Ricardo Lange, Intensivpfleger aus Berlin, wurde mit einem Schlag bundesweit bekannt, als der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ihn zur Bundespressekonferenz (BPK) einlud. Dieser Einladung war ein monatelanger Versuch vorausgegangen, mit Spahn ins Gespräch zu kommen und auf die Situation der Pflege in Deutschland aufmerksam zu machen. Schließlich erwiderte Spahn das Kontaktersuchen, als Lange ihn öffentlich aufforderte, mit ihm Schichten im Krankenhaus zu arbeiten.

In seinem Buch „Intensiv – Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist“ schildert Lange in verschiedenen Darstellungssträngen zum Einen seinen ungewöhnlichen Werdegang zum Intensivpfleger, seine Motivation, diesen Beruf zu ergreifen und seine ebenso ungewöhnliche Entscheidung, über eine Zeitarbeitsfirma zu arbeiten. Die Leser:innen erhalten eindrückliche und berührende Einblicke in Intensiv-Situationen ebenso wie in Langes persönliches Leben und vor allem in die enge Verbindung dieser beider Lebensbereiche. Man erfährt, wie der Beruf und die dort erlebten Situationen und Belastungen das Privatleben und die Familie betreffen und belasten und welche Zuspitzung das durch die Pandemie erfährt. Was viele Leser:innen nicht kennen, bringt Lange ihnen nahe: das grausame Bild von SARS-CoV2 und die verheerenden Folgen schwerer Verläufe – vor denen niemand sicher gefeit ist, sondern sein Risiko nur in Wahrscheinlichkeiten ausloten kann.

Das Buch ist zugleich eine schonungslose Analyse des kaputt gewirtschafteten Pflegesystems, das für eine Pandemie nicht aufgestellt und nicht krisenfest ist sowie ein Plädoyer für die Situation der Pflegekräfte/Mediziner, deren Engagement vor der Pandemie unbeachtet, in der Pandemie an den Fenstern beklatscht, wenn es um finanzielle Investitionen durch die Politik und Bevölkerungssolidarität in Form von persönlicher Verhaltensänderung geht, aber schnell wieder vergessen wurde. Langes Buch mündet in einer „Wunschliste“ für die Pflege.

Wir sollten daraus eine Forderungsliste an die Politik machen, an das Bundesgesundheitsministerium, den Bundeskanzler, den Bundestag und alle Landesparlamente.

1. Öffentliche Wertschätzung – maßgeblich durch Worte und Taten der Politik, durch Medien und die Bevölkerung; Vertrauen in die Fachkompetenz mit Blick auf die Bedürfnisse der Patient:innen, statt Kontrollbürokratie (bspw. Führung eines Komatagebuches, um Patienten die fehlende Zeit in ihr Leben integrierbar zu machen).

2. Attraktivität des Berufes erhöhen – durch verringerte Stundenzahl, flexible familientaugliche Dienstpläne, Erhöhung der Gehälter (angepasst an die ungeheure Verantwortung für das Leben der Patient:innen), früheres Renteneintrittsalter und unverrückbare strenge, nach medizinischen (!) Gesichtspunkten beurteilte Personaluntergrenzen. Im konkreten Intensiv-Alltag hängt davon das Leben schwerstkranker Patient:innen ab. In unterbesetzten Pflegesituationen muss für alle Pflegenden ein Entlastungspunktesystem gelten.

Supervision muss zuverlässiger Bestandteil des Berufsumfeldes sein, wie in allen anderen Berufen, die besondere (psychische) Belastungen, große Verantwortung und die Nähe zu Sterben und Tod mit sich bringen.

3. Schulfach „Gesundheit“ – nicht nur, um medizinische Berufe in der Schule bekannt zu machen, sondern um schon von Kind an ein Bewusstsein für die eigene Gesundheit und die anderer zu schaffen und notwendige Kompetenzen zu vermitteln. Die WHO empfiehlt dies ab 7 Jahren, andere Länder setzen das um. Sucht- und Drogen-(legal wie illegal)prävention gehören ebenso durchgängig in den Schulunterricht wie Ernährung und Bewegung. Auch unsere Gesundheit betreffend, muss der Fokus auf Prävention vor Reaktion liegen und ein Bewusstsein geschaffen werden, dass Gesundheit keine Selbstverständlichkeit ist.

Der vorbehaltlose Umgang mit erworbener/angeborener Erkrankung oder Einschränkung fördert Inklusion und Empathie, die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod holt diese Themen aus dem verdrängenden gesellschaftlichen Tabubereich dahin zurück, wo sie hingehören: ins Leben.

4. Best practice – wie machen das Andere. Ein Blick in andere Länder und Gesundheitssysteme hilft, neue Ideen zu entwickeln, zu modifizieren und zu integrieren – das Ziel muss im Sinne des Patienten immer sein, besser zu werden. Standesdünkel und Abgrenzung sind fehl am Platze, wenn es um Leben und Gesundheit (von Patient:innen UND medizinischem Personal) geht.

5. Die eigenen Grenzen kennen – und achten. Lange richtet sich mit seinem letzten „Wunsch“ an seine Kolleg:innen. Ein System trägt sich durch seine Mitwirkenden, ein überfordertes System durch seine überforderten Mitwirkenden. Stressdurchsetzte Systeme fördern Mobbing und Verantwortungsverschiebung, Zersplitterung statt Zusammenhalt sind die Folge.

Eine Sparpolitik, ein auf Kante genähtes System operiert zudem mit der Empathie und dem Verantwortungsgefühl einer Berufsgruppe, die diese Eigenschaften als wichtige Kriterien für die patientengerechte Berufsausübung erfordert und macht sie emotional erpressbar.

Anmerkung:

In einem Punkt sehe ich Ricardo Langes Ideen kritisch: ein Schulfach „Gesundheit“ könne Auswirkungen auf das Elternhaus und dort mglw. vorhandenen Informationsbedarf haben. Das Elternhaus hat die tiefste Prägung, die dort vermittelten Werte, Prioritäten und Gewohnheiten wirken im Allgemeinen stärker und nachhaltiger. Das ist immer wieder an Verkehrssicherheitstrainings der Grundschulen zu beobachten, wenn die Kinder eine Woche mit Helm zum Fahrradtraining kommen und vorher wie nachher „wie gewohnt“ ohne Helm auf vielbefahrenen Straßen herumflitzen oder Tipps für sichere Kindermitnahme im Auto mit einem „Dafür habe ich jetzt keine Zeit, mach voran und steig ein!“ weggewischt werden.

Dennoch ist Langes Ansatz uneingeschränkt zu unterstützen – ergänzt werden sollte er aber durch unterrichtsbegleitende Elternabende/-informationen/-schulungen, weitere Angebote und niederschwellige, mehrsprachige nachhaltige Kampagnen in der Gesellschaft für Erwachsene (nicht nur, aber v.a. für Eltern).

Langes Buch macht jedem klar, dass unser Gesundheitssystem sehr fragil ist und in seiner Verbesserungsnotwendigkeit jeden von uns von einem Tag auf den anderen schmerzlich betreffen kann. Wenn wir uns in einem reichen und hochentwickelten Land auch unbesiegbar wie Siegfried fühlen, das Lindenblatt auf unserer Schulter (und derer, die uns heilen und pflegen) machen wir durch ein politisch wie gesellschaftlich vernachlässigtes Gesundheitssystem deutlich größer.

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