates nicht standhalten. Das erweckte nicht nur deren dauerhaften Unmut, es wirft auch die Frage auf, was das eigentlich für ein Wissen ist, das diese Menschen für sich in Anspruch nahmen und unter den Fragen des Sokrates zusammenbrach. Liest man die Platonischen Frühdialoge, die uns Sokrates in Aktion vor Augen führen, erkennt man sogleich, dass es sich bei dem vermeintlichen Wissen der von ihm Befragten um eine Art Expertenwissen handelt. Ob der Stratege Nikias oder der Priester Euthyphron: diese Leute erheben den Anspruch, in einem bestimmten Fachgebiet herausragende Kenntnisse zu besitzen.

Dabei stellt Platon, dessen literarischem Genie wir diese Texte verdanken, keineswegs in Frage, dass es so etwas wie Expertenwissen gibt. Diese Form des Wissens – das gilt heute genauso wie vor 2500 Jahren – zeichnet sich dadurch aus, dass es in verlässlichen, verifizierbaren und vermittelbaren Aussagen zur Sprache gebracht werden kann. Es ist ein Wissen über Sachverhalte, meist verifiziert durch wissenschaftliche Forschung, statistische Erhebung oder andere formalisierte Verfahren, die von einer weltweit agilen Scientific Community als Standard anerkannt sind. Dieses Wissen kann in Lehrbüchern und Lexika versprachlicht und bei Bedarf auf konkrete Situationen hin operationalisiert werden. Wer dies zu leisten vermag, darf sich mit Fug und Recht Experte nennen – und auf einen Lehrstuhl an einer wissenschaftlichen Hochschule hoffen.

Nicht hoffen kann er allerdings darauf, einer Sokratischen Prüfung standzuhalten. Denn die Fähigkeit, in Aussagen vermittelbares, propositionales, theoretisches Wissen abrufen zu können, macht in den Augen des alten Atheners noch keinen Wissenden. Das aber nicht deshalb, weil solches Wissen genauso gut per Smartphone oder iPad abgerufen werden könnte, sondern weil ihm eine entscheidende Komponente fehlt, die aus der bloßen Kenntnis von Information echtes Wissen macht – eine Komponente, die sich der einfachen Versprachlichung ebenso entzieht wie der Digitalisierung: die Komponente des Verstehens.

Was Sokrates an den Ausführungen seiner Gesprächspartner störte, war nämlich der Umstand, dass sie bei aller Expertise und Kompetenz nicht zu sagen vermochten, worin der Sinn des von ihnen Gewussten besteht: was das Gut-Sein des von ihnen Gewussten ausmacht. Allein eine wissenschaftlich verifizierte Aussage über einen Sachverhalt treffen und darin dem alten Wahrheitskriterium der Adequatio intellectus ad rem (Entsprechung des Geistes mit der Sache) Genüge zu leisten, macht nach Sokratischem Verständnis noch kein Wissen. Wer etwa den gegenwärtig anerkannten Kenntnisstand über die Funktionsweise einer Zelle zu reproduzieren weiß, würde solange in Sokrates Augen nicht als Wissender gelten, als er nicht zu sagen vermöchte, was der Sinn einer Zelle, d.h. worin das ihr eigentümliche Gut-Sein besteht; und das nicht im Sinne von Nützlichkeit oder Zweckdienlichkeit, sondern im Sinne einer für sich bestehenden Bejahbarkeit.

Sinn und Bejahbarkeit eines Phänomens erschließen sich jedoch nicht dem bloßen Expertenwissen. Das war zu Sokrates‘ Zeiten so und das ist es heute nicht anders. Sie lassen sich nicht durch empirische Forschung ermitteln, nicht berechnen und nicht ermessen. Sie entziehen sich dem methodischen Zugriff des wissenschaftlichen Forschens, erschließen sich aber dem vernehmenden Denken – dem noûs, wie die griechische Sprache das intuitive, momenthafte Verstehen von Sinn nannte. Ein Wort, das vom gleichen Wortstamm hergeleitet ist wie unser Wort „Nase“ oder auch das Verb „schnüffeln“. Noûs, das ist der Riecher, das beinahe somatische Verstehen der Sinnhaftigkeit eines Phänomens, ohne das jedes Wissen flach bleibt.

Verstehen ist freilich nicht wissenschaftlich. Von keinem Experten wird erwartet, dass er den Sinn des von ihm bearbeiteten Gegenstandsbereiches zu benennen vermag. Wie sollte es auch, da Sinn und Bejahbarkeit sich keineswegs durch standardisierte Methoden ermitteln oder berechnen lassen? Wer verstehen will, darf sich nicht damit bescheiden, Kenntnisse und Informationen zu erwerben, sondern muss  – wenn wir noch einmal Sokrates und Platon folgen – mit dem Gegenstand seines Interesses umgehen, Erfahrungen machen. Wirkliches, verlässliches Wissen, so lehren es die antiken Denker, ist allem voran ein praktisches und erst in zweiter Instanz ein theoretisches Wissen. Es ist, wie der Philosoph Wolfgang Wieland in seinem Buch „Platon und die Formen des Wissens“ gezeigt hat,  ein „nicht-propositionales“ (nicht aussagbares) Wissen, das nicht durch bloßes Erlernen von theoretischen Aussagen angeeignet, sondern nur durch wiederholten praktischen Umgang eingeübt werden kann.

Im X. Buch von Platons Politeia (dt. „Der Staat“) gibt Sokrates dafür ein plastisches Beispiel, wo er darüber sinniert, wer wohl mit Fug und Recht für sich das Wissen in Anspruch nehmen dürfe, was ein Zaumzeug ist: derjenige der in Wikipedia (oder bei einem Sophisten) eine minutiöse Beschreibung des Zaumzeugs in Geschichte und Gegenwart gelesen hat, derjenige, der als Sattlermeister ein Zaumzeug herzustellen vermag, oder derjenige, der mit einem Zaumzeug umgeht, also der Reiter. Die Antwort liegt auf der Hand: derjenige ist der Wissende, der mit dem Zaumzeug umgeht; der Praktiker und nicht der Theoretiker. Denn aufgrund seiner Erfahrung hat er sowohl dem Handwerker, als auch dem bloßen Theoretiker etwas Entscheidendes voraus: Er weiß, wie ein Zaumzeug gearbeitet sein muss, damit es sich im Gebrauch bewährt. Seine Erfahrung legitimiert ihn, dem Handwerker Instruktionen zu Verfertigung des Zaumzeugs zu geben. Denn nur er verfügt über einen Qualitätsmaßstab, den er auf den Gegenstand anwenden kann und den er allein seinem praktischen Umgang mit diesem verdankt. Er verfügt über Gebrauchswissen.

Doch lässt sich dieses Wissen nicht einfachhin in Aussagesätze stanzen. Will er es weitergeben, so wird er sich nicht damit bescheiden, eine theoretische Abhandlung ins Internet zu stellen, sondern er wird seinen Schüler an die Hand nehmen und sich zu Pferde mit ihm auf den Weg machen: den Weg zum Erfahrungswissen, das sich in Sokrates Augen eben nicht durch bloß kognitives Lernen bei einem Sophisten erlernen lässt – und das man heutigentags eben nicht aus dem Internet downloaden kann. Nein, wer wirklich wissen will, was es mit der Welt und ihren Phänomenen auf sich hat, muss sich auf sie einlassen, sie erfahren, auf sie achten – sollte sich von und mit ihnen in eine Konversation verwickeln lassen. Was ganz etwas anderes ist, als ihnen mit Messungen und Berechnungen zuleibe zu rücken. Umfassendes Wissen, so viel lässt sich von Sokrates noch heute lernen, ist verstehendes, lebensweltliches und nicht allein beschreibendes, wissenschaftliches Wissen.

Vor diesem Hintergrund ist es lohnend, die Frage aufzuwerfen, ob die vom gegenwärtig herrschenden wissenschaftlichen Paradigma der Neuzeit definierten Grenzen des Wissens nicht zu eng gezogen sind. Eine philosophische Schule, die sich konsequent dieser Frage zugewandt hat, ist die von Hans-Georg Gadamer angestoßene philosophische Hermeneutik. Gadamer hat in seinem Werk „Wahrheit und Methode“ nachgerade programmatisch dem methodisch generierten Wissen der Wissenschaft das dialogisch generierte Erschließen von Wahrheit zur Seite gestellt.

Ausgangspunkt der Überlegungen Gadamers ist das Anliegen, den Ausschließlichkeitsanspruch der neuzeitlichen Wissenschaft zurückzuweisen, die behauptet, mit ihrer methodisch gesicherten Erkenntnis die einzige verlässliche und geltende Form von Wissen generieren zu können. Dagegen verteidigt er das von den Geisteswissenschaften und der Philosophie ebenso wie von den Künsten angestrebte und ermöglichte Verstehen von Wahrheit. Das Anliegen der philosophischen Hermeneutik sei es, „Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt, überall aufzusuchen und auf die ihr eigene Legitimation zu befragen“. Sie sei bemüht, „das Universum des Verstehens besser zu verstehen, als es unter dem Erkenntnisbegriff der modernen Wissenschaft möglich erscheint“.

Mit einem Zeitenabstand von bald fünfzig Jahren wird man heute feststellen dürfen, dass dieses Bemühen zwar die Dominanz der wissenschaftlichen Wissens-Ideologie nicht hat brechen können, dafür aber eine eindrucksvolle Evidenz für die lebensweltliche Relevanz nicht-wissenschaftlichen Wissens erbracht hat. Gadamer ist es zu danken, dass nicht-propositionale Erkenntnisformen, wie sie dem Verstehen von Kunst, Poesie und Philosophie unweigerlich eingezeichnet sind, nicht länger unwidersprochen als minderwertig und „unwissenschaftlich“ denunziert werden können. Wer solches dennoch tut (was leider immer noch allzu häufig geschieht), muss sich vorwerfen lassen, einem wissenschaftsgläubigen Reduktionismus erlegen zu sein – einer Ideologie, die weit davon entfernt ist zu wissen, dass sie nicht weiß.

Denn eben das ist es, was Sokrates auszeichnete: das Anerkennen der Beschränktheit und Eindimenisionalität allen propositionalen Expertenwissens. Dass dieses Wissen eben nicht das Wissen ist, dessen bedarf, wer den Sinn der Phänomene, ihre Wertigkeit und ihr Gut-Sein erschließen will, ist die eigentliche Pointe seines Bonmots. Und dass es ein tieferes Wissen gibt, dass allein aus dem bewussten und achtsamen Umgang mit den Phänomenen erwächst. Zumal dann, wenn es um das abgründigste und gewichtigste aller Phänomen geht: das menschliche Leben.

Denn im Blick auf uns selbst gilt allzumal, dass kein theoretisch-propositionales, kein methodisch-verifiziertes und abrufbares Wissen je den Sinn unseres Daseins verständlich macht – je eine Erkenntnis der Bejahbarkeit unserer Existenz freischaltet. Was das Wissen um die eigene Identität betrifft, so läuft jede wissenschaftliche Methode ins Leere – ebenso wie jedes therapeutische oder spirituelle Heilsversprechen. Wer dem alten Apollinischen Imperativ „Erkenne dich selbst“ nachgehen will, braucht mehr und besseres als ein wissenschaftliches Verfahren. ER braucht das Gespräch.

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