Dieselben, die sich jetzt länglich über eine Mitschuld des Westens am Ukrainekrieg auslassen, wären vermutlich höchst empört, wenn jemand sagt: Na ja, wenn man mal ehrlich  ist, dann hat die Frau es ja auch ein Stück weit provoziert mit ihrem kurzen Rock. Oder: Na ja, diese Zwölfjährige ist schon ein ganz schön frühreifes Früchtchen, da darf man sich nicht wundern, wenn mal einer nicht an sich halten kann. Gern genommen wird zur Zeit auch der  Schulhofvergleich: Wenn zwei Kinder sich prügeln, dann rede man schließlich auch mit beiden. Ja, richtig. Der Fall liegt nur ein wenig anders, wenn ein Siebzehnjähriger, egal ob provoziert oder nicht, eine Fünfjährige vom Fahrrad tritt. So viel zum Thema Hinkende Vergleiche.

Wenn ein autokratisch geführter Staat von zirka 145 Millionen Einwohnern, der über eine Millionenarmee und zudem eine Rückversicherung in Form eines atomaren Arsenals verfügt, mit ein paar Hunderttausend Mann in ein Nachbarland einmarschiert, dann kann es an der Kriegsschuldfrage nur wenig Zweifel geben. Und wenn der Einmarsch nicht so läuft wie gedacht, weil der Oberbefehlshaber sich von seinen Militärs Märchen auftischen lassen und sich auch sonst royally verrechnet hat, dann dazu übergeht, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und zu massakrieren, dann hätte  ich dafür gern eine alternative Bezeichnung zu 'Kriegsverbrecher'. Allein, mit fällt gerade keine ein. Unerleuchtetes Dummerchen, ich.

Gibt welche, die für ganz große Dickdenker halten, weil sie gegenwärtige  Geschehnisse erfolgreich als eine von ganz langer Hand sinister orchestrierte Weltherrschaftskampagne einer Großkapitalistenclique mit Sitz in den Vereinigten Staaten von Bösemerika interpretieren. Ganz aktuelle heiße Scheiße: Die Amerikaner wollen Europa in einen Atomkrieg treiben! Gewiss doch. Es ist schon eine teuflisch geniale Idee, den Teil der Welt, den man angeblich seit Jahrzehnten hegemonial als Vasall hält und ausquetscht, wo man x tausend Soldaten stationiert hat und wo es äußerst kaufkräftige Absatzmärkte gibt, in eine nuklear verstrahlte Wüste zu  verwandeln. So wie wir uns auch alle an den brutalen Krieg erinnern, den der Westen 2014 vom Zaun brach als Reaktion auf die Annexion der Krim.

Zurück zum Thema. Kleine Frage am Rande: Wären diese Leute in vergleichbarer Weise bereit, den deutschen Einmarsch in Polen 1939 ebenfalls zu rechtfertigen als legitimen Versuch, deutsche Sicherheitsinteressen wahrzunehmen, an dem die Sieger des ersten Weltkriegs mitschuldig waren?  

Ja aberaberaber, der Versailler Vertrag!, werden jetzt welche einwenden. Dass der ein ziemlicher Griff ins Klo war und revanchistischen Kräften in Deutschland Futter geliefert hat, wird heutzutage kaum mehr ernsthaft bestritten. Aber schuld? Ex post facto ist man immer schlauer: 1918/19 fehlte es an historischer Erfahrung im Umgang mit faschistischen Regimes, weil es sie schlicht noch nicht gab. Auch war der Hitler von 1939 noch nicht der Superverbrecher mit Rassenkrieg und Holocaust auf dem Kerbholz, als der er sich später  erweisen sollte, sondern zunächst mal einer der lauteren der diversen europäischen Diktatoren und Autokraten wie Mussolini, Horthy, Piłsudski (auch als Bausatz erhältlich), Franco, Béla Kun, Quisling, Dollfuß/Schuschnigg, die irgendwie mit dem Ergebnis des Ersten Weltkriegs nicht einverstanden waren.

In rein moralischer Hinsicht wären die Westmächte 1939 in einer äußerst  schwachen Position gewesen, Hitler in den Arm zu fallen. Großbritannien und Frankreich waren ihrerseits Kolonialmächte, die nie zimperlich waren bei der Durchsetzung ihrer Interessen und der Wahl ihrer Mittel. Jeder Pazifist und Friedensaktivist hätte damals gen Großbritannien und Frankreich sagen können: "Soso, der Hitler ist also der böse Aggressor, der Gottseibeiuns! Ach was, ein Rassist ist er auch? Guckt doch mal in den Spiegel, und schaut euch an, was ihr in euren Kolonien angestellt habt!" Schon richtig. Aber: Hätte das die Welt zu einem friedlicheren Ort gemacht? Habe meine Zweifel.

Nein, Putin ist natürlich nicht  Hitler, aber es gibt Parallelen: Vor allem den Versuch, einen gegenwärtigen, als ungerecht empfundenen Staus quo zu revidieren. Hitler ging es u.a. um eine Revision des Versailler Vertrages, Putin geht es um eine Revision der NATO-Osterweiterung, die er, obwohl völkerrechtlich legitim, als aggressiven Akt und als Einkreisung betrachtet. Weil es damals wie heute Akteure gab und gibt, die etwas dagegen haben, gingen und gehen beide nach Salamitaktik vor und haben die 'roten Linien' der gegnerischen Mächte immer weiter verschoben.

Indes, in nicht wenigen Gegenden, um die es dabei momentan geht, scheint die Bevölkerung mehrheitlich keinen Bock darauf zu haben, wieder zu russischen Einflusssphäre zu gehören und sich eher für eine Westorientierung zu entscheiden. Nein, der Westen ist auch für diese Leute kein Paradies, keine Insel der Seligen und nicht perfekt. Aber die Menschen in Ost-/Mitteleuropa sind vielleicht auch ohne Erpressung oder mit jüdisch-amerikanischen Milliarden gepampert zu sein, in der Lage, gewisse Unterschiede selbst zu erkennen. Dass es zum Beispiel cooler ist, für regierungskritische Äußerungen nicht umgebracht, ins Loch geworfen oder in ein Arbeitslager verbracht zu werden. Ja aberaberaber Julian Assange! Schon klar. Nicht schön, das. Man könnte trotzdem mal spekulieren, ob der überhaupt noch am leben wäre, wenn er russische oder chinesische Militärgeheimnisse verraten hätte. Aber über Whataboutism jammern.

"Auf Verbreitung von unerwünschten Nachrichten über den Krieg stehen bis zu 15 Jahre Gefängnis; sämtliche Medien sind unter Zensur; das Internet wurde abgekoppelt; Leute werden an Jubelveranstaltungen gekarrt; in Geheimdiensten und Armee werden erste Offiziere verhaftet; Putin selbst hält Reden, in denen er eine »Säuberung« verspricht und dass sein Volk Verräter ausspucken werde wie »Fliegen«, die einem versehentlich in den Mund geflogen sind." (Fichter/Seemann)

Schon aufgefallen? Alle reden andauernd von den Fehlern, die der Westen gemacht hat, sodass Putin quasi gar keine andere Wahl hatte als militärisch loszuschlagen und man sich jetzt nicht wundern dürfe, sondern lieber mal ganz demütig sein müsse. Erinnert ja, siehe oben, so ein bisschen an: Die Linken mit ihrem woken Multikulti-Gutmenschengerede sind schuld, wenn welche zu Nazis werden. Die können ja eigentlich gar nicht anders, die Ärmsten! Warum redet eigentlich kaum jemand von den Fehlern, die Russland bzw. die russische Politik gemacht hat? Tut es doch mal jemand, dann heißt es "Russophobie!“, "Putin-Bashing!", "Vernichtungsrhetorik!"

Wie wäre es damit: Die autoritäre russische Führung hat die Transformation zur Marktwirtschaft 1991ff. im Gegensatz zu vielen ehemaligen Sowjetrepubliken und Satellitenstaaten gewaltigstmöglich verkackt. Selbst einem gepflegten krummen Geschäft wenig abgeneigt, hat man sich von marktradikalen Ideologen belabern lassen und das reichste Land der Erde einer kleinen Clique mindestens halbkrimineller Oligarchen überlassen, denen es nie um etwas anderes ging als um das Füllen ihrer eigenen Geldspeicher. Derweil stürzten große Teile der russischen Bevölkerung ins Elend. Die Raffkes selbst leben selbstverständlich nicht in dem Land, das sie systematisch ausbluten lassen. Sie bevorzugen westliche Metropolen wie London oder die Côte d’Azur.

Klar, dass das die Bevölkerung irgendwann spitzkriegt und anfängt zu murren. Anstatt nun die Fehler, die gemacht wurden, selbstkritisch einzuräumen, öffentlich zu diskutieren und zu analysieren, hat Putin sich darauf  verlegt, einen immer repressiveren Kurs nach innen zu fahren und ansonsten Russland als Opfer des bösen, imperialistischen, dekadenten, wortbrüchigen Westens zu inszenieren. Mit gewissem Erfolg. Auch im Westen.

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