Laut linken Revolutionsromantikern, rechten Verschwörungstheoretikern und Öko-Dogmatikern leben wir Normalos im falschen Leben. Frei nach dem Motto: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Erst muss revoltiert werden, damit sich wieder ein gerechter Naturzustand entwickelt. Denn derzeit leben wir scheinbar falsch, fahren Autos, essen Fleisch, frönen der Bedürfnisindustrie, gönnen Flüchtlingen nicht Teilhabe an unserem reichen Land und fliegen im Flugzeug. Also alles auf Anfang? Wie funktioniert da noch politische Teilhabe, oder ist das pure Arroganz?
Wo kommen wir da hin, wenn man das private Leben politisieren möchte? Als freiheitlich, sozialdemokratisch oder konservativ eingestellter Mensch müsste das bedrohend klingen. Tut es aber immer seltener scheints. Heute gilt man als links wenn man das Arbeitsethos nur mehr vom Hörensagen kennt. Am besten wäre, man würde die Arbeit abschaffen, oder zumindest so reduzieren, dass die Freizeit dominiert, bei vollem Lohnausgleich natürlich. Die Freizeitgesellschaft soll dann von irgendwem, sagen wir dem Staat, zumindest für die aktuelle Generation, finanziert werden. Das geht, handelt es sich doch nur um ein paar Zahlen im Computer – von Bargeld reden wir schon lange nicht mehr, sonst würden ja auf einen Schlag auch um die Hälfte weniger Autos herum fahren, wenn die tatsächlich gekauft worden wären und nicht auf Leasing/Kredit laufen würden. Detto die Flugzeuge. Dafür würde das wahrscheinlich der Umwelt etwas bringen, oder sollte man nicht besser von Mitwelt sprechen? Da sich aber alles um uns Menschen dreht, auch wenn wir uns in der Öffentlichkeit so gern selbstlos geben (solange wir keine persönlichen Einbußen in Kauf nehmen müssen), bleiben wir bei Umwelt. Schließlich sind wir seit ein paar hundert Jahren der Homo Sapiens und eben nicht die Natur. Wir sind weise genug, dass wir wissen, dass wir Kriege gegen ein Virus führen müssen – blöd nur, dass während dem Lockdown keiner zum Krieg gehen kann, weil alle zu Hause sein müssen. Und mit Medikamenten oder Impfungen verschwindet dieses Virus dann ganz einfach und alles wird wieder so wie es sein soll: Nämlich zufrieden und glücklich. Nur, dass das nicht der Realität entspricht. Zufrieden und glücklich scheinen die wenigsten zu sein. Der Job ist oftmals fad, die Kollegen naja, der eigene Körper könnte mehr Sport vertragen, die Zeit vergeht im Nu und ehe man es sich versieht ist wieder ein Jahr vergangen und aus den Träumen und Visionen wurde wieder nix. Psychopharmaka und Alkoholika schaffen aber Abhilfe vom tristen Alltag.
Wichtig, um immer der Getriebene des normativen Seins zu bleiben, ist auch das ständige Schuldbewusstsein. Nur wer brav sagt, man lebt das falsche Leben, ist richtig. Nur leider hat man halt grad keine Zeit es zu ändern. Man müsste zwar dies und das machen, aber halt derzeit nicht. Die „Generation Man müsste mal“, zu der wir wahrscheinlich fast alle gehören, der eine mehr, der andere weniger, aber alle doch irgendwie, lebt ein bisschen dem Utopischen modischer Glaubenssätze an. Die Nation ist verwerflich, der Kapitalismus böse, der Westen arrogant und die Natur schön. So die theoretische Vorstellung vom moralischen Leiden einer unvollkommenen Welt. Verbinden tut uns alle oftmals nur mehr die Angst um Verlust des eigenen Machterhalts, insbesondere wenn der Mittelstand bröckelt, Arbeitsplätze unsicher werden und die Kreditrate, die man im Normalfall aus freien Stücken einging, unaufhörlich weiter rennt.
Vor allem die Meinungsmacht bedeutet Positionsmacht. Wer die Meinungsmacht hat, kann sich rühmen. Und heute bedeutet das, man muss die Klaviatur der Emotionalität beherrschen. Es gibt nur für oder gegen, kein dazwischen. Bei der Migration gibt es linke Gutmenschen und rechte Bösmenschen. Bei Covid „kennt bald jeder jemanden der an Covid gestorben ist“ versus „es gibt dieses Virus nicht“. SUV fahren ist eine klimapolitische Schande versus „mei Auto is net deppat“.
Dadurch, dass schon Peter Scholl-Latour das 21. Jahrhundert als das Jahrhundert des Abstiegs des weissen Mannes gesehen hat, während andere Mächte aus dem Osten (wieder) aufsteigen, will sich die Jungakademiker Kaste von heute nicht vom Weg abbringen. Der weisse heterosexuelle Mann scheint aber auch das neue Feindbild zu sein. Auch Greta Thunberg gibt der greisen Generation gerne Nachhilfeunterricht im „richtigen“ leben. Sogar Staatsmänner und -frauen lassen sich medial von dem Teenager die Welt erklären, mit dem erhobenen Zeigefinger. Es geht schließlich um die gute Sache, um Gerechtigkeit. Ganz generell scheint immer öfter zu gelten, erlaubt ist, was uns, die Meinungsführer, nicht stört. Insbesondere das Gerechtigkeitsdenken ist da weit ausgeprägt. Schon Vera Birkenbihl hat es oftmals gepredigt, dass Gerechtigkeit in der Natur nicht existiert. Es ist ein Meme, ein Programm, das im jeweiligen Kopf umherschwirrt. Aber für die heutige Zeit scheint sie existentiell wichtig wenn es um die Meinungsführerschaft geht. Legitimität hat nur, wer über den Opferstatus verfügt. Um recht zu haben muss man nach der verrückten Logik aus der Erfahrung der Diskriminierung sprechen. Denn wer diskriminiert ist, spricht im Namen einer höheren Wahrheit. Doch ohne Meinungsfreiheit ist Freiheit nichts. Sollte man aber jenen, die abseits des Mainstreams sprechen, die Freiheit absprechen sich zu Wort zu melden zu dürfen, dann werden diese in den Abgrund gedrängt und nur mehr Stichprobenhaft an die Öffentlichkeit drängen. Bei Wahlen oder spontanen Demos zum Beispiel.
Doch Verantwortung tragen wir alle, jeder nach seiner Fasson. Dazu gehört auch, dass man sich frei äußern kann und auf andere Sichtweisen eingehen, oder sie zumindest akzeptiert. In den seltensten Fällen handelt es sich nämlich um bösartige strafrechtlich relevante Aussagen, sondern einfach nur um Meinungen, die der eigenen zuwiderläuft. Es sind meistens einfach nur andere Meinungen, die halt zum Nachdenken anregen könnten. Aber sicher nicht verantwortlich sind wir für die Merkmale, mit denen wir geboren wurden, für die Augenfarbe oder das Geschlecht. Jedoch für unsere Handlungen und für das, was wir dulden. Nur darauf soll sich politische Teilhabe stützen, und weniger auf ein emotionalisiertes Mischprodukt aus Special Effects. Bei der Klimadebatte zeigen Jugendliche gerne auf, bei Covid wird auf sie gezeigt, bei Kritik an Covid-Massnahmen sofort die moralische Extremistenkeule geschwungen und bei Flüchtlingskinder reicht die Emotionalisierung durch ein paar Bilder die grad geografisch aktuell sind. Bloß nicht zu sehr in die Tiefe gehen. Trump ist bös und Biden ist gut – völlig wurscht ob man weiß was der eine oder der andere macht. Die Meinungsführerschaft sagt mir auf welcher Seite ich stehen muss. Das reicht um „richtig“ zu sein.
Wolfgang Glass ist Politologe in Wien, arbeitete jahrelang in diversen EU-geförderten Projekten als Projektmanager, als Personalberater & Arbeitsbegleiter im sozialökonomischen Kontext und als Redakteur bei einer Tageszeitung.