Mir fällt es ausgesprochen schwer, beim Gedanken an Pädophile nicht hasserfüllt und wutschnaubend durch die Gegend zu brüllen und nach einem geeigneten Mordwerkzeug zu suchen (Achtung: Diese Darstellung ist bewusst ünerzogen). Ich hatte das fragliche „Vergnügen“ während eines therapeutischen Klinikaufenthaltes die Leidensgeschichten meiner Mitpatientinnen - und was sie mit ihnen anstellt - zu erfahren. Daraus sind zwar Freundschaften entstanden, die ich heute nicht mehr missen möchte, aber leider habe ich auch einen Blick in das Tor zur Hölle werfen dürfen und musste, Gott sei Dank, nicht hindurch gehen. Meine Therapeutin erzählte mir damals, dass die Ärzte der Klinik selbst einen (angeklagten) Pädophilen therapieren mussten und dies trotz persönlicher Aversion professionell durchgeführt habe. „Unsere Aufgabe war es, diesem Menschen bei seiner Depression zu helfen, und das haben wir getan und ihn dann schnell fortgeschickt.“

Gefühl vs. Wissenschaft

Angeekelte Frau
Bildquelle: Pexels

Vor einigen Jahren stieß ich dann zum ersten Mal auf eine Dokumentation über eine Community von Pädophilen, die sich selbst „virtuous“ oder „non-offending“ nennen - Menschen, die um ihre Neigung zu Kindern wissen, jedoch dieser niemals nachgeben wollen, da sie natürlich wissen, dass dies nicht nur falsch, sondern traumatisierend und lebenszerstörend ist. Diese Menschen wurden gezeigt als solche, die unter einem Verlangen leiden, das sie überhaupt nicht haben wollen, aber auch nicht abstellen können.

Ich wand mich zwar angeekelt in meinem Stuhl, aber ich kam nicht umhin, mich den Fakten und der Wissenschaft zuzuwenden. Das liegt in meinem doch sehr wissenschaftsliebenden Wesen. Ich wollte mich etwas genauer informieren, wie der derzeitige Stand der Forschung zum Thema Pädophilie ist.


Zunächst musste ich zwei Feststellungen machen:

1. Vermutlich können sich viele Pädophile auch mit Unterstützung nicht von ihren Neigungen befreien. Die Betroffenen müssen leider damit leben. Therapie kann ihnen natürlich helfen, ihre Gefühle zu managen.

2. Es sind leider die fehlenden Möglichkeiten, sich Hilfe zu suchen - zum Einen, weil es nicht überall auf der Welt Therapieangebote inkl. strenger Schweigepflicht gibt, zum Anderen, weil es erhebliche gesellschaftliche Risiken mit sich bringt, sich als Pädophiler zu outen - die Betroffenen im Weg stehen.


Ich kann es keinem Menschen vergönnen, der durch intuitive Abneigung dieses sogenannte Stigma vorantreibt. Es ist ja schön und gut, wenn der pädophile Nachbar therapeutisch gut betreut wird, aber wenn er mal 'nen schlechten Tag hat, und vielleicht die Kontrolle verliert, will ich mein Kind nicht in seiner Nähe wissen. Oder irgendein anderes. Diese Haltung ist leider nur zu verständlich, denn die Konsequenzen und das Trauma eines Missbrauch sind nun mal die Hölle. Wer will das riskieren?

Statistiken der Pädophilie

Schreibtisch mit Statistikausdruck, Notizheft und Laptop
[Bildquelle: Pexels]


Aber zurück zur Wissenschaft, die an allen Ecken und Enden mit unserer verständlichen, emotionalen Reaktion auf Pädophile anzuecken scheint. Zunächst einmal sind die Täter, die Kinder sexuell missbrauchen zu nicht unerheblichen Teilen gar nicht pädophil. Wir haben hier die Gefahr eines modernen „Stranger-Danger“-Problems. Ich glaube es war in den 70ern, bei mir durch Oma auch in den 80ern, dass Kindern eingebläut wurde, nie mit Fremden mitzugehen. Das ist auch richtig so, aber dabei ging immer wieder unter, dass Täter oft aus dem eigenen Umfeld kommen und eben keine Fremden sind. Wir laufen gesellschaftlich Gefahr - oder sind schon gelaufen - dass unser Fokus auf Pädophile uns vergessen lässt, dass die meisten sexuellen Delikte an Kindern nicht von Pädophilen ausgeführt werden. Pädophile haben eine permanentes Interesse an Kindern, so wie andere ein permanentes sexuelles Interesse an Männern, Frauen oder anderen Geschlechtern haben, weil dies ihrer sexuellen Orientierung entspricht (dies ist eine vereinfachte Zusammenfassung). Dabei ist es unklar, wie verbreitet Pädophilie ist, da es aufgrund des Stigmas eine hohe Dunkelziffer geben dürfte. Geschätzt sind es „unter 5% der Bevölkerung”, aber diese Angabe ist so unsicher, dass es eher heißen müsste „vermutlich nicht über 5% der Bevölkerung“. Männer sind jedoch häufiger betroffen als Frauen. Eine Korrelation zu Alter, Karriere und sozialer Stellung scheint es nicht zu geben.

Viele Täter haben aber kein solches, generelles Interesse an Kindern wie Pädophile es haben, sondern werden von Machtfantasien getrieben oder nutzen Gelegenheiten aus. Es ist schwer, genaue Statistiken dazu zu finden, wie viele Täter auch pädophil sind, auch wenn oft erwähnt wird, dass die meisten Täter bei Kindesmissbrauch wohl die DSM-IV-TR Kriterien für Pädophilie nicht erfüllen. Interessante Literatur, wie zum Beispiel „Misperceptions about child sex offenders.”, Richard K, 2011, Trends & issues in crime and criminal justice, bezieht sich gar nicht auf Statistiken. Ich habe - ohne handfeste Quellen - gelesen, dass nur 5%, 10% oder 16,7% der Straftäter als Pädophile einzuordnen sind. Einer der größten Unterschiede sei außerdem, dass Pädophile eher zu Mehrfachtätern werden, als Menschen ohne klinischen Pädophilie-Befund.

Noch wesentlich schwieriger ist die Ratio zwischen pädophilen Tätern vs. pädophilen Nichttätern herauszufinden. In der Literatur dazu wird immer wieder klargestellt, dass diese Statistiken nicht genügend erforscht seien.

Einer der Reviews („Non-offending Pedophiles”, James M. Cantor & Ian V. McPhail, 2016,
Current Sexual Health Reports
) kann allenfalls schwache Statistiken anbieten, die eventuell, möglicherweise und vielleicht darauf hinweisen, dass 55% der Pädophilen „Non-Offender“ sind (s. „Assessment of implicit sexual associations in non-incarcerated pedophiles”, van Leeuwen ML, van Baaren RB, Chakhssi F, et al., 2013, Arch Sex Behav.).

Selbst neuere Literatur bezieht sich nur auf das 2016er Review, z. B. „Identifying the Coping Strategies of Nonoffending Pedophilic and Hebephilic Individuals From Their Online Forum Posts”, Sarah J. Jones, Caoilte Ó Ciardha, Ian A. El, 2020, Sex. Abuse, oder die Bachelorarbeit von Heather Horn, Wilfried Laurel University, 2020: „Preventing Child Sexual Abuse: Understanding the Phenomenon of Adults who are Sexually Attracted to Children”.

Wir müssen trotz allem begrenzen Wissens jedoch einräumen:

1. Sexueller Missbrauch wird großteils nicht von Pädophilen ausgeführt
2. Pädophile sind nicht mit Straftätern gleichzusetzen

Das mag gegen unsere Intuition gehen, ist aber die Richtung, in die die Fakten aus der Forschung und der Realität zeigen.

Pädophilie und Therapie

Männer in Gruppentherapie
[Bildquelle: Pexels]


Aber es kommt noch härter: Denn - und das können wir nicht leugnen - es ist im Interesse von uns allen, dass Pädophile nicht straffällig werden.

Ich habe oben bereits Jones, Ciadra und El zitiert, deren Artikel ein Beispiel für die Literatur ist, die sich damit beschäftigt, wie Pädophile von Straftaten abgehalten werden können, bzw. sich selbst abhalten. Wichtiger wäre es jedoch, das daraus gewonnene Wissen therapeutisch zu nutzen. Der bisherige wissenschaftliche  Konsensus scheint dazu zu sein,  dass Pädophilen aber folgende Probleme im Weg stehen, sich Hilfe zu suchen:

1. Es gibt keine Hilfsangebote
2. Die angebotene Hilfe ist nicht „sicher“ (Konfidentialität nicht gewährleistet)
3. Es ist mit einem Stigma bis hin zum Ausschluss von der Gesellschaft verbunden, wenn man sich outet

Für ein gutes Hilfsangebot hat sich ein UK-Bürger lt. eigener Aussage sogar nach Deutschland versetzen lassen, um am „Dunkelfeld“-Projekt der Berliner Charité teilzunehmen. Hierbei handelt es sich um ein Programm in absolut vertrauenswürdiger Umgebung in der Pädophilie u. A. in Gruppentherapie behandelt wird. Derzeit gibt es noch keine objektiven Statistiken zum Erfolg (Dies ist schwer zu messen!), die subjektiven Einschätzungen von Professionellen, Betroffenen und Missbrauchsopfern sind jedoch vielversprechend. Deutlich wird, dass die dortigen Patienten von ihren eigenen Neigungen schockiert und teils angewidert sind, einige verzweifelt nach Hilfe suchen und dass auch gerade diese Gruppe, die sich so fühlt, eine geringe Wahrscheinlichkeit hat, straffällig zu werden (s. auch das oben erwähnte Review von Cantor und McPhail, 2016).

Interessant fand ich in diesem Zusammenhang persönlich außerdem, dass es vermutlich zu den Coping-Strategien gehört, sich nicht mit entsprechendem pornografischen Material auseinanderzusetzen, da dies das Verlangen fördert. Dies fand ich deshalb interessant, weil ein viel hervorgebrachtes Argument gegen jegliche Toleranz von „non-offending“ Pädophilen ist, dass Sie den Handel und die Erstellung von kinderpornografischem Material fördern. Sollte dies so sein - und die Dateb dazu fehlen - könnte dich eine therapeutische Betruung auch hier positiv Auswirken. Es ist jedoch auch gut möglich, dass es „non-offending Pädophiles“ ohnehin anstreben, solches Material zu vermeiden. Außerden habe ich mich gefragt, welche Auswirkung die Begegnung meiner Publikum.net Kollegin @DichJasmin als Sexworkerin mit einem Pädophilen wohl letztendlich hatte (welche eine der Anstöße für diesen Artikel von mir war). Nicht, dass man das bei einem individuellen Menschen wissen könnte, dennoch ein interessanter Gedanke. Den Artikel von Jasmin findet ihr hier:

PublikumDie Plattform, die Schreibende und ihr Publikum zusammenbringt: AutorInnen können sich ganz auf Inhalte und ihre Community konzentrieren. LeserInnen finden die Artikel, die sie interessieren und könne…http://Publikum.net

Pädophile Freier - und meine GrenzenWie reagiert man als Sexworkerin, wenn man eine Rollenspiel-Anfrage eines Pädophilen bekommt?https://publikum.net/padophile-freier-wo-sind-die-grenzen/

Ferner fand ich interessant, dass das Verlangen eines Pädophilen vermutlich eher dem Körperbau von Kindern als dem Alter gilt. Was man mit diesem Wissen anfangen kann, ist mir noch nicht ganz klar.

Schlussgedanken

Mann denkt vor Laptop
[Bildquelle: Pexels]


Ich muss nach (erneutem) Sichten der Literatur zu dem Schluss kommen, dass ich immer noch eine intrinsische Abneigung gegen Pädophile habe, auch wenn ich weiß, dass sie nichts dafür können. Ich habe aber auch Hochachtung vor denen, die dagegen ankämpfen. Ich denke, das ist alles andere als leicht. Und wenn es letztendlich um den Schutz der Kinder geht, dann muss man diesen Menschen Hilfe anbieten und sich in Richtung Entstigmatisierung der „non-offending“ Pädophilen bewegen, egal ob uns das widerstrebt. Der Schutz der Opfer ist schließlich das Wichtigste. Das heißt nicht, dass ihr bekannte Pädophile gleich zur Gartenparty einladen müsst, aber vielleicht können wir damit anfangen, Pädophile nicht mit Straftätern gleichzusetzen und Kindesmissbrauch nicht mit Pädophilie. Vielleicht können wir anfangen, Pädo nicht als Schimpfwort zu verwenden.

Dieser Twitter-User (angeblich Psychologe) zeigt eindrucksvoll, wie man sich nicht verhalten sollte - Vorverurteilungen, Euthanasiefantasien und Selbsttötungsaufforferungen gegenüber Betroffenen, Abtun der Meinungen von Missbrauchsopfern und Verwenden des Begriffs Pädophilie bzw. Pädophiler als Beleidigung:

Doch, das ist [sic] gleuchzusetzen. Jeder Betroffene täte gut daran, selber die Reißleine zu ziehen.“
Hier geht es um die Gleichsetzung vin Pädophilie mit Straftat. Die „Reißleine“ ist im Kontext als Aufforderung zur Selbsttötung zu verstehen.
„Moin, Opfer von Pädophilie hier. Pädophilie zu stigmatisieren bringt den Opfern absolut NICHTS.Durch diese Einstellung bringen Sie Opfer eher in Gefahr und überlassen sie Situationen, die mitunter verhindert hätten können [sic]. Das tut weh.“ @NichtdieMama002: „Stigmatisierung von Pädophilen? Ist das jetzt dein Ernst? NATÜRLICH ist das ein [sic] Stickmata. Und zwar keines, was irgendwelche Konservativen künstlich erzeugen, sondern ein reales, begründetes. Sollen wir jetzt Paraden für Pädos machen wie beim CSD? Verstehe dein Denken nicht.“
Beispiel eines spöttischen Umgangs mit Opfern von sexuellem Kindesmissbrauch.

Schlafschaf des Todes: „Dann beleg doch diese bösartige Unterstellung doch mal bitte.“ NichtdieMama: „Nöö. Als erwiesene Fakten muss ich [sic] nicht weiter belegen. Kannst du selber googeln. Ich steig jetzt hier aus. Wenn Du selbst so einer bist, wovon sehr deutlich auszugehen ist, hoffe ich sehr, dass Du den einzigen Ausweg nimmst. Und tschüss.“
Verwendung von Pädophilie als Beleidigung, Aufforderung zur Selbsttötung. Der Tweet wurde durch die Plattform Twitter inzwischen wegen Verstoßes gegen die AGBs gelöscht.

Vielleicht können wir das Abschotten unserer Kinder von Pädophilen nicht nur als Schutz der Kinder ansehen, sondern auch - nur ein bisschen - als Unterstützung dazu, dass Pädophile nicht Straftäter werden (wobei der Schutz der Kinder natürlich die Hauptsache bleibt!). Mein Verständnis ist, dass viele Pädophile gar nicht in Situationen kommen wollen, die ihre Neigungen befeuert. Das ist imnerhin auch in unserem Sinne.

Ich glaube nicht, dass wir an einem Punkt sind, wo sie uns das offen sagen können. Ich bin selbst nicht an dem Punkt, an dem ich das offen hören will. Trotzdem dürfen wir nicht aufhören, ein so heikles Thema, für das es vielleicht nicht den richtigen Umgang gibt, weiter zu erforschen und zu reflektieren.

Betroffene können hier Hilfe finden:

Deutschland:  https://www.kein-taeter-werden.de/

Schweiz: https://www.kein-taeter-werden.ch/

Österreich: https://www.nicht-taeter-werden.at/Hintergrund.html


Danke an @Borgziege (Twitter) für das Editieren des Artikels.

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