Der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu sorgte mit einer brisanten Erklärung für ordentlichen Wirbel in der russischen Gesellschaft. Er erklärte, man sollte die Option erwägen, die Hauptstadt des Landes nach Sibirien zu verlegen. Die Idee ist gar nicht mal so neu.
Der jüngste Vorschlag des russischen Verteidigungsministers Sergej Schojgu, die Hauptstadt des Landes nach Sibirien zu verlegen sowie bis zu fünf weitere Großstädte dort zu errichten, sorgte Anfang August für viel Aufmerksamkeit in Russland.
„Wir müssen in Sibirien drei, besser sogar fünf große wirtschaftswissenschaftliche Zentren aufbauen. Einfach gesagt, sollen es Städte mit einer Bevölkerung von 300 bis 500 Tausend, besser bis zu einer Million Menschen werden“, so Schojgu.
Eine dieser Städte sollte die neue Hauptstadt werden, die anderen sollten „auf konkrete wissenschaftliche und wirtschaftliche Tätigkeitsfelder ausgerichtet“ sein.
Was für deutsche Ohren womöglich komplett abwegig klingt, hat in Russland durchaus eine längere Tradition.
Schon mehrfach die Hauptstadt gewechselt
Der Gedanke, die Hauptstadt des Landes viel weiter nach Osten hinter den Ural zu verlegen, wird in der einen oder der anderen Form schon seit Jahrzehnten in Russland auf den Plan gebracht und ist in manchen Gesellschaftsschichten durchaus beliebt.
Generell ist das Verlegen der Hauptstadt in Russland gar nicht mal so eine einmalige Angelegenheit.
Im Laufe der rund tausendjährigen russischen Staatlichkeit wechselte die Hauptstadt bereits nun drei Mal ihren Standort.
· In den Anfängen befand sich die erste Hauptstadt des alten Russlands (der sogenannten Rus´) in Kiew. Daher stammt auch das russische Sprichwort „Kiew ist die Mutter aller russischen Städte“.
· Als sich der machtpolitische Schwerpunkt in dem Land verschob, wechselte die Hauptstadt nach Moskau.
· Nach Peter dem Großen wurde Sankt-Petersburg zur russischen Hauptstadt.
· Und schließlich wurde sie unter Kommunisten wieder zurück nach Moskau gebracht.
Man könnte also fast sagen, dass das Verlegen der Hauptstadt in Russland sowas wie eine gewisse Tradition hat. Es werden sich nicht allzu viele andere Staaten auf dem europäischen Kontinent finden, wo die Hauptstadt so oft wechselte.
Wilde Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern
Die Erklärung von Schojgu löste in Russland nun also wieder heftige Debatten rund um das Thema aus. Gegner des Projektes argumentierten, dass ein solches Verlegen a) absolut sinnlos und b) kaum finanzierbar wäre.
Die Befürworter des Projektes sehen hier genau das Gegenteil. Die Errichtung einer neuen Hauptstadt in Sibirien würde dem Land einen enormen wirtschaftlichen Schub geben. Gewaltige Finanzmittel würden in die heimische Wirtschaft fließen und diese vermutlich für Jahrzehnte mit vollen Auftragsbüchern versorgen. Da das Geld nur an heimische Unternehmen verteilt worden wäre, würde es für das Staatsbudget dabei nicht „verpuffen“, sondern im Inland bleiben und im Endeffekt schnell in Form von Steuereinnahmen zurückkommen. Zudem würde gerade Sibirien davon profitieren, da die unendlichen Weiten endlich durch dichtere Infrastruktur vernetzt und eingebunden wären. Der Staat müsste in den Anfängen nur dafür sorgen, dass die Basisinfrastruktur aufgebaut wird, wie Kommunikation, Straßen, Kern- und Wärmekraftwerke, Krankenhäuser und Universitäten etc. Der darauffolgende Zufluss von privaten Investoren würde den Bau der Stadt schließlich von alleine vervollständigen.
Auch aus demographischer Sicht sehen die Befürworter des Projekts viele Vorteile. Russland leidet seit Jahrzehnten an einer äußerst ungleichmäßigen Bevölkerungsverteilung. Während Zentralrussland dicht besiedelt ist, stehen im Osten gewaltige Landflächen leer. Die Verlegung der Hauptstadt nach Sibirien würde hier einen gewissen Ausgleich schaffen.
Sicherheitsüberlegungen im Vordergrund
Vermutlich dürften aber vor allem Sicherheitsüberlegungen für Schojgu eine Rolle gespielt haben, als er die erneute Verlegung der Hauptstadt angesprochen hat.
Es ist ein offenes Geheimnis, das die amerikanischen US-Raketenabwehrsysteme, die in Rumänien und Polen installiert werden, auch als Angriffskapazitäten genutzt werden können. Die Startvorrichtungen lassen sich innerhalb kürzester Zeit umfunktionieren, sodass sie statt Abfangraketen auch Marschflugkörper abschießen können. Die Anflugzeit dieser Marschflugkörper bis nach Moskau ist gering.
Noch schlimmer würde sich die Lage entwickeln, falls die Ukraine der NATO beitritt und auf ihrem Territorium US-Raketen stationieren lässt. Putin äußerste sich dazu erst im Juni und erklärte, dass die Anflugzeit potentieller amerikanischer Raketen vom ukrainischen Territorium gerade mal 7 Minuten bis nach Moskau betragen würde. In anderen Worten: die Landesführung hätte gerade mal 7 Minuten Zeit, um a) sich in Sicherheit zu bringen und b) Gegenmaßnahmen einzuleiten. Dies sei für Russland die „rote Linie“, so Putin damals.
Manche Experten rechnen sogar vor, dass die Anflugzeit von Hyperschallraketen, die derzeit aktiv von USA und Russland entwickelt werden, bis nach Moskau in diesem Fall sogar noch viel kürzer ausfallen würde.
In diesem Zusammenhang bekommen die Erwägungen, die Hauptstadt weit nach Osten nach Sibirien zu verlegen (also außer Reichweite amerikanischer Marschflugkörper), eine durchaus nachvollziehbare Seite. Wenn man auch bedenkt, dass praktisch die gesamten Führungs- und Verwaltungsstrukturen Russlands in Moskau konzentriert sind, erscheint es umso logischer, diese Strukturen zumindest auf mehrere Großstädte weit im Landesinneren zu verteilen.
Eher eine „Reservehauptstadt“ denkbar
Dennoch, zum derzeitigen Stand der Dinge scheint es unwahrscheinlich, dass Russland tatsächlich ein derart gewaltiges Projekt aufnimmt und eine komplett neue Hauptstadt in den Weiten Sibiriens erbaut. Wahrscheinlicher ist eher, dass eine der sibirischen Großstädte in eine Art „Reservehauptstadt“ weiterentwickelt wird. In russischen Medien wird in diesem Zusammenhang die Großstadt Nowosibirsk diskutiert, in der die Hauptelemente des Regierungs- und Verwaltungssystems „gedoppelt“ werden könnten, damit im Fall aller Fälle die Regierung schnell von Sibirien aus die Entscheidungshoheit über das Land übernehmen könnte.
Ob diese Überlegungen Realität werden könnten, ist im Moment schwer vorauszusehen. So oder so wäre es ein Unterfangen für Jahrzehnte. Dass das Projekt aber mittlerweile auf offizieller Ebene von Ministern ins Gespräch gebracht wird, zeugt sicherlich davon, dass diese Idee für die russischen Verantwortlichen nicht mehr im Bereich des Unmöglichen zu liegen scheint.
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