Blaue Kreide kratzt über das Pflaster und malt Buchstaben auf den Paradeplatz. Eine rosafarbene folgt ihr. Langsam formen sich ein h und ein t, rosa und blau auf dem grauen Asphalt. In leuchtenden Lettern prangt den Spazierengehenden ein kurzer Text entgegen: „Ich wurde am Abend von zwei Frauen beleidigt, beschimpft und körperlich angemacht.“ Die Catcalls of Ingolstadt sind unterwegs, sie kreiden an. Sonsoles legt die blaue Kreide weg, wischt sich die Hände ab und begutachtet ihr Werk. „Einen Kaligraphie-Kurs musst du jedenfalls nicht mehr machen“, meint Luis und setzt die rosafarbene Kreide wieder an.
„Die Aktion heißt ‚chalk back‘, weil mit Kreiden den Täter*innen geantwortet wird. Das hat in New York angefangen und heute gibt es ein weltweites Netzwerk“, erklärt Sonsoles. Das „Ankreiden“ ist die Hauptaktion der Gruppen. „Es geht immer darum, Sichtbarkeit zu schaffen für Straßenbelästigung, und die Opfer zu empowern, ihnen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind“, erklärt sie weiter und öffnet ihr Handy. Menschen, die verbale sexualisierte Gewalt auf der Straße, also „Catcalling“, erfahren haben, können ihre Geschichten an den Instagram-Account der Catcalls of Ingolstadtschicken. Die Aktivist*innen schreiben die sexistischen Sprüche dann auf die Straße – an genau den Ort, an dem sie gefallen sind.
So auch an diesem Ostersonntag. „Heute haben wir die Besonderheit gehabt, dass die Täterinnen Frauen sind. Damit wollen wir auch Sichtbarkeit dafür schaffen, dass Straßenbelästigung kein Geschlecht hat.“ Sonsoles hat die Gruppe in Ingolstadt im Oktober gegründet. Dann musste sie allerdings auf die Genehmigung der Stadt warten. Jetzt kann sie ankreiden, wann und wo sie will, erklärt sie, während die Polizeistreife vorbeifährt. Die Gruppe wird in der bürgerlichen Großstadt mitten in Bayern offensichtlich toleriert.
Sonsoles beobachtet Luis, wie er Schatten an die Buchstaben setzt. Eine Radfahrerin bleibt stehen, liest, nickt und fährt weiter. Sonsoles schaut ihr hinterher. Sie würden oft gefragt, was sie machten, die meisten würden sich solidarisieren, manche sogar selbst von ihren Erfahrungen erzählen. Auch sie hat schon viel erlebt. „Ich als Frau kenne diese Angst. Ich höre oft Musik auf der Straße, ich bekomme vieles nicht mit, aber es macht mir trotzdem Angst. Und wenn ich keine Musik höre, dann fühle ich mich auf einmal sehr unsicher. Ich bin schon belästigt worden, ich bin sogar am Po angefasst worden während des Joggens. Du fühlst dich so vulnerabel.“ Sie wirft ihre blaue Kreide in den Topf und nimmt sich eine rosafarbene. #stopptbelästigung und @catcallsofing schreibt sie unter den Text. Sie steht hier als Aktivistin und Betroffene zugleich.
Heute sei sein erstes Mal, erzählt Luis, während er das Werk fotografiert. Die Aktionen zielen auf zweierlei Publikum, offline auf der Straße und online auf Instagram. „Bei mir ist es eher der Gedanke, dass ich als Cis-Mann Verantwortung habe. Und wenn ich hier mithelfen kann, dann ist es für mich nur einmal in die Stadt fahren und ankreiden, aber vielleicht bedeutet es der Person, die das geschrieben hat, ja viel mehr.“ Er räumt die Kreiden zusammen. „Du bist ein guter Ally“, sagt Sonsoles, während sie ihr Rad aus dem Ständer nimmt, um alleine weiter zum nächsten Ort zu fahren.
Auf dem Bahnhofsvorplatz kreiden Sonsoles und Julia jetzt einen weiteren „Catcall“ an. Seit der Pandemie sind sie immer nur zu zweit unterwegs. Julia ist wie Luis erst seit Anfang des Jahres dabei. Auch sie kennt die Angst vor Straßenbelästigung. Und sie sieht, dass es kein Einzelfall ist. „Ich finde es erschreckend, wenn ich mich mit meinen Freundinnen unterhalte, und jede hat schon Straßenbelästigung erfahren. Ich habe auch lange einfach als normal hingenommen, dass mir hinterhergepfiffen wird, wenn ich im Sport-BH joggen gehe. Aber es ist nicht normal, und ich bin auch nicht bereit, das noch länger so anzusehen.“ Mit Vehemenz setzt sie ihre blaue Kreide wieder an, Sonsoles schattiert in Rosa. „Ein Mann hat mich von meiner Freundin weggezerrt und gefragt, wieviel ich koste“ steht direkt unter der Treppe zum Haupteingang.
Die Aktionsgruppe ist noch sehr jung, Corona hat ihren Aktionismus erschwert. Trotzdem wollen sie weiterkämpfen. „Ich hoffe, das funktioniert, ich hoffe, es gibt keine Straßenbelästigung mehr, ich hoffe, wir können uns auf der Straße sicher fühlen.“ Sonsoles zückt den Fotoapparat. „Wir werden so lange weitermachen, bis es nicht mehr gemacht werden muss.“
Dir gefällt, was Sarah Kohler schreibt?
Dann unterstütze Sarah Kohler jetzt direkt: